Das
Moskauer Theater der Nationen eröffnete die Festspiele mit Hamlet Collage
in der Inszenierung des auch in Wien bekannten kanadischen Regisseurs Robert
Lepage. Mit einer bemerkenswerten Leistung beeindruckte Schauspieler Ewgeny
Mironow, der 90 Minuten lang in einem Würfel über die Bühne schwebte und
dabei alle Figuren von Shakespeares bekanntem Stück interpretierte. Das
Ballett Romeo und Julia, eine Produktion der
weltweit bekannten
französischen Tanzgruppe Preljocaj und Irgendwie leben (Barbara) mit
Oscar-Preisträgerin Juliette Binoche und Alexandre Tharaud, waren die beiden
anderen Gastspiele.
Das von Intendantin Marina Constantinescu gewählte Motto
des Festivals lautete "Theater verändert die Welt", was besonders darauf
abzielte, "den Widerstand der Künstler gegen alles, was abwegig,
erschütternd und schockierend in unserem Leben ist, in der Justiz, dem
Gesundheitssystem, der Kultur und der Bildung", hervorzuheben. Ein mutiges
Statement in dem permanent von Korruption und politischen Machtkämpfen
geplagten osteuropäischen Land.
Die Familie als "kleinste Zelle der Gesellschaft"
Zwei
Produktionen
widmeten sich einem Thema, das die rumänische Gesellschaft
aktuell aufwühlt: die Familiendebatte. Im Jahr 2015 wurde im Bundesgesetzblatt
ein Gesetzesentwurf veröffentlicht, der eine radikale Neudefinition der
Familie anstrebt. Eine Verfassungsänderung sollte den Wortlaut "Die Familie
gründet auf einer freien Ehe zwischen Ehegatten" in "Die Familie gründet auf
einer freien Ehe zwischen einem Mann und einer Frau" umwandeln. Zutiefst
schockiert von diesem Vorstoß schrieb der in Paris lebende rumänische
Künstler Eugen Jebeleanu Familien, ein aus zwanzig Szenen bestehendes
Theaterstück, das Themen wie Homosexualität, Adoption, körperlicher und
psychischer Missbrauch, Kommunikationsmangel, analysiert. In seinem Text
erzählt der Autor die Geschichten von drei Familien über einen Zeitraum von
drei Jahren. Die ebenfalls in der Regie von Jebeleanu entstandene
Performance ist eine Koproduktion zwischen dem Nationaltheater "Radu Stanca"
und der Universität "Lucian Blaga", beide aus Hermannstadt.
Auch die Musiktheater-Produktion Zuckerfreie Familie
untersuchte in einem von Mihaela Michailov entworfenen und durch originelle
Gedichte von Bobi Dumitraş bereicherten Text die Familienproblematik. Die
Koproduktion zwischen dem Kleinen Theater Bukarest und dem Replika Zentrum
für Bildungstheater betrachtete die Familie als "ein sich überlappendes
Konzert von Eltern-, Kinder-, Großeltern-, Kirchenvertreter- und
Roboterstimmen, die gesellschaftliche Regeln und Klischees widerspiegeln".
Eine dynamische, humorvolle und emotionale Show in der Regie von Radu
Apostol.
Ab in den Fleischerladen
und ins Nachtcafé
Zur
Freude seiner Fans gab es im Festivalprogramm drei Inszenierungen von Radu
Afrim. Fausto Paravidinos Hiobs Fleischerladen war eine davon. Im
sozialpolitischen Stück des "Wunderkindes" der italienischen Dramatik gibt
es drei prägnante Bilder: der Delphin, das Fleisch und das Geld. Im Text
verwoben rund um eine Liebesgeschichte kritisiert Pasolini den Kapitalismus
und den übertriebenen Konsum, thematisiert aber auch die Zärtlichkeit einer
Beziehung und den Verrat. Afrims szenische Umsetzung ist, wie immer,
originell und speziell. Der Regisseur bewahrt viel von Paravidinos
Geschichte, personalisiert sie aber, indem er den Figuren die Namen gibt,
die die Schauspieler im wirklichen Leben tragen und Pirandellos Clowns durch
Transvestiten und Prostituierte ersetzt. Seine Inszenierung ist eine
Mischung aus Erzählungen und Kabarettnummern, Video-Mapping, Folklore- und
Hip-Hop-Musik.
Auch Regisseur Mihai
Măniuţiu war mit drei Werken im
Festival vertreten. Darunter, zum 150sten Geburtsjubiläum von Luigi
Pirandello, Das Café Pirandello. Der dafür von Anca Măniuţiu
geschriebene Text ist eine Adaption von zwei Stücken des italienischen
Dramatikers und Nobelpreisträgers (Der Mann mit der Blume im Mund und
die Berggiganten). Musik- und Tanzszenen wechseln sich in einem
verlassenen Nachtcafé, in der Nähe eines Bahnhofs, ab, wofür Adrian Damian
ein berauschend schönes Bühnenbild entworfen hat (der junge Bühnenbildner
wirkte bei nicht weniger als fünf beim Nationaltheaterfestival gezeigten
Produktionen mit).
Babel führt zum Ende der
Welt
Aber
auch der zeitgenössische Tanz erlebt seit einigen Jahren einen Aufschwung in
Rumänien. Daher erfreute sich die Programmauswahl einiger guten
Tanzproduktionen. Arcadie Rusus Babel, gezeigt im neu eröffneten
Independent Choreographic Center Linotip war eine Performance über unsere
alltäglichen Tätigkeiten: das Verhalten im Verkehrsstau, die Behandlung im
Krankenhaus, die Arbeiten auf einer Baustelle oder vor dem Geschäft Schlange
stehen. Rusus humorvolle Choreographie erwies sich als sehr erfinderisch.
Ganz anders Dorian, eine Produktion von Control N
Cultural Association, die das Ende der Welt thematisiert. In einer
Gegenüberstellung von zeitgenössischem Tanz und Multimedia-Projektion
brachte Oana Răsuceanu die Aktivitäten der letzten 24 Lebensstunden des
Protagonisten (Schauspieler und Tänzer George Albert Costea) auf die Bühne.
Die nonverbale Show regte zum Nachdenken an, denn "für die Wörter, die wir
nie aussprechen, ist es am Ende zu spät".
Das war nur ein kleiner Ausschnitt aus dem gewaltigen
Programm der 27. Auflage des Nationaltheaterfestivals. Mit ihrer breit
gefächerten Auswahl an verschiedenen Veranstaltungen lockte Intendantin
Marina Constantinescu tausende Zuschauer an und bekräftigte, dass sich die
rumänische Theaterwelt zum Guten verändert hat.