Eine
lockere Aufzählung von Beobachtungen gestattet bereits tiefe Einblicke in
die Vielfältigkeit des von der künstlerischen Leiterin Marina Constantinescu
sorgfältig zusammengestellten Programms. Aus diesem soll auch deutlich
werden, wie wichtig es ist, in der heutigen Welt ein Zeichen für
Menschlichkeit und Gemeinschaft zu setzen.
Erstens
Rumänien
bedeutet viel mehr als Theater in rumänischer Sprache. Dreißig rumänische,
neun ungarische, eine jüdische, eine deutsche und eine mehrsprachige
Produktion waren der beste Beweis für ein multikulturelles Land. Die
Anwesenheit von Theatern aus Gheorgheni, Odorheiul Secuiesc oder Satu Mare,
die in der Hauptstadt nur selten zu Gast sind, erwies sich als echter Gewinn
für das Publikum. Das für seine experimentellen Kreationen
bekannte ungarische Figura-Stúdió-Theater aus Gheorgheni präsentierte eine
zeitgenössische Version von Tschechows "Drei Schwestern". Regisseur István
Albu schaffte es, eine entzückende Wanderinszenierung durch vier Räume des
riesigen Nationaltheatergebäudes vorzugeben, ohne den Originaltext zu
ändern.
Der Abend beginnt im Foyer
des Erdgeschosses, durchzieht zwei Säle und
endet zu guter Letzt im Freien, auf dem Dach. Doch das sind nicht die
einzigen Spezifika dieser originellen Produktion. Durch die Türen
der Eingangshalle treten Natascha und Werschinin direkt von der Straße
kommend in das Theater ein. Während die eine mit einem gelben Taxi ankommt,
steigt der andere von einem wunderschönen weißen Pferd. Diese und weitere
geistreiche Ideen, wie ein aus Spielzeugmodellen nachgebautes
Moskauer Miniatur-Bühnenbild, oder Hauswände, die sich wie eine verbrannte
Haut schälen, wurden von Albus Regie geboten.
Zweitens
Starke
visuelle Bilder setzte auch Andrei Măjeri in seiner Bühnenumsetzung eines
Stücks des mexikanischen Autors Ernesto Anaya ein. "Las Meninas" erzählt die
Entstehung von Velázquez' berühmtem Gemälde. Dem jungen Regisseur gelingt es,
eine realitätsnahe Abbildung einer egozentrischen, von Ruhm besessenen
Monarchie, zu rekonstruieren. Das wandelbare Bühnenbild und die farbenfrohen
Kostüme versetzen die Zuschauer direkt an den Hof des spanischen Königs
Philipp IV. Starke Soundeffekte und zahlreiche Gesangpassagen ergänzen die
originellen Regieeinfälle stimmig. Hervorragend auch die Leistung
des Ensembles des Ungarischen Staatstheaters aus Klausenburg.
Drittens
Eines
der mit Spannung erwarteten Ereignisse war "Richard III". Zwei Fassungen,
beide in der Regie von Andrei Şerban, wurden im selben Bühnenbild und mit
identischen Kostümen, an zwei aufeinanderfolgenden Abenden, jedoch von
unterschiedlichen Theatergruppen, gezeigt: vom Bulandra-Theater aus Bukarest
und vom Radnóti-Miklós-Theater aus Budapest. Şerban ist bekannt für seine
Neugestaltung von Klassikern. So gewinnt Shakespeares Stück in der Zeit von
populistischen Führern wie Trump und Orbán an politischer Brisanz. Róbert
Alföldi (ehemaliger künstlerischer Leiter des Nationaltheaters Budapest)
beziehungsweise Marius Manole begeisterten in der Titelrolle. Die
unterschiedlichen schauspielerischen Ansätze schaffen besondere Zugänge zu
den Machtverhältnissen in der Gesellschaft und der Welt. Die zweifache
Inszenierung erwies sich zugleich als verlockendes Publikumserlebnis und
erstklassige Erfahrung für die Künstler.
