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Probierfeld für Jungtalente

Mit dreißig Veranstaltungen an verschiedenen Spielorten – dem klassischen
Theatersaal, einem Klubraum und einem auf dem Theaterplatz aufgestellten Zelt –,
darunter einer Uraufführung, Gastspielen aus Ungarn und Italien, zwei Konzerten,
Tanz- und Dokumentartheater in französischer, ungarischer und deutscher
Sprache, setzte das Festival für Neues Theater in Arad ein kräftiges
Lebenszeichen der jungen rumänischen Künstlergeneration.

Von Irina Wolf
(20. 06. 2016)

...



Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.



 


(c) Mihaela Petre

"Aglaja"
(Regie:
Ștefan Lupu).

 

 


(c) Adelina Laura

"Columbinus"
(Regie: Horia Suru).

 

 


(c) tnb.ro

"Der Placebo-(D)ef(f)ekt"
(Regie:
Ștefan Lupu).

 

 


(c) Amifran

"Auto-psy"
(Regie: Florin Didilescu).

 

 


 


Linktipp

http://teatrulclasic.ro

   "Aglaja, lass dich umarmen. Du sollst wissen, dass ich nach Bukarest reisen werde, um die Aufführung noch einmal zu erleben". Mit diesen rührenden Worten endete mein Aufenthalt beim 9-tägigen Internationalen Festival für Neues Theater in Arad, der am weitesten westlich gelegenen Stadt des Landes. Der junge Mann, der eine Zugfahrt von mehr als zehn Stunden in die rumänische Hauptstadt auf sich nehmen will, ist erst dreiundzwanzig. Nur drei Jahre älter ist Alina Petrică, die Darstellerin der Aglaja. Das Stück mit demselben Titel basiert auf zwei Romanen der Schweizer Schriftstellerin rumänischer Herkunft Aglaja Veteranyi ("Warum das Kind in der Polenta kocht" und "Das Regal der letzten Atemzüge") und zeigt das Schicksal einer Familie von Zirkuskünstlern.

In dieser gefühlvollen Begegnung zwischen einem Studenten und einer Schauspielabsolventin in den Kulissen des Klassischen Theaters Ioan Slavici Arad spiegelt sich der "TeenAGER"-Fokus der diesjährigen vierten Auflage des Festivals, das vom 7. bis zum 15. Mai stattfand, am besten wider. "Es war eine angenehme Überraschung zu entdecken, dass das rumänische Theater in letzter Zeit eine Wiedergeburt erlebt, was Shows für Jugendliche betrifft. Immer mehr Produktionen sprechen diese zu lang ignorierte Publikumskategorie in neuer Frische an, in ihrer eigenen Sprache und ohne belehrende Absicht", sagt Claudiu Groza, Programmmacher der Festspiele.

Jugendliche im Mittelpunkt

   Columbinus, eine Inszenierung nach dem gleichnamigen Stück des amerikanischen Dramatiker-Duos Stephen Karam und PJ Paparelli, ist eines der besten Beispiele dafür. Auf anschauliche Weise schildern die beiden den Amoklauf von 1999 an der Columbine High School in Littleton, Colorado, in einem Text, der Auszüge aus Interviews mit Eltern und Überlebenden sowie aus Tagebüchern und Home-Video-Clips enthält. Dass Regisseur Horia Suru sich genau diesem Stück, das sich mit Fragen der Entfremdung, Feindseligkeit und sozialem Druck in Gymnasien befasst, gewidmet hat, ist nicht verwunderlich. Seit mehr als zwölf Jahren ist der 1984 geborene Künstler bei landesweit stattfindenden Workshops als Trainer für Gymnasiasten aktiv. Das Außergewöhnliche an der Produktion des Gemeindetheaters in Baia Mare ist jedoch, dass vier der acht Darsteller Debütanten sind. Und einer davon schlüpft in eine der Hauptrollen. Die Inszenierung besticht durch hervorragende Gruppenarbeit und ein zwingendes Ineinandergreifen aller Theaterebenen. Realität und Fiktion vermischen sich auf beeindruckende Weise. Der Regisseur findet mit seinem Team (unter anderem der Choreografin Sophie Duncan) Bilder für ein sinnliches Erleben des kollektiven Bewusstseins der Menschheit, der Archetypen von Tätern und Opfern. Für die noch sehr jungen Schauspieler eine einmalige Erfahrung.

