
Irina Wolf
irinawolf10 [at]
gmail.com
Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und
Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

Thomas Perle.
wir gingen weil
alle gingen.
edition exil, 2018, 136 S.
ISBN: 9783901899690.
Besonders spannend
und zugleich berührend
ist, wie der Schriftsteller
die Homosexuellenfeindlich-
keit anprangert, in dem
Land, das 2018 durch ein
Referendum sicherstellen
wollte, dass die Ehe für
gleichgeschlechtliche
Paare nicht eingeführt
werden kann.

(c) Julia Grevenkamp
Thomas Perle, geboren
1987 in Oberwischau, Rumä-
nien, emigrierte mit seiner
Familie 1991 nach Nürnberg,
wo er dreisprachig aufwuchs.
Von 2008 bis 2015 studierte
er Theater-, Film- und Medien-
wissenschaft an der Universi-
tät Wien und war von 2010
bis 2012 Regieassistent
am Schauspielhaus Wien.
Uraufführungen seiner Thea-
terstücke 2015 und 2016
am Werk-X in Wien.
2013 erhielt er den exil-
Literaturpreis und war 2014
im
Rahmen der Nachwuchs-
autorenförderung des ORF III
unter der Mentorenschaft von
Julya Rabinowich writer-in-
residence im LOISIUM. Seit
2015 ist er Mitglied des Auto-
rentheaterlabors Wiener Wort-
stätten und Teil des europä-
ischen Kooperationsprojekts
Fabulamundi Playwriting
Europe. 2016 bekam er den
ersten Preis beim 28. Litera-
turpreis der Nürnberger Kultur-
läden zugesprochen; 2018
Wiener Dramatik Stipendium
und Stadtschreiber in Rott-
weil, Deutschland.
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In
seinem Prosadebüt widmet sich Thomas Perle einer Anzahl von Themen, die ihn
bewegen. In sieben Kurzgeschichten geht es um das (Über-)Leben in den Jahren
vor der Revolution, dann schließlich um das Wagnis eines Neuanfangs in Westeuropa und
wie den damit
verbundenen Schwierigkeiten getrotzt werden kann. Aber es geht in "wir gingen weil alle gingen"
auch um Angst, Hoffnung, Liebe, Schmerz, um das Erwachsenwerden und die in
Rumänien herrschenden Vorurteile gegenüber Homosexuellen.
Vom Osten in den Westen – und wieder zurück
Erzählt
wird einmal in der Ich-Perspektive, dann wieder in der dritten Person.
Längere Geschichten wechseln sich mit kurzen ab. Es gibt keine
chronologische Ordnung. Die "langen" Geschichten bestehen aus mehreren
"Untergeschichten". Jede hat einen anderen Titel, der fett gesetzt ist, zum
Beispiel "was uns deutsch", "im westen alles frei, doch nichts
umsonst", "der mund die sprache nicht vergessen". Sehr schön ist
auch, dass diese aufeinander aufbauen und einen roten Faden bilden.
Viele dieser Erzählungen weisen einen Bezug zu Perles
Familie auf. Dabei vergisst der Autor nicht, Einblicke in die
Lebensbedingungen früherer Zeiten zu geben und schafft damit eine ganz
spezielle Atmosphäre. Der Tod der Großmutter ist gefühlvoll und sensibel
beschrieben. Geschickt setzt der Autor mehrfach Rückblenden ein, sodass
Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen.
der tod sitzt am kopfende. ich sitze neben dem bett auf der anderen
seite.
der tod und ich sehen uns
nicht an.
[...]
vier familien wurden in
einen waggon gepfercht. die waggontür zugedroschen.
[…]
der zug hielt in einem
gebiet, in dem die menschen bereits anfingen zu hassen, weil unser
ursprungsmutterland sie besetzt hatte.
darum wurde nicht mehr
deutsch gesprochen, alle sprachen in der sprache meines rumänischen
großvaters jetzt. erikas erstes wort war mama. ihr zweites wort war
foame, hunger.
