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Kultureller Brückenschlag in Temeswar

Seit genau zehn Jahren nun bemüht sich das Temeswarer Euroregionale Theaterfestival
(TESZT), die Zusammenarbeit zwischen den Spielstätten in den angrenzenden Donauländern
zu intensivieren. Dass diesem Ansinnen auch heuer wieder voll entsprochen wurde, davon
zeugen das hohe Zuschauerinteresse sowie eine breite Palette innovativer und einfühlsamer
Theater- und Tanzproduktionen von internationalem Zuschnitt.

Von Irina Wolf
(07. 08. 2017)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.





(c) Nada Zgank

"Common Dreams"
(Regie:
Maria Lucia
Cruz Correia)





(c) Rafal Foremski

"Margarete"
(Regie:
Janek Turkowski)


 


(c) TESZT

"EXIT"
(Regie:
Árpád Schilling)


 


(c) Roger Costa Vendrell /
Pasqual Gorriz / Ariane
Cuminale

"Birdie"
(Regie:
Agrupación
Señor Serrano)

 

 

Linktipp
www.teszt.ro

   Aus der Vogelperspektive betrachtet offenbart sich auf dem Bega-Kanal in Temeswar etwas Ungewöhnliches: Ein quadratischer "Kopf" mit riesigen "Ohren" und unscheinbarem Körper gleitet über das Wasser. Was kann das sein? Ist es vielleicht ein großer stilisierter Hund? Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Beim näheren Hinsehen wird klar: Es handelt es sich um ein Tretboot mit Seitenflügeln und Anhänger und um die jeweils darin wachsenden Pflanzenkulturen. Die schwimmende Skulptur entpuppt sich als nachdenklich machende Allegorie auf den Klimawandel. Common Dreams heißt die Performance, zu der Maria Lucia Cruz Correia das Publikum einlädt. Eigentlich ist es jeweils nur ein Zuschauer, der die portugiesische Künstlerin auf diese eindrucksvolle Entdeckungsreise begleitet. In einer ausschließlich aus Wasser bestehenden Welt fordert Correia den Teilnehmer auf, über Überlebensmöglichkeiten nachzudenken, sich eine neue Gesellschaft vorzustellen, und eine utopische Zukunft basierend auf Gleichheit und Respekt zu kreieren.

Vom Beobachter zum Mitwirkenden

   Solche Eins-zu-eins-Begegnungen zählten zu den Neuheiten des Temeswarer Euroregionalen Theaterfestivals (TESZT), das vom 21. bis 28. Mai stattfand. Durch ihre ausgefallenen Konzepte schufen Künstler aus Polen, Spanien, Österreich, Großbritannien, Portugal und Rumänien in Kunstgalerien, Bibliotheksräumlichkeiten oder eben auf dem Bega-Kanal eine intime Atmosphäre und provozierten zur Selbstreflexion. Denn die Rolle des Zuschauers wandelte sich vom passiven Beobachter zum aktiven Mitwirkenden.

So etwa erwies sich auch die Agency of Touch als außergewöhnliche Begegnung zwischen "einem Paar Hände und einem Körper". Durch die Verwendung einer besonderen Art von taktiler Behandlung rief Mădălina Dan in der mit geschlossenen Augen daliegenden Person eine offenbare Vielzahl von Empfindungen hervor. Ähnlich wie Common Dreams, endete auch Agency of Touch damit, dass der Teilnehmer eine Skizze seiner Erfahrungen auf Papier übertragen sollte, um dadurch seine Wahrnehmungen auf eine bewusstere Ebene zu bringen.

In einer weiteren Erfahrung begaben sich fünfzehn Zuschauer zusammen mit Janek Turkowski auf eine gefühlvolle Reise in die Vergangenheit. Margarete zeigte stumme Filmaufnahmen aus dem Leben fremder Personen. Die vom polnischen Künstler auf einem Flohmarkt erworbenen Filmrollen deckten ein Jahrzehnt des Lebens einer ursprünglich "unbekannten" Frau in den 60er Jahren der ehemaligen DDR ab. In einer spannenden Erzählfolge schafft es Turkowski, immer mehr Details über die Bildstreifen preiszugeben, auf denen gerade noch der Name von Margarete Ruhbe entziffert werden kann. Dank seiner detektivischen Fähigkeiten gelingt es ihm, die Protagonistin zuletzt in einem Altersheim in Deutschland ausfindig zu machen und von ihr die Erlaubnis für die Veröffentlichung des Archivmaterials zu bekommen. Turkowskis Ehrlichkeit, seine behutsame Art, mit diesen Informationen umzugehen, vermittelten das Gefühl eines berührenden Familientreffens.

