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Turin in Festkleidung: Zehn gute Gründe um dabei zu sein!

Vierundzwanzig Produktionen, einundsechzig Vorstellungen, davon acht Erstaufführungen,
neunzehn Tage volles Programm. So zeigte sich heuer das Turiner Festival
delle Colline Torinesi
in seiner vierundzwanzigsten Auflage.

Von Irina Wolf
(15. 07. 2019)

...



Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

 



(c) Andrea Macchia

"Medea per Strada"
(Regie: Gianpiero Borgia)


 




(c) Fabio Lovino

"Illegal Helpers"
(Regie: Paola Rota u.a.)


 


(c) festivaldellecolline.it

"Der Finger"
(Regie: Leonardo Lidi)

 



(c) Gregory Batardon

"Rip it up and start again"
(Regie: Enrico Casagrande
und Daniela Nicolò
)

 

 

 

Linktipp
www.festivaldellecolline.it
 

   "Strömungen, Deklinationen der Reisen" (Fluctus, declinazioni del viaggio), so lautete das Motto der diesjährigen Festspiele, die vom 2. bis zum 22. Juni stattgefunden haben. Es gibt viele Gründe, weswegen man das Festival delle Colline Torinesi besuchen sollte. Hier kommen zehn davon, die vielleicht die Neugierde für die nächsten Jahre wecken werden.

1) Neue Theaterformen entdecken

"Torino creazione contemporanea" – der Untertitel des Festivals deutet auf sein Bestreben hin, die aktuellsten zeitgenössischen Werke zu zeigen.

2) Im Einklang mit dem Motto

Sieben Passagiere in einem sehr alten weißen Lieferwagen (Baujahr 1994!), der durch die Straßen einer eher schlechten Turiner Wohngegend fährt. Ein fieser Abgasgeruch im Innenraum. Irgendwann steigt noch eine achte Person dazu. Es ist eine aus Rumänien nach Italien eingewanderte Frau auf der Suche nach einem besseren Leben, das jedoch in der Prostitution endete. Medea per Strada heißt die Performance, die das Schicksal einer der vielen Frauen aus Osteuropa oder Afrika erzählt. Elena Cotugnos Monolog entpuppt sich als freies Neuschreiben des Medea-Mythos. Besonders lebendig wird dieses Stück durch die großartige Interaktion der Schauspielerin mit den sieben Zuschauern. Die Produktion des Teatro del Borgia basiert auf umfangreichen jahrelangen Recherchen, die in der außergewöhnlich kleinen und doch so wichtigen Broschüre, die jeder Reisende am Ende der Aufführung erhält, dokumentiert sind.

3) Gespür für brisante aktuelle soziale Themen

Migration ist eines der unumgänglichen Themen der Gegenwart. Kein Wunder, dass es auch im Fokus der Performance-Installation Illegal Helpers stand. Das von Paola Rota, Simonetta Solder und Theo Teardo initiierte Projekt basiert auf dem Roman "Der längste Sommer in Europa" von Margarethe (Maxi) Obexer. Darin vereint die aus Südtirol stammende Schriftstellerin Interviews, die sie in vier europäischen Grenzgebieten geführt hat. Zwei Stimmen werden in den Kopfhörern, die die Zuschauer am Saaleingang erhalten, abgespielt. Der Text pendelt zwischen den Geschichten von "illegalen Helfern" und Passagen aus dem Rückführungsabkommen von Migranten im Rahmen der Dublin-Verordnung. Durch die blauen, hell erleuchteten Lämpchen der eingeschalteten Kopfhörer herrscht im dunklen Raum eine gewisse Komplizenschaft zwischen den Zuschauern. Erst wenn das Publikum eingeladen wird, sich in den Vorhof des Gebäudes zu begeben, tritt ein allgemeines Gefühl der Befreiung ein.