Kein Wunder, dass in den Erzählungen Thomas Perles Autobiografie eine Rolle
spielt. Denn der 1987 in Siebenbürgen geborene Schriftsteller und
Theaterautor emigrierte 1991 nach Deutschland. Doch seinem Geburtsort blieb
er verbunden und reiste regelmäßig nach Oberwischau (rum. Vişeul de Sus,
ung. Felsővisó). Besonders spannend und zugleich berührend ist, wie der
Schriftsteller die Homosexuellenfeindlichkeit anprangert, in dem Land, das
2018 durch ein Referendum sicherstellen wollte, dass die Ehe für
gleichgeschlechtliche Paare nicht eingeführt werden kann.
jetzt. jetzt der moment, der moment, in dem du aufstehst.
der moment, in dem du die
wahrheit. erzähl! erzähl ihnen, was wirklich!
erzähl ihnen, wer daniel
wirklich auf dem gewissen, wirf ihnen die eigene dummheit an den kopf.
diesen hinterwäldlern! mit ihrer falschen religiosität.
diesen heuchlerinnen.
erzähl, verdammt noch mal! erzähl! sag was!
Zum Glück ist das Referendum zur Verfassungsänderung gescheitert.
Kleinbuchstaben dreisprachig
Thomas
Perle hat seinen ganz eigenen Stil. Das beginnt schon mit der Form der
Sätze, die wie abgehackt scheinen. Zum anderen sind Text und
Titel stets in Kleinbuchstaben gehalten. Das macht es dem lesenden Auge
nicht gerade leicht. Dafür schreibt der Autor äußerst flüssig. Er schafft
es, in kurzen Sätzen und mit wenigen Worten die Leser mit klaren Bildern zu
beeindrucken. Auch zu den gut gezeichneten Charakteren baut man
schnell eine Beziehung auf. Die Handlung ist spannend. Bei vielen
Kurzgeschichten hat man das Gefühl, dass sich auch ein ganzer Roman
anschließen könnte. Zudem sind die Geschichten gut und flüssig lesbar. Manchmal zu gut,
denn man sollte nicht den Fehler machen, zu viele davon zu schnell zu lesen,
würde man doch in diesem Fall leicht die vielen Zwischentöne und manch
Hintergründiges, bisweilen auch die eine oder andere gut versteckte Kritik
verpassen. Auch die sehr persönlich gehaltenen Stellen sind zahlreich
vertreten. Noch dazu
tragen die Geschichten so interessante Titel wie "schwarzer Schnee"
oder "mutterkörper. jedes leben einmal zu ende". Auch rumänische und
ungarische Ausdrücke bringt der Autor an vielen Stellen ein, ist Thomas
Perle doch dreisprachig aufgewachsen. Dass das manchmal zu aberwitzigen
Situationen führen kann, zeigt die Geschichte "wie ich eines tages die
u-bahn verlor".
blau/gelb/rot
Die
Stimmung des Buchs wird im Covermotiv zweifellos eingefangen. Auch der
Verlagsname, unter dem das Buch veröffentlicht wurde (edition exil), passt
perfekt zum Inhalt. Optisch erinnert der im Taschenbuchformat gehaltene Band
an das Wappen der Sozialistischen Republik Rumänien. Auf einem Hintergrund
von Sonnenstrahlen stehen zwei große Sterne übereinander: einer rot, der
andere blau. Eine sehr schöne Anspielung auch auf die Farben der rumänischen
Fahne oder auf die Hymne der Sozialistischen Republik Rumänien ("Drei
Farben"). Im Allgemeinen spielen Farben eine wichtige Rolle im Buch.
kurz nach der schwarz/rot/goldenen Grenze sah ich zum ersten mal eine
autobahn.
Mit solch bildlichen Darstellungen schafft Thomas Perle eine eigene Dynamik.
Fazit
" wir
gingen weil alle gingen" ist eine
stimmungsvolle Kurzgeschichtensammlung. Thomas Perle ist ein bewegender
Einblick in Rumäniens Geschichte im 20. Jahrhundert gelungen. Am Beispiel
(s)einer ausgewanderten Familie behandelt er Fragen von Liebe und Tod, von Identität und Heimat,
von Loyalität und Loyalitätskonflikt – also die
ganz großen Themen des Lebens. |
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