
Irina Wolf
irinawolf10 [at]
gmail.com
Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und
Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

(c) Lavinia Cioaca
Gemma Paintin und
James Stenhouse vor
ihrem Wohnmobil.

(c) Teatrul Mic
"Die Trilogie der ver-
schwundenen Jahre"
(Regie:
Peca Ştefan /
Ana Mărgineanu)

(c) Levente Vargyasi
"Tagebuch zu Rumänien.
Sankt Georgen"
(Regie: Lidia Vidu)

(c) PITB
"Bucureşti. Instalaţieumană"
(Regie: Radu Nica) |
Das
hellblaue Wohnmobil, geparkt im Lipscani-Viertel mitten im historischen
Bukarester Stadtkern, sorgt für Aufsehen. Auch im Inneren erwartet die
Besucher ein ungewöhnliches Ambiente. Während Lieder von einem kleinen
Aufnahmegerät ausgestrahlt werden, kochen die Gastgeber Gemma Paintin und
James Stenhouse Kaffee und erzählen über ihr Projekt Oh Europa. Über
30.000 Kilometer sind die beiden Briten acht Monate lang unter dem Namen
"Action Hero" kreuz und quer durch Europa gereist. Dabei haben sie
auf ihren Tonbändern mehr als 700
Lieder von den unterwegs getroffenen Menschen aufgenommen. Ob
modern oder traditionell, es sind Melodien über das Verlieben, über
Trennungen und Versöhnungen, oder schlechthin über die Liebe zur Natur.
Dieses Songarchiv, erschaffen mit Hilfe von Kindern und Jugendlichen (einmal
sogar mit einer neunhundert Personen umfassenden Festival-Teilnehmergruppe!),
wird rund um die Uhr von bestimmten Orten auf dem Kontinent ausgestrahlt.
Mit seinem Projekt verleiht das Duo der Hoffnung Ausdruck, dass Europa sich
neu erfinden kann.
Veranstaltet wurde Oh Europa in der rumänischen
Hauptstadt von der Bukarester Internationalen Theaterplattform. An vier
Tagen waren Mitte Oktober über zehn Aufführungen an drei Spielstätten zu
erleben. Beteiligt waren etablierte Theaterhäuser wie das Kleine Theater
Bukarest, das Jugendtheater Piatra Neamţ, das "Andrei Mureşanu" Theater
Sankt Georgen oder das Staatstheater Constanţa. Das Ziel: Geschichten
einfacher Bürger zum hundertsten Jubiläum des modernen rumänischen Staates
zu präsentieren. Unter dem Motto "Geschichte in Kleinschreibung"
beabsichtigte Cristina Modreanu, die Kuratorin der fünften Auflage des
Festivals, die Landkarte Rumäniens durch Theateraufführungen neu zu
gestalten. Gezeigt wurden Inszenierungen, die auf wahren Geschichten
verschiedener Minderheiten oder Ethnien basieren.
Das
vom Dramatiker Peca Ştefan und der Regisseurin Ana Mărgineanu erschaffene
Projekt Die Trilogie der verschwundenen Jahre
konzentriert sich auf drei Wendepunkte der jüngsten Geschichte Rumäniens:
1989 − das Jahr des Falls der Berliner Mauer und der rumänischen Revolution,
1996 − das Jahr der Hoffnung, als die Wahlen zum ersten Mal eine
nichtkommunistische Regierung an die Macht brachten, und 2007 − das Jahr des
Beitritts Rumäniens zur Europäischen Union. Jeder Teil der Trilogie beruht
auf Erzählungen der Schauspieler und Schauspielerinnen der jeweiligen
Theatergruppe. Dabei werden diese mit den wichtigsten politischen und
kulturellen Ereignissen des Jahres 1989, in der die Erschießung des
Ceauşescu-Paares geschah, oder den Erlebnissen aus Hermannstadt −
Europäische Kulturhauptstadt 2007 − zusammengefügt. Alle drei Produktionen
weisen eine ähnliche Struktur auf: Sie beginnen mit einer Szene aus dem
Theaterbereich und enden mit einer aus dem Familienleben. Für eine gewisse
Dynamik sorgt die von der Regisseurin eingesetzte Interaktivität mit dem
Publikum. Denn bestimmte Szenen finden nur für einige durch Verlosung
ausgewählte Zuschauer zeitgleich in den Kulissen oder in den Kabinen der
Schauspieler statt.
In ähnlicher Weise gewähren zwei Multimedia-Performances
der Regisseurin Carmen Lidia Vidu − Tagebuch zu Rumänien. Sankt Georgen
und Tagebuch zu Rumänien. Constan ţa
− einen tiefen Einblick in das heutige, von zahlreichen Spannungen und
Machtkämpfen getrübte Rumänien. Momentaufnahmen aus dem Leben der
Schauspieler zeugen von Leidenschaften, Erwartungen, Rebellionen und
Enttäuschungen, aber auch von Ansichten über die rumänische Sprache, die
Konflikte mit der ungarischen Szekler-Minderheit in Sankt Georgen und die
Bräuche der Tatarenminderheit in der Constanţa-Gegend. Mit suggestiver
Bildgewalt verschneidet die Regisseurin den Lebensgang von jeweils sechs
Schauspielern und ihre Beziehung zu Stadt und Gemeinschaft mit Sport- und
Tanzszenen zu einem atemberaubenden Multimedia-Theatererlebnis.
In
der Regie von Radu Nica entfaltete sich die Hauptstadt als
"Menschen-Installation". Bucureşti. Instalaţieumană hieß die
kollektive Theaterkreation, an der sich das gesamte Team von Schauspielern,
Bühnenbildner, Choreograf und Regisseur beteiligten. Ergänzt wurde das
Festivalprogramm von einem Workshop für aktive Kunst, einer Filmprojektion
und einer Feier, die dem zehnjährigen Bestehen der Zeitschrift für
darstellende Kunst "Scena.ro" gewidmet war. Vor allem aber lag der
Schwerpunkt auf Publikumsgesprächen nach den Vorstellungen mit Regisseur und
Mitgliedern des Ensembles. Zumal sich das Festival als Kommunikationsmittel
versteht. Es soll ein Raum des Dialogs sein − des Dialogs mit den
Zuschauern, mit der heutigen Generation und mit sich selbst. Und das ist es
auch!
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