Noch
vor 1989 diente das "Piatra-Neamţ-Phänomen" als Kreativlabor für ganze
Künstlergenerationen. Kein Wunder, dass das erste Theaterfestival für junge
Menschen vor fünf Jahrzehnten hier gegründet wurde. In der damaligen Zeit,
als rumänische Theatergruppen selten, wenn überhaupt, an internationalen
Festivals teilnahmen, war das Jugendtheater mit zwei Eigenproduktionen auf
der Biennale in Venedig vertreten.
"Erfolg!" – so lautete das
Motto der 31. Auflage der Festspiele, die vom 18. September bis 2. Oktober
in Piatra Neamţ stattfanden. Kuratorin Gianina Cărbunariu,
seit 2017 Intendantin des Jugendtheaters, blickt hinter die Fassade der in
den dreißig Jahren seit dem Fall des Eisernen Vorhangs erzielten
"Errungenschaften". "Das Festival präsentiert eine Reihe von künstlerischen
Perspektiven aus Osteuropa (Polen, Slowakei und Rumänien), die die
Vergangenheit und den Begriff des Erfolges in der zeitgenössischen
Gesellschaft kritisch hinterfragen", sagt Cărbunariu.
Was haben wir aus dem historischen "Erfolg" von 1989 gewonnen? Welche Träume
sind wahr geworden? Wie verletzlich sind wir heute? Dies sind nur einige der
Fragen, mit denen sich ganze neunundzwanzig Produktionen aus sieben Ländern
auf dem Festival beschäftigt haben.
Faulheit – Todsünde oder Tugend?
Mit
großer Spannung wurde die Premiere Frontal von Gianina Cărbunariu
erwartet. Es ist die erste Produktion der international bekannten
Regisseurin und Autorin seit ihrer Intendanzübernahme. Inspiriert vom
Märchen "Die Geschichte eines faulen Mannes" des volkstümlichen
Schriftstellers Ion Creangă,
wirft Cărbunariu
in ihrem Werk einen Blick auf den heutigen Begriff der Faulheit. Die 1878
entstandene Geschichte – ein wichtiger Bestandteil der rumänischen
Kinderliteratur – handelt von einem Dorfbewohner, der von seinen eigenen
Leuten umgebracht wird, weil er nicht arbeiten will.
Cărbunarius
Hauptanliegen ist es, die Faulheit als Schlüssel zur Armut aus
zeitgenössischer Perspektive zu untersuchen, wird doch des Öfteren die
Arbeitslosigkeit durch Faulheit erklärt. In gewohnter Manier zeichnet die
Künstlerin verantwortlich für Text und Regie. Gemeinsam mit dem Soziologen
Valer Simion Cosma, haben sich auch die in der Produktion agierenden elf
Schauspieler aktiv an dem Dokumentationsprozess beteiligt. Zahlreiche
Interviews wurden mit Menschen unterschiedlichen Alters und Berufs geführt.
Ausgehend von mehreren Ereignissen, die in den letzten Jahren in Rumänien
und Schweden stattfanden, zeigt Cărbunariu
ein kollektives Porträt, das tief im sozialen Umfeld verankert ist.
Mit unterschiedlichen
ästhetischen Mitteln erstellt die Regisseurin ein vielschichtiges Mosaik
über Meinungen, die Dummheit, Ignoranz und bösen Willen gegenüber der
Faulheit zeigen: Eine Familie mit elf Kindern verliert mitten im Winter ihr
Zuhause, ein vietnamesischer Arbeitnehmer erfüllt die Anforderungen seiner
rumänischen Arbeitgeber nicht, zwei Schüler aus Familien mit Problemen
werden gezwungen, ein Schuljahr zu wiederholen usw. All diese "faulen
Menschen" sind, laut den Autoren, unter einem einzigen Namen bekannt:
"Bezieher von Sozialhilfe". Die Bühnenumsetzung kommt ganz unsentimental und
überzeugend daher. Nur ganz zum Schluss gibt es starke musikalische
Punk-Beats. Die auditive Apokalypse ist visuell geprägt von brennenden
Streichhölzern, die an Andersens Märchen "Das Mädchen mit den
Schwefelhölzern" erinnert. Verachtung und Verantwortungslosigkeit gebären
den Tod.
Vergangenheitsbewältigung, Migration und Dokumentartheater vom Feinsten
Mit
seiner Inszenierung Unser kleines hundertjähriges Jubiläum nach einem
Stück von Maria Manolescu liefert Dragoş
Alexandru Muşoiu
einen wichtigen Festivalbeitrag. Der von Manolescu 2018 während der
Drama-5-Residenz an der Klausenburger Spielstätte Kreations- und
Versuchsreaktor entstandene Text handelt über eine Familie, die sich zum
100. Geburtstag der Urgroßmutter versammelt. Die Alte sehnt sich nach
Einheit, jedoch streben die Familienmitglieder weder die Erbschaft des
Elternhauses an noch den Wunsch, vereint zu sein. Insbesondere die Mutter
schafft es nicht, zu vergessen, dass ihr Urgroßvater ein Legionssoldat war.