Flucht und Migration

   In krassem Gegensatz zu solchen von Utopie und Einfühlsamkeit geprägten Produktionen standen jene, die die brutale Realität der Gegenwart in ihren Fokus stellen. Ziel des 2008 vom Ungarischen Staatstheater gegründeten Euroregionalen Theaterfestivals in Temeswar ist es, die Zusammenarbeit zwischen den Theatern in der Region zu intensivieren. Ein nahe liegendes Vorhaben, betrachtet man die geographische Lage der Stadt im Westen Rumäniens, nur etwa 100 km von der ungarischen Grenze entfernt. Noch kürzer ist die Strecke von Temeswar bis nach Serbien.

Um das Thema Migration kreiste daher auch die Eröffnungsproduktion der diesjährigen zehnten Jubiläumsausgabe des Festivals. EXIT entstand als Koproduktion zwischen dem  Klassischen Theater Arad "Ioan Slavici" (Rumänien), dem Nationaltheater Sombor (Serbien) und dem Veranstalter von TESZT. In dem Stück des hochgelobten Regisseurs Árpád Schilling, das aus den Improvisationsübungen der Schauspieler entwickelt wurde, sind zwölf aus Osteuropa stammende Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben im Westen. Nach ihrer Ankunft in Großbritannien sind sie in einem Gebäude eingesperrt. Da die britischen Behörden ihre Freilassung auf unbestimmte Zeit verschieben, machen die ursprünglich positiv gestimmten Migranten zahlreiche Veränderungen durch. Am Ende geht es ums nackte Überleben. Árpád Schilling verwendet weder Kostüme noch Bühnenbild. Die Schauspieler scheinen verloren auf der riesigen schwarzen und leeren Bühne. Die kalte Ästhetik ermöglicht es den Zuschauern, sich auf die Dialoge, die auf Ungarisch, Rumänisch, Serbisch und Englisch gesprochen werden, zu konzentrieren. Dabei wird der Text durch Übertitel verständlicher. Darüber hinaus wird die Übersetzung in drei Sprachen geboten – eine gängige Praxis während des gesamten Festivals. Tragisch und witzig zugleich glich EXIT einem Spiegel unserer Gesellschaft, die in einen Prozess der Entmenschlichung und zunehmenden geistigen Entfremdung getrieben wird.

   Zum gleichen Thema Migration zeigte die katalanische Gruppe Agrupación Señor Serrano die Multimedia-Performance Birdie. Ausgehend von einem Foto, auf dem zwei Leute entspannt beim Golfspielen, weiter weg an einem Zaun aber auch undeutlich ein paar "Vögel" zu erkennen sind, wird die Flüchtlingsproblematik ergründet. Bei dem Zaun handelt es sich indes nicht um einen gewöhnlichen. Es ist der Grenzzaun der spanischen Exklave Melilla an der Küste Afrikas. Aus der Nähe betrachtet werden so aus den "Vögeln" schließlich Einwanderer, die die Sperranlage hochgeklettert sind. Mit viel Genauigkeit und Geschick analysieren Agrupación Señor Serrano das Bild und beweisen, dass jede Aufnahme manipuliert werden kann, wenn man die Perspektive ändert. Die Künstler bedienen sich einer spezialisierten Technik, um Fragmente von Zeitungsausschnitten, Miniaturlandschaften, Live-Aufnahmen und alten Filmen dazuzumischen. Hitchcocks legendärer Horror-Klassiker "Die Vögel" wird als Widerspiegelung unserer Ängste herangezogen. Bemerkenswert auch das Ende: Tausende Miniaturfiguren, die den Bühnenboden bedecken, um vor einer Zerstörung der Zivilisation durch Noahs Sintflut zu warnen, werden durch ein schwarzes Loch aus der Galaxie hinausgeschleudert. Eine hervorragend durchdachte Inszenierung, die daran erinnert, dass es Migrationswellen mindestens schon so lange gibt wie die Menschheit selbst. Zweifellos war Birdie der unbestrittene Höhepunkt der diesjährigen Festspiele!

Darüber hinaus bot das vom Intendanten Balázs Attila und dem künstlerischen Direktor Gálovits Zoltán gestaltete Festival eine breite Palette an Theater- und Tanzproduktionen sowie eine Reihe von Debatten, Künstlergesprächen und einen Workshop, geleitet vom international bekannten bulgarischen Performer Ivo Dimchev, der mit dem Live-Konzert Songs from my Shows den krönenden Abschluss der Zusammenkunft gab. Ein vielversprechender Ansatz für Temeswar, designierte Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2021.

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