Über Verbrechen einer anderen Art spricht die Produktion Auto-psy (de petits crimes innocents). "Man nehme zwei entzückende kleine Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, man entferne ein oder zwei ihrer Grundwerte, man lasse sie ein paar Jahre in Einsamkeit aufwachsen und man wird sie so in die unschuldigsten Serienmörder der Verbrechergeschichte verwandeln", sagt Gérald Gruhn, der zusammen mit Vasile Deac als Autor des Textes firmiert. Unter der aufmerksamen Leitung des Regisseurs Florin Didilescu zeigen zehn Mitglieder der 1990 in Arad gegründeten Jugendtheatergruppe des Vereins AMIFRAN (Association roumaine pour la défense et l´illustration de la langue française) das typische Verhalten von Pubertierenden. Eine gut durchdachte Inszenierung, getragen von engagierten Schülern, die der theatralischen Herausforderung gewachsen sind.

Frischer Wind in der rumänischen Theaterszene

   Besonderer Höhepunkt der Festspiele war am letzten Abend die Darbietung der drei aus Bukarest angereisten Gruppen. Eine gemeinschaftlich entstandene Performance (ein sogenanntes écriture-de-plateau-Werk, an dem sich alle Akteure beteiligten), ein Dokumentartheater über das Wendejahr 1989 und die Adaptierung von Aglaja Veteranyis Romanen wurden zu einem sechsstündigen Theatermarathon zusammengefügt.

Der Placebo-(D)ef(f)ekt, die neueste Produktion des den jungen Künstlern gewidmeten Zentrums für Kreation und Forschung des Nationaltheaters Bukarest, verwebt drei Geschichten von offensichtlich normalen Menschen in einer abnormalen, zunehmend künstlich wirkenden Gesellschaft. Regisseur Ștefan Lupu (Jahrgang 1985) schafft mit fünf jungen Schauspielern und Schauspielerinnen eine unterhaltsame Show. In einem beachtenswerten Mix aus Gesang, Tanz- und Sprechtheater werden tiefgründige Themen wie Einsamkeit und Kommunikationsmangel unserer technologisierten Gesellschaft humorvoll und kritisch zugleich beleuchtet. Das gelungene Gesamtkonzept löste durch seine Frische große Begeisterung beim Publikum aus.

   Das bisher mutigste Projekt der neuen Künstlergeneration bleibt jedoch Aglaja, eine Produktion des UNESCO Kulturzentrums "Nicolae Bălcescu" in Bukarest. Derselbe Regisseur zeichnet zugleich für das Konzept und die Choreografie verantwortlich. Ștefan Lupu kombiniert erneut auf originelle Weise Elemente aus Sprechtheater, Tanz, Livemusik, Pantomime, Gags und Schattenspielen. Kreative Videoprojektionen spiegeln Aglajas seelische Zustände und Gedankengänge spektakulär wider. Eine moderne, leidenschaftliche Inszenierung, die von den sechs Schauspielern virtuos auf die Bühne gebracht wird. Vor allem Alina Petrică, die 26-jährige Hauptdarstellerin, sticht durch ihre bühnenbeherrschenden Auftritte als großes Nachwuchstalent hervor. Mit fünfzehn hatte sie schon Aglaja Veteranyis Romane gelesen und sich die Protagonistenrolle gewünscht. Ein Traum, der nun in Erfüllung gegangen ist. "Diese Produktion ist mein Künstlerpass, mit dem ich mir erhoffe, die große Theaterwelt zu bereisen", sagt die Schauspielerin, die Aglajas Figur mit viel Natürlichkeit und einer besonderen Sensibilität auf der Bühne zum Leben erweckt. Ein ungewöhnliches Projekt, das auf vielversprechende Neuerungen und evolutionäre Veränderungen in der rumänischen Theaterbewegung hinweist.

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