Als die alte Frau in der Nacht vor ihrer Hundertjahrfeier stirbt, verwandelt
sich das Fest in eine Totenmesse.
Dragoş
Alexandru Muşoius
Inszenierung verstärkt durch eine einfallsreiche Regie Maria Manolescus
Text, der durch beißenden Humor und temporeiche Dialogpassagen besticht.
Einen maßgeblichen Beitrag zur erfolgreichen Produktion leistet auch das
Bühnenbild von Andei Pop: Eine große Platte, die die Vorderseite eines alten
Radios widerspiegelt, steht mitten auf der Bühne. Durch vier Lautsprecher
schlüpfen die Gesichter der Schauspieler hervor, wobei wichtige
geschichtliche Ereignisse als Maßstäbe auf der Radioskala des
Röhrenrundfunkempfängers dargestellt sind. Wird die Fassade des "Radios"
gekippt, kommt das Zimmer der alten Frau zum Vorschein. "Unser kleines
hundertjähriges Jubiläum" entpuppt sich als überzeugendes Spiel zwischen
Rache und Verzeihen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und nicht zuletzt
als Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus.
Ebenfalls
aus dem Genre des sozialpolitischen Theaters stammend, überzeugten zwei
Inszenierungen des arrivierten Regisseurs Radu Afrim, für die er auch als
Autor verantwortlich zeichnet, unter anderem die Performance Über
Menschen und Kartoffeln, die sich um einen tragischen Arbeitsunfall, in
dem Roma verwickelt waren, dreht – siehe
Aurora Magazin vom 13. Dezember 2018. Des
Weiteren ergründete
Tagebuch Rumänien. Temeswar sechs Einzelschicksale sowie ihre
Beziehung zu Stadt und Gemeinschaft –
siehe Aurora Magazin vom 7. Februar 2019.
Im besten
Verbatim-Dokumentar-Stil verlief auch Shakespeare für Anna, eine
Produktion des Coliseum Arts Center Chisinău
(Republik Moldau). Basierend auf Interviews mit Inhaftierten in Frauen-,
Männer- und Minderjährigen-Gefängnissen, liefert Luminiţa Ţâcus Inszenierung
einen Panoramablick auf die brutale Welt des moldauischen ländlichen Raums,
der von Armut und Gewalt geprägt ist.
Mit der internationalen
Produktion
Birdie wurde eine offensichtliche Parallele zwischen Hitchcocks "Die
Vögel" und dem aktuellen Drama der Migranten gezeichnet. Poesie, Kreativität
und Originalität sind die "Waffen" der Theatergruppe Agrupaçion Señor
Serrano aus Barcelona. Die beeindruckenden Puppenspieler aus dem digitalen
Zeitalter manipulieren in Echtzeit Videoprojektionen, maßstabsgetreue
Modelle und Sounds.
Gemüse, Krokodile und anregender Gedankenaustausch
Ganz
in der Tradition des Jugendtheaters wurden auch die Kleinen in diesem Jahr
wieder mit hervorragenden Aufführungen beschenkt. Gemüse, eine
Eigenproduktion der Gastgeber, sprach über die Notwendigkeit, sich
gegenseitig zu respektieren. Eine gelbe Tomate, eine violette Kartoffel, ein
weißer Rettich, ein zu fetter Paprika sind Gemüse, die niemand haben will,
weil sie komisch ausschauen. Sie sind andauernd auf der Flucht und müssen
sich ständig verstecken, um nicht in die Käfige der Vorurteile gesperrt zu
werden. Auch Krokodil von Elise Wilk (eine Produktion des
Stadttheaters "Bacovia" Bacău)
behandelte das Anderssein. Die brillante Vertreterin der jungen
Dramatikergeneration, die sich für aktuelle gesellschaftliche Themen
interessiert, überrascht mit analytischem Denkvermögen sowie mit poetischen
Einlagen in einem eindrucksvollen Text über Bullying in der Schule und die
schwierige Lebensphase der Pubertät im Allgemeinen.
Doch hatte das Festival
noch viel mehr zu bieten. Filmprojektionen, Tanzaufführungen,
Buchpräsentationen und Workshops waren die perfekte Ergänzung für die
Besucher. Fortgesetzt wurde auch die Idee, Aufführungen in den benachbarten
Städten Târgu Neamţ
und Roman, in denen keine Theatereinrichtung vorhanden ist, zu zeigen. Vor
allem verstehen sich die Festspiele aber als "Treffpunkt für verschiedene
Generationen von Künstlern und Zuschauern sowie für Theaterleute aus
verschiedenen Teilen Europas". Dazu tragen die im Anschluss an jede
Vorstellung stattfindenden Publikumsgespräche maßgeblich bei.