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Verlassene Zahnbürste sucht Mensch

 Während der reguläre Spielbetrieb in Rumänien monatelang unterbrochen war,
bemühten sich manche Theaterregisseure um neue Kunstformen. So auch Bobi Pricop.
Zusammen mit sechs Schauspielern erarbeitete er das "performative Video-Gedicht" Exeunt.
Installation, Performance, Film – die im Internet gezeigte Produktion ist vor allem kein
Theater. Exeunt – der lateinische Begriff bezieht sich auf den Abgang der Schauspieler
von der Bühne – kreist um das Thema der Einsamkeit.

 Von Irina Wolf
(12. 09. 2020)

...



Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

 



(c) Bogdan Botas
 


(c) Bogdan Botas



(c) Bogdan Botas



(c) Bogdan Botas

   Die seit Wochen in ihren Wohnungen wegen der Pandemie verharrenden Akteure teilten ihre Sorgen, Ängste und Gedanken der Schriftstellerin Lavinia Branişte mit, die daraus einen hochaktuellen, poetischen Text entwickelte. Die sechs Monologe werden aber nicht linear umgesetzt, die Geschichten greifen vielmehr ineinander, verflechten sich. Dazu kommen wuchtige Sounds von Eduard Gabia und hypnotische Videos von Dan Basu. Das Ergebnis wird gekonnt zusammengesetzt von Bobi Pricop.

Dennoch ist Exeunt keine gefilmte Performance. Lediglich die Stimmen der Darsteller sind im Voraus aufgezeichnet worden. Während die Schauspieler live in ihren Wohnungen auftreten, werden die Bilder und die Musik in Echtzeit am Computer verarbeitet und gemischt. Das ist das Besondere an diesem künstlerischen Produkt. Der Ansatz der Akteure ist ganz unterschiedlich. Manche rufen ihre Silvesterpartys oder Spaziergänge am Meeresstrand in Erinnerung, andere wiederum vertreiben sich das Warten mit Kochrezepten. Dass Süßigkeiten gegen Nervosität helfen, ist bekannt. Kein Wunder, dass einer der Schauspieler eine ganze Tafel Schokolade genießt.

   Beeindruckend fand ich die Geschichte von Lucia Mărneanu, die sich durch Schminken vor dem Spiegel allmählich in ihre Großmutter verwandelt. Die Sehnsucht nach dem älteren Familienmitglied ist groß. Während Mărneanu ihren Körper zum Einsatz bringt, bedient sich ein anderer Künstler eines klugen Raummodells, um die bedrückende Isolation zum Ausdruck zu bringen. In einem aus Pappe selbstgebauten Zimmermodell "schläft" auf einem Doppelbett eine einsame Zahnbürste. Sogar die Wandbilder in diesem Miniaturraum sind leer. Wie in Zeitlupe taucht von oben eine Menschenhand auf, streichelt und umarmt die Zahnbürste, um sich letztendlich an ihre Seite zu legen. Solche poetischen Bilder unterstreichen den lyrischen Charakter des Textes.

Enthält der erste Teil der Produktion mehrere audiovisuelle Metaphern, liefert der zweite Einblicke in die "neue Realität" nach Corona. Einer nach dem anderen verlassen die Schauspieler ihre Wohnungen, um die Stadt zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erkunden. Auf den menschenleeren Straßen fängt die Videokamera jedes Detail ein: einen Ölfleck auf dem Asphalt, den Regenbogen am Himmel. Im Hintergrund ist nichts als Vogelgezwitscher zu hören. Am Ende treffen die Darsteller im Hof des "Reaktor"-Theatergebäudes aufeinander. Alle tragen einen Mund-Nasen-Schutz. Der 2014 in Klausenburg gegründete "Erfindungs- und Experimentier-Reaktor" ist eine Spielstätte der alternativen Theaterszene, die jährlich spannende Projekte bietet. So auch das Projekt "Posthumane performative Ansätze", das die Folgewirkungen des verstärkten elektronischen Kommunizierens auf uns und unsere Welt untersuchen will. In dessen Rahmen ist auch Exeunt entstanden.

   Frisch und anregend, so wirkt der vom Regisseur Bobi Pricop vorgeschlagene Ansatz auf mich. Exeunt ist eine performative Hybride. Hologramme verdoppeln die Körper der Schauspieler. Gelegentlich schweben Darsteller in der Luft oder "stehen" mit dem Kopf nach unten. Bildreich, bunt und fantasievoll präsentiert sich die Produktion. Ist das Raummodell anfangs in einem düsteren Licht gehalten, wechselt es später zu einem freundlichen Rosa. Allmählich entsteht Bewegung im "Zimmer", die Möbel werden von der Menschenhand durcheinandergewirbelt. Kurz vor dem Verlassen der Wohnung kehrt die Zahnbürste zu ihrer üblichen Verwendung zurück: Der Schauspieler bürstet sich damit die Zähne – die Einsamkeit ist durchbrochen. Eine Rückkehr zu den herkömmlichen Ritualen in der Theaterbranche wird aber wohl noch auf sich warten lassen.

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