"Aglaja,
lass dich umarmen. Du sollst wissen, dass ich nach Bukarest reisen werde, um
die Aufführung noch einmal zu erleben". Mit diesen rührenden Worten endete
mein Aufenthalt beim 9-tägigen Internationalen Festival für Neues Theater in
Arad, der am weitesten westlich gelegenen Stadt des Landes. Der junge Mann,
der eine Zugfahrt von mehr als zehn Stunden in die rumänische Hauptstadt auf
sich nehmen will, ist erst dreiundzwanzig. Nur drei Jahre älter ist Alina
Petrică, die Darstellerin der Aglaja. Das Stück mit demselben Titel basiert
auf zwei Romanen
der Schweizer Schriftstellerin rumänischer Herkunft Aglaja Veteranyi
("Warum das Kind in der Polenta kocht" und "Das Regal der letzten Atemzüge")
und zeigt das Schicksal einer Familie von Zirkuskünstlern.
In dieser gefühlvollen Begegnung zwischen einem Studenten
und einer Schauspielabsolventin in den Kulissen des Klassischen Theaters
Ioan Slavici Arad spiegelt sich der "TeenAGER"-Fokus der diesjährigen
vierten Auflage des Festivals, das vom 7. bis zum 15. Mai stattfand, am
besten wider. "Es war eine angenehme Überraschung zu entdecken, dass das
rumänische Theater in letzter Zeit eine Wiedergeburt erlebt, was Shows für
Jugendliche betrifft. Immer mehr Produktionen sprechen diese zu lang
ignorierte Publikumskategorie in neuer Frische an, in ihrer eigenen Sprache
und ohne belehrende Absicht", sagt Claudiu Groza, Programmmacher der
Festspiele.
Jugendliche im Mittelpunkt
Columbinus,
eine Inszenierung nach dem gleichnamigen Stück des amerikanischen
Dramatiker-Duos Stephen Karam und PJ Paparelli, ist eines der besten
Beispiele dafür. Auf anschauliche Weise schildern die beiden den Amoklauf
von 1999 an der Columbine High School in Littleton, Colorado, in einem Text,
der Auszüge aus Interviews mit Eltern und Überlebenden sowie aus Tagebüchern
und Home-Video-Clips enthält. Dass Regisseur Horia Suru sich genau diesem
Stück, das sich mit Fragen der Entfremdung, Feindseligkeit und sozialem
Druck in Gymnasien befasst, gewidmet hat, ist nicht verwunderlich. Seit mehr
als zwölf Jahren ist der 1984 geborene Künstler bei landesweit
stattfindenden Workshops als Trainer für Gymnasiasten aktiv. Das
Außergewöhnliche an der Produktion des Gemeindetheaters in Baia Mare ist
jedoch, dass vier der acht Darsteller Debütanten sind. Und einer davon
schlüpft in eine der Hauptrollen. Die Inszenierung besticht durch
hervorragende Gruppenarbeit und ein zwingendes Ineinandergreifen aller
Theaterebenen. Realität und Fiktion vermischen sich auf beeindruckende
Weise. Der Regisseur findet mit seinem Team (unter anderem der Choreografin
Sophie Duncan) Bilder für ein sinnliches Erleben des kollektiven
Bewusstseins der Menschheit, der Archetypen von Tätern und Opfern. Für die
noch sehr jungen Schauspieler eine einmalige Erfahrung.
Über Verbrechen einer anderen Art spricht die Produktion
Auto-psy (de petits crimes innocents). "Man nehme zwei entzückende
kleine Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, man entferne ein oder zwei
ihrer Grundwerte, man lasse sie ein paar Jahre in Einsamkeit aufwachsen und
man wird sie so in die unschuldigsten Serienmörder der Verbrechergeschichte
verwandeln", sagt Gérald Gruhn, der zusammen mit Vasile Deac als Autor des
Textes firmiert. Unter der aufmerksamen Leitung des Regisseurs Florin
Didilescu zeigen zehn Mitglieder der 1990 in Arad gegründeten
Jugendtheatergruppe des Vereins AMIFRAN (Association roumaine pour la
défense et l´illustration de la langue française) das typische Verhalten von
Pubertierenden. Eine gut durchdachte Inszenierung, getragen von engagierten
Schülern, die der theatralischen Herausforderung gewachsen sind.
Frischer Wind in der
rumänischen Theaterszene
Besonderer
Höhepunkt der Festspiele war am letzten Abend die Darbietung der drei aus
Bukarest angereisten Gruppen. Eine gemeinschaftlich entstandene Performance
(ein sogenanntes
écriture-de-plateau-Werk, an dem sich alle Akteure beteiligten), ein
Dokumentartheater über das Wendejahr 1989 und die Adaptierung von Aglaja
Veteranyis Romanen wurden zu einem sechsstündigen Theatermarathon
zusammengefügt.
Der Placebo-(D)ef(f)ekt, die neueste Produktion des
den jungen Künstlern gewidmeten Zentrums für Kreation und Forschung des
Nationaltheaters Bukarest, verwebt drei Geschichten von offensichtlich
normalen Menschen in einer abnormalen, zunehmend künstlich wirkenden
Gesellschaft. Regisseur
Ștefan Lupu (Jahrgang 1985) schafft mit fünf jungen
Schauspielern und Schauspielerinnen eine unterhaltsame Show. In einem
beachtenswerten Mix aus Gesang, Tanz- und Sprechtheater werden tiefgründige
Themen wie Einsamkeit und Kommunikationsmangel unserer technologisierten
Gesellschaft humorvoll und kritisch zugleich beleuchtet. Das gelungene
Gesamtkonzept löste durch seine Frische große Begeisterung beim Publikum
aus.
Das
bisher mutigste Projekt der neuen Künstlergeneration bleibt jedoch Aglaja,
eine Produktion des UNESCO
Kulturzentrums "Nicolae Bălcescu" in Bukarest. Derselbe Regisseur zeichnet
zugleich für das Konzept und die Choreografie verantwortlich.
Ștefan Lupu kombiniert erneut auf originelle Weise Elemente aus
Sprechtheater, Tanz, Livemusik, Pantomime, Gags und Schattenspielen.
Kreative Videoprojektionen spiegeln Aglajas seelische Zustände und
Gedankengänge spektakulär wider. Eine moderne, leidenschaftliche
Inszenierung, die von den sechs Schauspielern virtuos auf die Bühne gebracht
wird. Vor allem Alina Petrică, die 26-jährige Hauptdarstellerin, sticht
durch ihre bühnenbeherrschenden Auftritte als großes Nachwuchstalent hervor.
Mit fünfzehn hatte sie schon Aglaja Veteranyis Romane gelesen und sich die
Protagonistenrolle gewünscht. Ein Traum, der nun in Erfüllung gegangen ist.
"Diese Produktion ist mein Künstlerpass, mit dem ich mir erhoffe, die große
Theaterwelt zu bereisen", sagt die Schauspielerin, die Aglajas Figur mit
viel Natürlichkeit und einer besonderen Sensibilität auf der Bühne zum Leben
erweckt. Ein ungewöhnliches Projekt, das auf vielversprechende Neuerungen
und evolutionäre Veränderungen in der rumänischen Theaterbewegung hinweist.