Aus
der Vogelperspektive betrachtet offenbart sich
auf dem Bega-Kanal in Temeswar etwas Ungewöhnliches: Ein quadratischer "Kopf" mit riesigen "Ohren" und
unscheinbarem Körper gleitet über das Wasser. Was kann das sein? Ist es
vielleicht ein großer stilisierter Hund? Der Fantasie sind keine Grenzen
gesetzt. Beim näheren Hinsehen wird klar: Es handelt es sich um ein Tretboot
mit Seitenflügeln und Anhänger und um die jeweils darin wachsenden Pflanzenkulturen.
Die schwimmende Skulptur entpuppt sich als nachdenklich machende Allegorie
auf den Klimawandel. Common Dreams heißt die Performance, zu der
Maria Lucia Cruz Correia das Publikum einlädt. Eigentlich ist es jeweils nur ein
Zuschauer, der die portugiesische Künstlerin auf diese eindrucksvolle
Entdeckungsreise begleitet. In einer ausschließlich aus Wasser bestehenden
Welt fordert Correia den Teilnehmer auf, über Überlebensmöglichkeiten
nachzudenken, sich eine neue Gesellschaft vorzustellen, und eine utopische
Zukunft basierend auf Gleichheit und Respekt zu kreieren.
Vom Beobachter
zum Mitwirkenden
Solche
Eins-zu-eins-Begegnungen zählten zu den Neuheiten des Temeswarer
Euroregionalen Theaterfestivals (TESZT), das vom 21. bis 28. Mai stattfand.
Durch ihre ausgefallenen Konzepte schufen Künstler aus Polen, Spanien,
Österreich, Großbritannien, Portugal und Rumänien in Kunstgalerien,
Bibliotheksräumlichkeiten oder eben auf dem Bega-Kanal eine intime Atmosphäre und
provozierten zur Selbstreflexion. Denn die Rolle des Zuschauers wandelte
sich vom passiven Beobachter zum aktiven Mitwirkenden.
So etwa erwies sich auch
die Agency of Touch als außergewöhnliche Begegnung zwischen
"einem Paar Hände und einem Körper". Durch die Verwendung einer besonderen
Art von taktiler Behandlung rief Mădălina Dan in der mit geschlossenen Augen
daliegenden Person eine offenbare Vielzahl von Empfindungen hervor. Ähnlich
wie
Common Dreams, endete auch Agency of Touch damit, dass der
Teilnehmer eine Skizze seiner Erfahrungen auf Papier übertragen sollte, um
dadurch seine Wahrnehmungen auf eine bewusstere Ebene zu bringen.
In einer weiteren
Erfahrung begaben sich fünfzehn Zuschauer zusammen mit Janek Turkowski auf
eine gefühlvolle Reise in die Vergangenheit. Margarete zeigte stumme
Filmaufnahmen aus dem Leben fremder Personen. Die vom polnischen Künstler
auf einem Flohmarkt erworbenen Filmrollen deckten ein Jahrzehnt des Lebens
einer ursprünglich "unbekannten" Frau in den 60er Jahren der ehemaligen DDR
ab. In einer spannenden Erzählfolge schafft es Turkowski, immer mehr Details
über die Bildstreifen preiszugeben, auf denen gerade noch der Name von
Margarete Ruhbe entziffert werden kann. Dank seiner detektivischen
Fähigkeiten gelingt es ihm, die Protagonistin zuletzt in einem Altersheim in
Deutschland ausfindig zu machen und von ihr die Erlaubnis für die
Veröffentlichung des Archivmaterials zu bekommen. Turkowskis Ehrlichkeit,
seine behutsame Art, mit diesen Informationen umzugehen, vermittelten das
Gefühl eines berührenden Familientreffens.
Flucht und
Migration
In
krassem Gegensatz zu solchen von Utopie und Einfühlsamkeit geprägten
Produktionen standen jene, die die brutale Realität der Gegenwart in
ihren Fokus stellen. Ziel des 2008 vom Ungarischen Staatstheater gegründeten
Euroregionalen Theaterfestivals in Temeswar ist es, die Zusammenarbeit
zwischen den Theatern in der Region zu intensivieren. Ein nahe liegendes
Vorhaben,
betrachtet man die geographische Lage der Stadt im Westen Rumäniens, nur etwa
100 km von der ungarischen Grenze entfernt. Noch kürzer ist die Strecke von
Temeswar bis nach Serbien.