Viertens
"Hier
ist Radio Freies Europa!" Zwei Stunden lang wurde der berühmte
Rundfunkveranstalter, der als die einzige unzensierte Informationsquelle während
des Kommunismus galt, während des Nationaltheaterfestivals wiederbelebt. Aus
Angst vor Repressalien der berüchtigten Securitate-Geheimpolizei hörten die
Menschen heimlich während der Ceauşescu-Diktatur den Sender auf Kurzwelle.
Von Radio Freies Europa erfuhren die Bukarester 1989 über die begonnenen
Unruhen in der westrumänischen Stadt Temeswar. Die von Marina Constantinescu
organisierte Veranstaltung präsentierte sich als Hommage zur Erinnerung
an die blutige Dezemberrevolution.
Fünftens
Das
internationale Programm konzentrierte sich auf abwechslungsreiche
Tanzdarbietungen, die auch an andere künstlerische Genres angrenzten und
neue Ausdrucksformen schafften. "May B", die Produktion der Gruppe "Maguy
Marin", entpuppte sich als eine Liebeserklärung an die Menschheit.
Inspiriert vom beckettianischen Universum spiegelt die bereits vierzig
Jahre alte Performance im Rahmen von szenischer Bewegung die Burleske und das
Groteske der Existenz wider: Wesen, die mit einer dicken Kreideschicht
bedeckt und in Lumpen gehüllt sind, versuchen über weite Strecken, das Chaos zu
bekämpfen.
Ein Erlebnis der besonderen Art war auch die
Ballettaufführung "Eugen Onegin" aus Sankt Petersburg. In Boris Eifmans
Tanzversion von Alexander Puschkins Roman in Versen verschmelzen Elemente
des klassischen und des modernen Tanzes. Tschaikowskys Musik wechselt mit
Alexander Sitkovetskys Rockbeats in einer mystischen, geheimnisvollen
Atmosphäre.
Sechstens
Auch
die inzwischen schon anerkannte rumänische unabhängige Theaterszene war im
Programm vertreten. "Die Balladen der Erinnerung" widerspiegelte mehrere
Überlebensgeschichten von Frauen in der Phase des Übergangs nach dem Fall
der Diktatur. Dabei stand die Lebensgeschichte von Ionela Pop
im Fokus,
einer 70-jährigen Frau, die zum ersten Mal eine Bühne betrat. Das
minimalistische Bühnenbild im intimen Raum des
Replika-Bildungstheaterzentrums war mit Radios, Kassetten, Tonbandgeräten
und Plattenspielern angefüllt. Geschickt bedienten zwei junge Künstler die
Geräte aus einer anderen Epoche, um Audiodateien einer ganzen Generation von
Frauen wiederzugeben, deren Träume nach der Revolution nicht in Erfüllung gingen. Mit seinen Archivierungsmechanismen und der Hoffnung,
Erinnerungen neu dokumentieren zu können, gerieten die "Balladen der Erinnerung"
zu einer poetisch-nostalgischen Reise in die Vergangenheit.
Siebtens
Nicht
ganz so überraschend wurden die Festspiele mit einer der Bühnenbildnerin
Doina Levintza gewidmeten Ausstellungsvernissage eröffnet. "2005 habe ich
die ersten Veranstaltungen zur Schau von Kostümsammlungen begonnen, etwas, das bis dahin in Rumänien unbekannt war", sagt
Festival-Kuratorin Marina Constantinescu. Weitere Ausstellungen
präsentierten Werke der Bühnenbildner Dragoş Galgoţiu und Paul Bortnovski.
Zusätzlich zu einer Retrospektive von Festivalplakaten erfreuten sich auch
Grafiker der Aufmerksamkeit der künstlerischen Leiterin: "Gebrüll 5.0" hieß
die Ausstellung des Duos Ciprian Isac und Carla Stefania.
Achtens
Nicht
zuletzt durften sich die Zuschauer, anschließend an jede Aufführung, als
spezielles Schmankerl Autogramme ihrer bevorzugten Künstler holen.