...... Auf Wahrheits- und Identitätssuche im postkommunistischen traumatisierten Rumänien.
Von
Irina Wolf |
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Als eine Unbekannte sie aus dem Internat abholt, erfährt Emma zum ersten Mal, dass sie eine Großmutter hat. Die Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Zumindest wird das erzählt. Ob es der Wahrheit entspricht, weiß man nicht so genau. Denn nach der blutigen Wende 1989 in Rumänien sind viele Fragen offengeblieben. Wohin sind die Körper der Toten der Revolution und die Akten des berüchtigten Geheimdienstes verschwunden? Und welche Securitate-Spitzel befinden sich noch unentlarvt unter den Lebenden? Von diesen Ungewissheiten sind die Figuren des neuen Romans von György Dragomán Der Scheiterhaufen geplagt. Weltweit bekannt wurde der 1973 in Siebenbürgen geborene ungarische Schriftsteller durch Der weiße König, ein Buch, das in über dreißig Ländern erschienen ist (2005; dt. 2008). Auch darin widmete sich der Erfolgsautor, der 1988 mit seiner Familie nach Ungarn übersiedelte, seinem Geburtsland. Die beiden Romane weisen mehrere Ähnlichkeiten auf. So ist zum Beispiel die Hauptperson des jeweiligen Bandes ein Kind. Im neuesten Werk führt die Ich-Erzählerin Emma den Leser durch das Rumänien unmittelbar nach der Wende. In zweiundvierzig Kapiteln wird die von Unsicherheit geprägte Atmosphäre aus der Perspektive der dreizehnjährigen Waise geschildert. In einer kleinen namenlosen Provinzstadt ist die vom Kommunismus hinterlassene Armut noch stark spürbar. Dort entsteht der erste Supermarkt. Das reichhaltige Warenangebot sorgt bei den Kindern für Staunen. Modejournale sind an geheimen Orten in der Schulbibliothek versteckt. Zugang zu ihnen haben nur die Schüler, die sich gut mit der Bibliothekarin vertragen. Dragománs sorgfältig ausgewählte, gefühlvolle Beispiele geben ein wahrheitsgetreues Bild Rumäniens Anfang der Neunzigerjahre wieder. Langsam ändert sich die Mentalität der Menschen. Obgleich nach dem politischen Sturz des "Genossen General" (Ceauşescu wird nie beim Namen genannt) drei rechteckige leere Flecken an der Wand über der Tafel im Klassenzimmer zu sehen sind, erkennt der Geschichtslehrer, der wegen seiner ins Gesicht hängenden Haare den Spitznamen "Onkel Vorhang" trägt, noch immer nur die "Richtigkeit" der alten Schulbücher an. Für außertourliche Informationen setzt es harte Strafen: Einem uneinsichtigen Jungen wird die Nase blutig geschlagen. Auch die Turnlehrerin wendet in den Sportstunden noch sadistische Methoden an. Darüber hinaus muss Emma die Schikanen und das Misstrauen der Kinder verkraften. Immer wieder tauchen Erinnerungen an die blutigen Auseinandersetzungen und vermisste Opfer auf. Des Weiteren ist die Dreizehnjährige von einer anderen Ungewissheit geplagt: War ihre Großmutter ein Spitzel oder nicht? Geschickt setzt Dragomán mehrfach Rückblenden ein, sodass Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen. Das Spiel der albtraumhaften Erinnerungen vermittelt ein düsteres Bild der Großmutter, die ihre beste Freundin den Nazis ausgeliefert hat, gleichzeitig jedoch mit ansehen musste, wie ihre eigenen Eltern von denselben vor ihren Augen erschossen wurden. Der Schmerz, sagt die Großmutter und versucht damit ihrer Enkelin das Vergessen beizubringen, helfe, sich zu erinnern, doch so, dass wir uns nicht nur des Schmerzes entsinnen, sondern aller Dinge, an alles müsse man sich erinnern, denn es gebe nur das, woran wir uns erinnern, doch was wir vergessen, gebe es nicht mehr, es verschwinde aus der Vergangenheit, es verschwinde aus der Welt. Magische Figuren, "gezeichnet" in dem auf dem Backbrett ausgestreuten Mehl, werden dafür zu Hilfe geholt. Denn die mit zauberischen Fähigkeiten ausgestattete Großmutter hat sich eine Parallelwelt voller Mysterien geschaffen. Dragomán löst beim Leser ein surreales Gefühl aus. Geheimnisvolle Besucher aus der Vergangenheit, unter anderem das Gespenst des Großvaters, tauchen immer wieder auf. Als Spitzel verdächtigt, soll er sich durch Erhängen das Leben genommen haben. Oder wurde er doch vom Geheimdienst ermordet? Es wird an jedem Einzelnen gezweifelt. Indessen erlebt Emma altersbedingte biologische Veränderungen, verlässt das Kindesalter und reift zur jungen Frau. Um den zwei Welten, zwischen denen sie sich andauernd bewegt, zu entkommen, flüchtet sie sich in die Malerei. Diese Begabung ist von ihrem Vater geerbt, einem Maler, der durch sein aufrührendes Verhalten ausgegrenzt wurde. Wie in einem Mosaik puzzelt Dragomán viele kleine, ohne in sichtbarem Zusammenhang stehende Kurzgeschichten zu einem Gesamtbild zusammen: ein Erlebnis mit einem Fotografen, scharfe Landschaftsbeobachtungen während des Geländelaufs, ein Hundebiss, die erste Liebe mit Péter – nur um einige davon zu nennen. Irgendwann stellt sich die Frage, wie der Autor auf einen solchen Buchtitel kommt. Erst im zweiten Drittel des Romans wird ein echter Scheiterhaufen im häuslichen Garten errichtet. Auf großen Nussbaumzweigen schreiben Emma und ihre Großmutter mit Kreide alles, wovon sie sich befreien wollen: KUMMER, KOPFWEH. Aber auch rückwärts das, was sie bekommen möchten: DLEG, ZLEPSHCUF. Benzin wird auf die Zweige geschüttet und alles zu Asche verbrannt. Spannend bis zum Schluss bleibt, ob Emma ihre Großmutter verlassen wird oder nicht. Denn die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein. Spätestens durch die Geschichte über die Ameisen wird dies eindeutig. Umsonst bringt Emma ihr Leben in Gefahr, als sie während eines starken Sturms versucht, die Ameisen zu retten. Denn bald gießt die Großmutter heißes Wasser in ihre Tunnel und bringt fast alle um. Mit der Zeit entsteht trotzdem eine starke Bindung zwischen den beiden, sodass Emma am Ende ihre Großmutter aus den Händen der racheübenden Menschenmasse rettet. Ein rührendes Finale. Und die Hoffnung, dass Liebe, Vertrauen und Vergeben den Hass überwinden werden. Fazit:
György Dragomán weiß die Geschichte anschaulich und stimmungsvoll zu
verpacken. Durch seine atemberaubende Art und Weise, die Handlung zu
erzählen, kann sich der Leser bildlich in das Geschehen hineinversetzen und
sich von Anfang an mit der Hauptfigur identifizieren, wozu nicht zuletzt
auch die qualitativ hochwertige Übersetzung beiträgt. Insgesamt erweist sich
Der Scheiterhaufen als eine beeindruckende, poetische Prosa. Eine
attraktive, fesselnde Lektüre. |