Um das Thema Migration
kreiste daher auch die Eröffnungsproduktion der diesjährigen zehnten
Jubiläumsausgabe des Festivals. EXIT entstand als Koproduktion
zwischen dem Klassischen Theater Arad
"Ioan Slavici"
(Rumänien), dem Nationaltheater Sombor (Serbien) und dem Veranstalter von
TESZT. In dem Stück des hochgelobten Regisseurs Árpád Schilling, das aus den
Improvisationsübungen der Schauspieler entwickelt wurde, sind zwölf aus
Osteuropa stammende Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben im
Westen. Nach ihrer Ankunft in Großbritannien sind sie in einem Gebäude
eingesperrt. Da die britischen Behörden ihre Freilassung auf unbestimmte
Zeit verschieben, machen die ursprünglich positiv gestimmten Migranten
zahlreiche Veränderungen durch. Am Ende geht es ums nackte Überleben. Árpád
Schilling verwendet weder Kostüme noch Bühnenbild. Die Schauspieler scheinen
verloren auf der riesigen schwarzen und leeren Bühne. Die kalte Ästhetik
ermöglicht es den Zuschauern, sich auf die Dialoge, die auf Ungarisch,
Rumänisch, Serbisch und Englisch gesprochen werden, zu konzentrieren. Dabei
wird der Text durch Übertitel verständlicher. Darüber hinaus wird die
Übersetzung in drei Sprachen geboten – eine gängige Praxis während des
gesamten Festivals. Tragisch und witzig zugleich glich
EXIT einem Spiegel unserer Gesellschaft, die in einen Prozess der
Entmenschlichung und zunehmenden geistigen Entfremdung getrieben wird.
Zum
gleichen Thema Migration zeigte die katalanische Gruppe Agrupación Señor
Serrano die Multimedia-Performance
Birdie. Ausgehend von einem Foto, auf dem zwei Leute entspannt beim
Golfspielen, weiter weg an einem Zaun aber auch undeutlich ein paar "Vögel"
zu erkennen sind, wird die Flüchtlingsproblematik ergründet. Bei dem Zaun
handelt es sich indes nicht um einen gewöhnlichen. Es ist der Grenzzaun
der spanischen Exklave Melilla an der Küste Afrikas. Aus der Nähe betrachtet
werden so aus den "Vögeln" schließlich Einwanderer, die die Sperranlage
hochgeklettert sind. Mit viel Genauigkeit und Geschick analysieren
Agrupación Señor Serrano das Bild und beweisen, dass jede Aufnahme
manipuliert werden kann, wenn man die Perspektive ändert. Die Künstler
bedienen sich einer spezialisierten Technik, um Fragmente von
Zeitungsausschnitten, Miniaturlandschaften, Live-Aufnahmen und alten Filmen
dazuzumischen. Hitchcocks legendärer Horror-Klassiker "Die Vögel" wird als
Widerspiegelung unserer Ängste herangezogen. Bemerkenswert auch das Ende:
Tausende Miniaturfiguren, die den Bühnenboden bedecken, um vor einer
Zerstörung der Zivilisation durch Noahs Sintflut zu warnen, werden durch ein
schwarzes Loch aus der Galaxie hinausgeschleudert. Eine hervorragend
durchdachte Inszenierung, die daran erinnert, dass es Migrationswellen
mindestens schon so lange gibt wie die Menschheit selbst. Zweifellos war
Birdie der unbestrittene Höhepunkt der diesjährigen Festspiele!
Darüber hinaus bot das vom
Intendanten Balázs Attila und dem künstlerischen Direktor Gálovits Zoltán
gestaltete Festival eine breite Palette an Theater- und Tanzproduktionen
sowie eine Reihe von Debatten, Künstlergesprächen und einen Workshop,
geleitet vom international bekannten bulgarischen Performer Ivo Dimchev, der mit
dem Live-Konzert Songs from my Shows den krönenden Abschluss der
Zusammenkunft gab. Ein vielversprechender Ansatz für Temeswar, designierte
Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2021.