"Strömungen,
Deklinationen der Reisen" (Fluctus, declinazioni del viaggio), so
lautete das Motto
der diesjährigen Festspiele, die vom 2. bis zum 22. Juni stattgefunden
haben. Es gibt viele Gründe, weswegen man das Festival delle Colline
Torinesi besuchen sollte. Hier kommen zehn davon, die vielleicht die
Neugierde für die nächsten Jahre wecken werden.
1) Neue Theaterformen entdecken
"Torino creazione contemporanea" – der Untertitel des
Festivals deutet auf sein Bestreben hin, die aktuellsten zeitgenössischen
Werke zu zeigen.
2) Im Einklang mit dem Motto
Sieben Passagiere in einem sehr alten weißen Lieferwagen
(Baujahr 1994!), der durch die Straßen einer eher schlechten Turiner
Wohngegend fährt. Ein fieser Abgasgeruch im Innenraum. Irgendwann steigt
noch eine achte Person dazu. Es ist eine aus Rumänien nach Italien
eingewanderte Frau auf der Suche nach einem besseren Leben, das jedoch in
der Prostitution endete. Medea per Strada heißt die Performance, die
das Schicksal einer der vielen Frauen aus Osteuropa oder Afrika erzählt.
Elena Cotugnos Monolog entpuppt sich als freies Neuschreiben des
Medea-Mythos. Besonders lebendig wird dieses Stück durch die großartige
Interaktion der Schauspielerin mit den sieben Zuschauern. Die Produktion des
Teatro del Borgia basiert auf umfangreichen jahrelangen Recherchen, die in
der außergewöhnlich kleinen und doch so wichtigen Broschüre, die jeder
Reisende am Ende der Aufführung erhält, dokumentiert sind.
3) Gespür für brisante aktuelle soziale
Themen
Migration ist eines der unumgänglichen
Themen der Gegenwart. Kein Wunder, dass es auch im Fokus der
Performance-Installation Illegal Helpers stand. Das von Paola Rota,
Simonetta Solder und Theo Teardo initiierte Projekt basiert auf dem Roman
"Der längste Sommer in Europa" von Margarethe (Maxi) Obexer. Darin vereint
die aus Südtirol stammende Schriftstellerin Interviews, die sie in vier
europäischen Grenzgebieten geführt hat. Zwei Stimmen werden in den Kopfhörern, die die
Zuschauer am Saaleingang erhalten, abgespielt. Der Text pendelt zwischen den
Geschichten von "illegalen Helfern" und Passagen aus dem
Rückführungsabkommen von Migranten im Rahmen der Dublin-Verordnung. Durch
die blauen, hell erleuchteten Lämpchen der eingeschalteten Kopfhörer herrscht
im dunklen Raum eine gewisse Komplizenschaft zwischen den Zuschauern. Erst
wenn das Publikum eingeladen wird, sich in den Vorhof des Gebäudes zu
begeben, tritt ein allgemeines Gefühl der Befreiung ein.
4) Erstaufführungen
Isabella Lagatolla und Sergio Ariotti, die
charismatischen Direktoren des Festivals, haben seit eh und je ein
besonderes Augenmerk auf die jüngere Generation gelegt. So widmete sich in
diesem Jahr Leonardo Lidi, Gewinner des Wettbewerbs "Regisseure unter 30
Jahren" der Biennale von Venedig 2017, einem Text der kosovarischen Autorin
Doruntina Basha (Der Finger). In einem minimalistischen Bühnenbild,
mit nur ein paar Sesseln, agieren vier Schauspielerinnen. Die Geschichte von
zwei Frauen aus zwei verschiedenen Generationen, die mit Trauer zu kämpfen
haben, wird nur ab und zu von einem geschickt geschwungenen Kung-Fu-Schwert
unterbrochen.
5) Das Künstlerzeichen
Ebenfalls aus dem Kosovo stammte Petrit Halilaj. Dem
bildenden Künstler gebührte die Ehre, das "Künstlerzeichen" des Festivals zu
erschaffen.
6) Förderung junger Künstler(gruppen)
Das Festivalsegment, das der in Turin tätigen jungen Gruppen
gewidmet ist, rückte diesmal die Piccola Compagnia della Magnolia in den
Vordergrund, die sich mit dem Text Mater Dei von Massimo Sgorbani
auseinandersetzte. Für 2020 ist schon eine Fortsetzung geplant. Weitere
lokale Künstler waren La Ballata del Lenna, das Cubo-Theater, Asterlizze di
Alba Porto. Unter den vorgeschlagenen Werken führte Libia. Back Home
auf eine Entdeckungsroute durch das heutige Libyen. Tito, Ruins of Europe
hingegen erwies sich als eine Reise durch die europäischen Ruinen von
Berlin, Dresden, Warschau, Buchenwald und Teufelsberg.
7) Die beeindruckende internationale
Programmschiene
Unter den ausländischen Produktionen befanden sich
Agrupación Señor Serrano (mit Kingdom) und El Conde de Torrefiel (mit
La Plaza, eine Produktion, die 2018 bei den Wiener Festwochen gezeigt
wurde), beide aus Katalonien, sowie Violetta Louise vom Greck Festival (mit
der multimedialen musikalischen Produktion Strange Tales).
8) Hommage an drei italienische, weltweit
bekannte Künstlergruppen
Eine Hommage wurde den drei italienischen Gruppen
erwiesen, die zur Bekanntmachung des Festivals in Europa beigetragen haben.
Pippo Delbono und Societas Raffaello Sanzio (Chiara Guidi und Claudia
Castellucci) hatten die Ehre, die Veranstaltungsreihe zu eröffnen. Dagegen
durfte Motus (Enrico Casagrande und Daniela Nicolò) mit Rip it up and
start again die Festspiele abschließen. Ziel dieser Show war es, die
utopischen Impulse der bekannten Post-Punk-Musikbewegung der 1980er Jahre zu
identifizieren, um einer mediengetriebenen Zukunft entgegenzuwirken. Die
Produktion wurde mit fünfzehn Studenten der Lausanner Manufacture-Haute
École des Arts de la Scène entwickelt. Die Karaoke-Konzert-Performance
besticht durch die ansteckende Energie der Jugendlichen als Beweis der
echten Freude, mit dem sie sich diesem Projekt hingegeben haben.
9) Weil die Filmschiene des Festivals jedes Jahr gut durchdacht ist
"Kino auf der Bühne" – so die von Stefano Boni und Grazia
Paganelli kuratierte Filmschiene. Durch die Kooperation mit dem Nationalen
Kinomuseum wurden in einer Michelangelo Antonioni gewidmeten Retrospektive
nicht weniger als sieben Filme gezeigt.
10) Neue Menschen kennenlernen, Zeit mit
den Künstlern verbringen
Natürlich konnten auch Publikumsgespräche nicht fehlen.
In der von Laura Bevione kuratierten Programmschiene "Eine halbe Stunde
mit..." wird die halbe Stunde exakt unter Zuhilfenahme einer Küchenuhr
eingehalten.
Man kann gar nichts dagegen tun: Man lernt auf Festivals
immer neue Leute kennen. Nichts schweißt so sehr zusammen und erschafft so
viele gemeinsame Erinnerungen. Und das ist der Fall beim Festival delle
Colline Torinesi. Es gibt nichts besseres als ein "Abendessen" um ein Uhr
früh mit den Festivaldirektoren und den Künstlern, bei dem man Zeit findet,
sich gegenseitig über das Theaterleben upzudaten.
Und – überzeugt? Welche Gründe lassen sich noch finden?