Das
Gefühl Deiner "Mutter" für die richtigen Produktionen, ihre absolut
professionelle Konzeption und ihre bis ins Kleinste geplante Umsetzung sind
für mich der Beweis, dass Deine 12. Auflage so ein Erfolg war. Vom 3. bis
10. Oktober verwandelte Oltiţa Cîntec, Theaterkritikerin, Intendantin des
Internationalen Festivals für ein junges Publikum (FITPT) und künstlerische
Leiterin des "Luceafărul"-Theaters Iaşi, die nordöstlichste Stadt Rumäniens in
eine Hochburg theatralen Geschehens. Und das gepaart mit einem wirklich
sympathischen, herzlichen Menschen ist eine Kombination, die ich sehr selten
erlebe! So eine Mutter kann sich jedes Kind nur wünschen.
Da wären zuerst die Kindermärchen, allen voran Der
Wolf und die sieben Geißlein. Oder sind es doch weniger? Denn in der
1875 entstandenen Geschichte des rumänischen Schriftstellers Ion Creangă
geht es um eine Ziege mit nur drei Geißlein. In beiden Fällen ist die
Handlung dieselbe, bis auf das Ende, das ich hier nicht verraten werde. Dass
Du zusätzlich zur lokalen Produktion die spanische, "westliche" Variante der
Gruppe Los Claveles aus Murcia gezeigt hast, kann Dir nur zugutekommen. Der
grüne Handpuppen-Wolf war gar nicht so furchteinflößend, hat er sich doch
von den Kleinen streicheln lassen. Und da war noch etwas anderes im
Programm! Eine szenische Lesung von Matei Vişniecs neuestem Stück: Die
Ziege, das jüngste Geißlein und Gevatterin Wolf. Schauspieler
agierend mit Figuren aus "Die Ziege mit den drei Geißlein", Schattenspiele,
ein buntes Bühnenbild, dazu noch ein spritziger, stark in der politischen
Aktualität verankerter Text. Sapperlot! Wenn das nicht eine aufregende
Bühnenumsetzung war. Und da wären wir wieder beim gut durchdachten Konzept
Deiner "Mutter". Wie ein Faden zieht sich die Geschichte durch das
kunterbunte Programm.
Mit Matei Vişniec hast Du einen Volltreffer gelandet. Ob
groß oder klein, schwer verliebt war das Publikum in Der Außerirdische,
der sich einen Pyjama als Erinnerung wünschte. Das Stück mit dem
bedeutungsvollen Untertitel "eine Geschichte, um Kinder zum Einschlafen zu
bringen und Eltern aufzurütteln", behandelt in spielerischer Manier
ein gravierendes Thema der rumänischen Gesellschaft: Rund vier Millionen
Rumänen arbeiten seit Jahren im Ausland, während ihre Kinder den
zurückgebliebenen Großeltern anvertraut werden. Die Tonnen von Geschenken,
mit denen die Eltern ihre Sprösslinge überhäufen, können die Liebe der
Ferngebliebenen nicht ersetzen. Erst als ein Außerirdischer aus einer
Schachtel herausschlüpft und den Kleinen Zeit schenkt, wird das Leben für
diese erträglicher. Die Produktion des erst vor drei Jahren in Suceava
gegründeten Theaters, das den Namen des Autors trägt, sprüht vor Humor und
musikalischer Momente (Regie: Ioan Brancu, Musik: Cári Tibor). Köstlich ist
die Szene, in der die Großmutter wie ein Rapper tanzt, nachdem sie ein
energiespendendes Getränk vom Außerirdischen getrunken hat. Du, liebes
Festival, hast natürlich mit der sofortigen euphorischen Reaktion des
Publikums gerechnet.
Wie aktuell das Auswanderungsproblem in der heutigen
rumänischen Gesellschaft ist, bewies ebenfalls das von Catinca Drăgănescu
inszenierte Stück Good for Export von Alex Tocilescu. Ist das denn
die gelebte Befreiung, nachdem der Kommunismus vor dreißig Jahren sein Ende
fand? Diese Frage wirst Du mir wahrscheinlich nicht beantworten können,
obwohl das Thema Deiner diesjährigen Auflage "Freiheit" lautete.
