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Rumänische Geschichte im Kleinformat

Ein Land, vorgestellt als die Summe seiner Menschen: Unter dem Motto "Geschichte in
Kleinschreibung" gestaltete Cristina Modreanu die Landkarte Rumäniens neu. Das von ihr
kuratierte Festival "Oh Europa" präsentierte anlässlich des hundertsten Jubiläums des
modernen rumänischen Staates Geschichten einfacher Bürger, die auf wahren
Schicksalen verschiedener Minderheiten oder Ethnien basieren.

Von Irina Wolf
(12. 01. 2019)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.



(c) Lavinia Cioaca

Gemma Paintin und
James Stenhouse vor
ihrem Wohnmobil
.



(c) Teatrul Mic

"Die Trilogie der ver-
schwundenen Jahre
"
(Regie:
Peca Ştefan /
Ana Mărgineanu)



(c) Levente Vargyasi

"Tagebuch zu Rumänien.
Sankt Georgen
"
(Regie: Lidia Vidu
)



(c) PITB

"
Bucureşti. Instalaţieumană"
(Regie: Radu Nica
)

   Das hellblaue Wohnmobil, geparkt im Lipscani-Viertel mitten im historischen Bukarester Stadtkern, sorgt für Aufsehen. Auch im Inneren erwartet die Besucher ein ungewöhnliches Ambiente. Während Lieder von einem kleinen Aufnahmegerät ausgestrahlt werden, kochen die Gastgeber Gemma Paintin und James Stenhouse Kaffee und erzählen über ihr Projekt Oh Europa. Über 30.000 Kilometer sind die beiden Briten acht Monate lang unter dem Namen "Action Hero" kreuz und quer durch Europa gereist. Dabei haben sie auf ihren Tonbändern mehr als 700 Lieder von den unterwegs getroffenen Menschen aufgenommen. Ob modern oder traditionell, es sind Melodien über das Verlieben, über Trennungen und Versöhnungen, oder schlechthin über die Liebe zur Natur. Dieses Songarchiv, erschaffen mit Hilfe von Kindern und Jugendlichen (einmal sogar mit einer neunhundert Personen umfassenden Festival-Teilnehmergruppe!), wird rund um die Uhr von bestimmten Orten auf dem Kontinent ausgestrahlt. Mit seinem Projekt verleiht das Duo der Hoffnung Ausdruck, dass Europa sich neu erfinden kann.

Veranstaltet wurde Oh Europa in der rumänischen Hauptstadt von der Bukarester Internationalen Theaterplattform. An vier Tagen waren Mitte Oktober über zehn Aufführungen an drei Spielstätten zu erleben. Beteiligt waren etablierte Theaterhäuser wie das Kleine Theater Bukarest, das Jugendtheater Piatra Neamţ, das "Andrei Mureşanu" Theater Sankt Georgen oder das Staatstheater Constanţa. Das Ziel: Geschichten einfacher Bürger zum hundertsten Jubiläum des modernen rumänischen Staates zu präsentieren. Unter dem Motto "Geschichte in Kleinschreibung" beabsichtigte Cristina Modreanu, die Kuratorin der fünften Auflage des Festivals, die Landkarte Rumäniens durch Theateraufführungen neu zu gestalten. Gezeigt wurden Inszenierungen, die auf wahren Geschichten verschiedener Minderheiten oder Ethnien basieren.

   Das vom Dramatiker Peca Ştefan und der Regisseurin Ana Mărgineanu erschaffene Projekt Die Trilogie der verschwundenen Jahre konzentriert sich auf drei Wendepunkte der jüngsten Geschichte Rumäniens: 1989 − das Jahr des Falls der Berliner Mauer und der rumänischen Revolution, 1996 − das Jahr der Hoffnung, als die Wahlen zum ersten Mal eine nichtkommunistische Regierung an die Macht brachten, und 2007 − das Jahr des Beitritts Rumäniens zur Europäischen Union. Jeder Teil der Trilogie beruht auf Erzählungen der Schauspieler und Schauspielerinnen der jeweiligen Theatergruppe. Dabei werden diese mit den wichtigsten politischen und kulturellen Ereignissen des Jahres 1989, in der die Erschießung des Ceauşescu-Paares geschah, oder den Erlebnissen aus Hermannstadt − Europäische Kulturhauptstadt 2007 − zusammengefügt. Alle drei Produktionen weisen eine ähnliche Struktur auf: Sie beginnen mit einer Szene aus dem Theaterbereich und enden mit einer aus dem Familienleben. Für eine gewisse Dynamik sorgt die von der Regisseurin eingesetzte Interaktivität mit dem Publikum. Denn bestimmte Szenen finden nur für einige durch Verlosung ausgewählte Zuschauer zeitgleich in den Kulissen oder in den Kabinen der Schauspieler statt.

In ähnlicher Weise gewähren zwei Multimedia-Performances der Regisseurin Carmen Lidia Vidu − Tagebuch zu Rumänien. Sankt Georgen und Tagebuch zu Rumänien. Constanţa − einen tiefen Einblick in das heutige, von zahlreichen Spannungen und Machtkämpfen getrübte Rumänien. Momentaufnahmen aus dem Leben der Schauspieler zeugen von Leidenschaften, Erwartungen, Rebellionen und Enttäuschungen, aber auch von Ansichten über die rumänische Sprache, die Konflikte mit der ungarischen Szekler-Minderheit in Sankt Georgen und die Bräuche der Tatarenminderheit in der Constanţa-Gegend. Mit suggestiver Bildgewalt verschneidet die Regisseurin den Lebensgang von jeweils sechs Schauspielern und ihre Beziehung zu Stadt und Gemeinschaft mit Sport- und Tanzszenen zu einem atemberaubenden Multimedia-Theatererlebnis.

   In der Regie von Radu Nica entfaltete sich die Hauptstadt als "Menschen-Installation". Bucureşti. Instalaţieumană hieß die kollektive Theaterkreation, an der sich das gesamte Team von Schauspielern, Bühnenbildner, Choreograf und Regisseur beteiligten. Ergänzt wurde das Festivalprogramm von einem Workshop für aktive Kunst, einer Filmprojektion und einer Feier, die dem zehnjährigen Bestehen der Zeitschrift für darstellende Kunst "Scena.ro" gewidmet war. Vor allem aber lag der Schwerpunkt auf Publikumsgesprächen nach den Vorstellungen mit Regisseur und Mitgliedern des Ensembles. Zumal sich das Festival als Kommunikationsmittel versteht. Es soll ein Raum des Dialogs sein − des Dialogs mit den Zuschauern, mit der heutigen Generation und mit sich selbst. Und das ist es auch!

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