4) Erstaufführungen

Isabella Lagatolla und Sergio Ariotti, die charismatischen Direktoren des Festivals, haben seit eh und je ein besonderes Augenmerk auf die jüngere Generation gelegt. So widmete sich in diesem Jahr Leonardo Lidi, Gewinner des Wettbewerbs "Regisseure unter 30 Jahren" der Biennale von Venedig 2017, einem Text der kosovarischen Autorin Doruntina Basha (Der Finger). In einem minimalistischen Bühnenbild, mit nur ein paar Sesseln, agieren vier Schauspielerinnen. Die Geschichte von zwei Frauen aus zwei verschiedenen Generationen, die mit Trauer zu kämpfen haben, wird nur ab und zu von einem geschickt geschwungenen Kung-Fu-Schwert unterbrochen.

5) Das Künstlerzeichen

Ebenfalls aus dem Kosovo stammte Petrit Halilaj. Dem bildenden Künstler gebührte die Ehre, das "Künstlerzeichen" des Festivals zu erschaffen.

6) Förderung junger Künstler(gruppen)

Das Festivalsegment, das der in Turin tätigen jungen Gruppen gewidmet ist, rückte diesmal die Piccola Compagnia della Magnolia in den Vordergrund, die sich mit dem Text Mater Dei von Massimo Sgorbani auseinandersetzte. Für 2020 ist schon eine Fortsetzung geplant. Weitere lokale Künstler waren La Ballata del Lenna, das Cubo-Theater, Asterlizze di Alba Porto. Unter den vorgeschlagenen Werken führte Libia. Back Home auf eine Entdeckungsroute durch das heutige Libyen. Tito, Ruins of Europe hingegen erwies sich als eine Reise durch die europäischen Ruinen von Berlin, Dresden, Warschau, Buchenwald und Teufelsberg.

7) Die beeindruckende internationale Programmschiene

Unter den ausländischen Produktionen befanden sich Agrupación Señor Serrano (mit Kingdom) und El Conde de Torrefiel (mit La Plaza, eine Produktion, die 2018 bei den Wiener Festwochen gezeigt wurde), beide aus Katalonien, sowie Violetta Louise vom Greck Festival (mit der multimedialen musikalischen Produktion Strange Tales).

8) Hommage an drei italienische, weltweit bekannte Künstlergruppen

Eine Hommage wurde den drei italienischen Gruppen erwiesen, die zur Bekanntmachung des Festivals in Europa beigetragen haben. Pippo Delbono und Societas Raffaello Sanzio (Chiara Guidi und Claudia Castellucci) hatten die Ehre, die Veranstaltungsreihe zu eröffnen. Dagegen durfte Motus (Enrico Casagrande und Daniela Nicolò) mit Rip it up and start again die Festspiele abschließen. Ziel dieser Show war es, die utopischen Impulse der bekannten Post-Punk-Musikbewegung der 1980er Jahre zu identifizieren, um einer mediengetriebenen Zukunft entgegenzuwirken. Die Produktion wurde mit fünfzehn Studenten der Lausanner Manufacture-Haute École des Arts de la Scène entwickelt. Die Karaoke-Konzert-Performance besticht durch die ansteckende Energie der Jugendlichen als Beweis der echten Freude, mit dem sie sich diesem Projekt hingegeben haben.

9) Weil die Filmschiene des Festivals jedes Jahr gut durchdacht ist

"Kino auf der Bühne" – so die von Stefano Boni und Grazia Paganelli kuratierte Filmschiene. Durch die Kooperation mit dem Nationalen Kinomuseum wurden in einer Michelangelo Antonioni gewidmeten Retrospektive nicht weniger als sieben Filme gezeigt.

10) Neue Menschen kennenlernen, Zeit mit den Künstlern verbringen

Natürlich konnten auch Publikumsgespräche nicht fehlen. In der von Laura Bevione kuratierten Programmschiene "Eine halbe Stunde mit..." wird die halbe Stunde exakt unter Zuhilfenahme einer Küchenuhr eingehalten.

Man kann gar nichts dagegen tun: Man lernt auf Festivals immer neue Leute kennen. Nichts schweißt so sehr zusammen und erschafft so viele gemeinsame Erinnerungen. Und das ist der Fall beim Festival delle Colline Torinesi. Es gibt nichts besseres als ein "Abendessen" um ein Uhr früh mit den Festivaldirektoren und den Künstlern, bei dem man Zeit findet, sich gegenseitig über das Theaterleben upzudaten.

Und – überzeugt? Welche Gründe lassen sich noch finden?

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