Wird eines Tages die Freiheit der Kinder möglich sein?
Vor allem die Freiheit der afrikanischen Kinder? Das senegalesische Stück
Kleines Stück Holz der Gruppe Djarama spiegelt die afrikanische
Gesellschaft wider, in der von keinerlei Freiheit die Rede sein kann.
Schauspielerin Patricia Gomis nennt die an drei Kleiderständern hängenden
Tomatenkonserven von unterschiedlicher Größe "Straßenkinder-Tomatentöpfe".
Mit ihrer Stimme erweckt sie die insgesamt dreißig Konserven und die darin
versteckten Holzpuppen, die bettelnde Straßenkinder darstellen, zum Leben
(aus dem anschließenden Publikumsgespräch erfährt man, dass die Holzpuppen
tatsächlich von senegalesischen Straßenkindern geschnitzt wurden!).
Geschickt benutzt die Protagonistin Körper, Gesten und Mimik, um
verschiedene Charaktere nachzuahmen. Am Ende werden die drei Kleiderständer
zu einem Dreieck vereint, das einen geschlossenen Raum darstellt. Nun ganz
ehrlich, ich war zutiefst bewegt. Dass Du so geschickt den Spagat zwischen
Irrwitzigem und Tiefsinnigem in deiner Programmgestaltung schaffst, hätte
ich Dir nicht zugetraut.
Auffallend ist auch, dass Du Theatermenschen von allen
Kontinenten zusammengebracht hast. Mit Neben dir, einer von Yun
Hyejin selbst entworfenen Produktion, für die sie ebenfalls die Puppen
gestaltet und die Musik komponiert hat, berührte die aus Südkorea stammende
Künstlerin das Publikum. Kinder durften sogar die Gayageum, eine in der
klassischen koreanischen Musik eingesetzte Wölbbrettzither, berühren. Im
Allgemeinen zeigten sich internationale Künstler bereit, in Interaktion mit
den Kleinen zu treten. Ist Dir denn das auch aufgefallen?
Übrigens konnte ich erfreut feststellen, dass Du immer
einen Plan B parat hast. Was eine Walk-Art-ähnliche Show im Freien sein
sollte, hat sich aufgrund des starken Regens zu einem musikalischen Erlebnis
der besonderen Art im Foyer des "Luceafărul"-Theaters entpuppt. The Light
of Vision heißt die Show der Gruppe Fenix aus Hannover mit
märchenähnlichen, magischen Gestalten, die eine besondere Anziehungskraft
auf alle Zuschauer ausübten und sie zu Selfies einluden. Dass das Foyer
genauso wichtig wie der Hauptsaal des Gebäudes ist, zeigten auch die
interaktiven Installationen Crusoes Freunde der spanischen Gruppe Toc
de Fusta sowie drei Giraffen der katalanischen Xirriquiteula-Gruppe.
Hemmungslos spazierten die "Tiere" zwischen den Anwesenden hindurch und so
mancher bekam ein Küsschen von dem hinter der Säule ausgestreckten
Giraffenhals. Solche Shows der außergewöhnlichen Art, die zum ersten Mal in
Iaşi zu sehen sind, gehören zur Grundidee, durch die Du jährlich wiedergeboren
wirst.
Mehr als 500 Künstler aus 28 Ländern waren in den acht
Tagen in Iaşi zu erleben. Nicht zuletzt verdienst Du es, für das
Smiley-ähnliche Werbeplakat, das überall in der Stadt zu sehen war, gelobt
zu werden. Der gelbe Fallschirm mit großen Augen und lächelndem Mund
verdeutlichte ganz genau meine Emotion. Ich danke Dir herzlich für die
zahlreichen unvergesslichen Momente!
Liebe Grüße und bis hoffentlich bald wieder,
Deine Irina