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Mit Theater die Welt verändern

Über fünfzig nationale Produktionen, drei internationale Gastspiele,
fünfundzwanzig Buchpräsentationen, Workshops, Filmvorführungen, zahlreiche
Konferenzen und Debatten, sechs Ausstellungen, dreiundvierzig Hörspiele. Eine
kaum überschaubare Lawine von Veranstaltungen! So bunt präsentierte sich
die 27. Ausgabe des Nationaltheaterfestivals, welche vom 20. bis zum
30. Oktober in Bukarest stattfand.

Von Irina Wolf
(15. 12. 2017)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.




(c) Adi Bulboaca

"Familien"
(Regie:
Eugen Jebeleanu)




(c) Adi Bulboaca

"Hiobs Fleischerladen"
(Regie: Radu Afrim)

 


(c) Mihaela Marin

"Das Café Pirandello"
(Regie:
Mihai Măniuţiu)




(c) Mihaela Marin

"Babel"
(Regie:
Arcadie Rusu)




(c) Adi Bulboaca

"Dorian"
(Regie:
Oana Răsuceanu)
 

   Das Moskauer Theater der Nationen eröffnete die Festspiele mit Hamlet Collage in der Inszenierung des auch in Wien bekannten kanadischen Regisseurs Robert Lepage. Mit einer bemerkenswerten Leistung beeindruckte Schauspieler Ewgeny Mironow, der 90 Minuten lang in einem Würfel über die Bühne schwebte und dabei alle Figuren von Shakespeares bekanntem Stück interpretierte. Das Ballett Romeo und Julia, eine Produktion der weltweit bekannten französischen  Tanzgruppe Preljocaj und Irgendwie leben (Barbara) mit Oscar-Preisträgerin Juliette Binoche und Alexandre Tharaud, waren die beiden anderen Gastspiele.

Das von Intendantin Marina Constantinescu gewählte Motto des Festivals lautete "Theater verändert die Welt", was besonders darauf abzielte, "den Widerstand der Künstler gegen alles, was abwegig, erschütternd und schockierend in unserem Leben ist, in der Justiz, dem Gesundheitssystem, der Kultur und der Bildung", hervorzuheben. Ein mutiges Statement in dem permanent von Korruption und politischen Machtkämpfen geplagten osteuropäischen Land.

Die Familie als "kleinste Zelle der Gesellschaft"

   Zwei Produktionen widmeten sich einem Thema, das die rumänische Gesellschaft aktuell aufwühlt: die Familiendebatte. Im Jahr 2015 wurde im Bundesgesetzblatt ein Gesetzesentwurf veröffentlicht, der eine radikale Neudefinition der Familie anstrebt. Eine Verfassungsänderung sollte den Wortlaut "Die Familie gründet auf einer freien Ehe zwischen Ehegatten" in "Die Familie gründet auf einer freien Ehe zwischen einem Mann und einer Frau" umwandeln. Zutiefst schockiert von diesem Vorstoß schrieb der in Paris lebende rumänische Künstler Eugen Jebeleanu Familien, ein aus zwanzig Szenen bestehendes Theaterstück, das Themen wie Homosexualität, Adoption, körperlicher und psychischer Missbrauch, Kommunikationsmangel, analysiert. In seinem Text erzählt der Autor die Geschichten von drei Familien über einen Zeitraum von drei Jahren. Die ebenfalls in der Regie von Jebeleanu entstandene Performance ist eine Koproduktion zwischen dem Nationaltheater "Radu Stanca" und der Universität "Lucian Blaga", beide aus Hermannstadt.

Auch die Musiktheater-Produktion Zuckerfreie Familie untersuchte in einem von Mihaela Michailov entworfenen und durch originelle Gedichte von Bobi Dumitraş bereicherten Text die Familienproblematik. Die Koproduktion zwischen dem Kleinen Theater Bukarest und dem Replika Zentrum für Bildungstheater betrachtete die Familie als "ein sich überlappendes Konzert von Eltern-, Kinder-, Großeltern-, Kirchenvertreter- und Roboterstimmen, die gesellschaftliche Regeln und Klischees widerspiegeln". Eine dynamische, humorvolle und emotionale Show in der Regie von Radu Apostol.

Ab in den Fleischerladen und ins Nachtcafé

   Zur Freude seiner Fans gab es im Festivalprogramm drei Inszenierungen von Radu Afrim. Fausto Paravidinos Hiobs Fleischerladen war eine davon. Im sozialpolitischen Stück des "Wunderkindes" der italienischen Dramatik gibt es drei prägnante Bilder: der Delphin, das Fleisch und das Geld. Im Text verwoben rund um eine Liebesgeschichte kritisiert Pasolini den Kapitalismus und den übertriebenen Konsum, thematisiert aber auch die Zärtlichkeit einer Beziehung und den Verrat. Afrims szenische Umsetzung ist, wie immer, originell und speziell. Der Regisseur bewahrt viel von Paravidinos Geschichte, personalisiert sie aber, indem er den Figuren die Namen gibt, die die Schauspieler im wirklichen Leben tragen und Pirandellos Clowns durch Transvestiten und Prostituierte ersetzt. Seine Inszenierung ist eine Mischung aus Erzählungen und Kabarettnummern, Video-Mapping, Folklore- und Hip-Hop-Musik.

Auch Regisseur Mihai Măniuţiu war mit drei Werken im Festival vertreten. Darunter, zum 150sten Geburtsjubiläum von Luigi Pirandello, Das Café Pirandello. Der dafür von Anca Măniuţiu geschriebene Text ist eine Adaption von zwei Stücken des italienischen Dramatikers und Nobelpreisträgers (Der Mann mit der Blume im Mund und die Berggiganten). Musik- und Tanzszenen wechseln sich in einem verlassenen Nachtcafé, in der Nähe eines Bahnhofs, ab, wofür Adrian Damian ein berauschend schönes Bühnenbild entworfen hat (der junge Bühnenbildner wirkte bei nicht weniger als fünf beim Nationaltheaterfestival gezeigten Produktionen mit).

Babel führt zum Ende der Welt

   Aber auch der zeitgenössische Tanz erlebt seit einigen Jahren einen Aufschwung in Rumänien. Daher erfreute sich die Programmauswahl einiger guten Tanzproduktionen. Arcadie Rusus Babel, gezeigt im neu eröffneten Independent Choreographic Center Linotip war eine Performance über unsere alltäglichen Tätigkeiten: das Verhalten im Verkehrsstau, die Behandlung im Krankenhaus, die Arbeiten auf einer Baustelle oder vor dem Geschäft Schlange stehen. Rusus humorvolle Choreographie erwies sich als sehr erfinderisch.

Ganz anders Dorian, eine Produktion von Control N Cultural Association, die das Ende der Welt thematisiert. In einer Gegenüberstellung von zeitgenössischem Tanz und Multimedia-Projektion brachte Oana Răsuceanu die Aktivitäten der letzten 24 Lebensstunden des Protagonisten (Schauspieler und Tänzer George Albert Costea) auf die Bühne. Die nonverbale Show regte zum Nachdenken an, denn "für die Wörter, die wir nie aussprechen, ist es am Ende zu spät".

Das war nur ein kleiner Ausschnitt aus dem gewaltigen Programm der 27. Auflage des Nationaltheaterfestivals. Mit ihrer breit gefächerten Auswahl an verschiedenen Veranstaltungen lockte Intendantin Marina Constantinescu tausende Zuschauer an und bekräftigte, dass sich die rumänische Theaterwelt zum Guten verändert hat.

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