Leergefegt, still und sauber –
so mein erster Eindruck von Venedig an einem Samstag Mitte September. Der
Blick von der Rialtobrücke inmitten der Coronakrise offenbart einen
Canal Grande, auf dem nur zwei Vaporetti und eine Gondel zu sehen sind.
Abgesehen von der allgemeinen Leere gilt in den Innenräumen Maskenpflicht,
an den Eingängen stehen Spender mit Desinfektionsmitteln. Außerdem
wird die Temperatur gemessen. So das Verfahren bei den Sehenswürdigkeiten
und vor den Theatereingängen. Zudem verbleibt im Theatersaal jeweils ein
freier Sitzplatz als Sicherheitsabstand zwischen den Besuchern. Anders als
in Österreich herrscht in Italien Maskenpflicht auch während der Vorstellung
und das wird sehr streng kontrolliert. Es kommt nicht selten vor, dass die
Platzanweiserinnen die Reihen während der Aufführung durchqueren, um säumige
Zuschauer auf ihre heruntergerutschte Gesichtsmaske aufmerksam zu
machen.
Ungeachtet der Corona-bedingten Maßnahmen hinterließ die
diesjährige Theaterbiennale bei mir einen außerordentlich guten Eindruck.
Nachdem die drei vorangegangenen, von Antonio Latella kuratierten Treffen
den internationalen Regisseuren, Schauspielern und Dramatikern gewidmet
waren, fand die heurige 48. Ausgabe unter dem Motto "Atto
quarto: Nascondi(no)" (Vierter Akt:
Verstecken bzw. Versteckspiel) statt. Passend dazu erwies sich Jacobo Salvis
wunderschönes Schwarzweißfoto, das den 700-seitigen Band der Biennale
Teatro 2020 eröffnete: Das Kind, das sich an eine Säule lehnt und die Augen
zuhält, erinnert an das Versteckspiel.
Mit den Augen eines Kindes
in die Welt zu blicken, dieses Erlebnis bot Regisseur
und Kurator Latella auch den Zuschauern in der einzigartigen Lagunenstadt: "Mein Wunsch war es, junge italienische Künstler
in dieser Festivalauflage in den Vordergrund zu stellen und ans Licht zu
bringen", bekannte der scheidende künstlerische Leiter. Dementsprechend
selbstsicher traten
die im neuen Jahrtausend gegründeten, unabhängigen Theatergruppen auf,
welche
sich in ihren Spielformen besonders dem Experiment verschrieben haben: Industria
Indipendente – ein Kollektiv für darstellende und
bildende Kunst; Babilonia Teatri – Gewinner des
Silbernen Löwen auf der Biennale Teatro 2016; Nina's Drag Queens – männliche Anbieter von ironischen
Neuinterpretationen der Klassiker in Frauenkleidung, und UnterWasser – ein ausschließlich weibliches Trio, das
"mobile Installationen"
kreiert. Für Faszination und Staunen sorgten unter anderem Leonardo Lidi,
Fabio Condemi, Leonardo Manzan, Giovanni Ortoleva und Martina Badiluzzi,
viele von ihnen Regisseure, die aus dem Biennale College Teatro hervorgegangen sind, ein 2012 ins Leben
gerufenes Workshop-Programm, mit dem junge Kunstschaffende unter dreißig
gefördert werden.
Vom Schattenspiel über One-Man-Shows bis hin zu
Theater via WhatsApp
Vom 14. bis 25. September wurden insgesamt 28
Weltpremieren gezeigt, die sich ausschließlich mit einem von Latella vorgegebenen
Thema befassten: der Zensur. Das üppige Festivalprogramm umfasste inhaltlich
wie formal sehr unterschiedliche Arbeiten: Inspiriert von der titelgebenden
japanischen Weltmeisterin Nanami Nagura, handelte etwa Antonio Ianniellos fast
nonverbale One-Man-Show Nanaminagura von den
Luftgitarren-Wettbewerben. Ebenso wortkarg verlief Eine große Sache
(Una cosa enorme) von Fabiana Iacozzilli. Unterstützt von einer guten
Dramatik, untersuchte sie in einer kraftvollen visuellen Darstellung das
Thema des Mutterseins.
Eine Veranschaulichung unserer inneren Dämonen und
Abwehrmechanismen bot das UnterWasser-Kollektiv in Unsagbar (Untold).
Mit einem meisterhaften Dialog zwischen Objekten und ihren eigenen Körpern
erschufen die drei Darstellerinnen kurze Geschichten. Die dadurch
entstandenen und auf der Rückwand des Theaters projizierten Orte, Figuren
und Räumlichkeiten ergaben ein filigranes, mit viel Liebe zum Detail
gestaltetes Schattenspiel.
Zur
Aufführung kamen auch eine Konzertshow, klassisches Erzähltheater
sowie einige starke, emotional bewegende autobiografische Arbeiten. Manche Künstler ließen sich von
historischen Persönlichkeiten inspirieren. So zum Beispiel Regisseur Pablo
Solari, der in Amerikanisches Geständnis (Una Storia Americana) die
kontroverse und kompromissvolle Lebensgeschichte von Elia Kazan erzählt.
Daniele Bartolini widmete sich in Der richtige Weg (The right Way)
den negativen Auswirkungen politischer Korrektheit. Der Künstler, der sieben
Jahre lang in Kanada gelebt hat, zeichnet verantwortlich für Konzept und
Regie. Zudem tritt er selbst mittels VR-Brille auf. Seine nur
zwanzigminütige Produktion verlangt die aktive Beteiligung jeweils eines
einzigen Zuschauers, dem die Rolle des Regisseurs zugewiesen wird. Dessen
Aufgabe lautet, eine Szene zwischen einem älteren Paar, das Adam und Eva
spielt, zu
inszenieren. Bartolinis provokative Performance wirft inspirierende Fragen
auf.
Auch andere gezeigte Werke bezogen sich
auf die im Festivaltitel angesprochene Zensur: Ursprünglich hätte Stilleben (Natura
morta) eine Kindergruppe auf die Bühne bringen sollen. Nachdem die Pandemie
dies aber verhinderte, beschlossen die zwei Gründer von Babilonia Teatri,
Valeria Raimondi und Enrico Castellani, die Bühne völlig leer zu lassen.
Stillleben ist also der Versuch, die vom Coronavirus blockierte Theaterszene
in den Vordergrund zu stellen. Das Besondere an dem Konzept ist, dass die 74
im Kreis sitzenden Zuschauer den vom Künstlerduo zugespielten Text
über WhatsApp mitverfolgen können. Technische Schwierigkeiten haben bei der
Premiere leider verhindert, dass sich das Publikum an dem
Nachrichtenaustausch beteiligen konnte. Dennoch bleibt der von Babilonia
Teatri ins Leben gerufene Ansatz originell, spiegelt er doch jene Art von Zensur
wider, die wir uns während des Lockdowns zu unserer eigenen Sicherheit
auferlegt haben.
Klassiker ins Heute transportiert: beeindruckendes
Sprechtheater
Zu meinen Lieblingsproduktionen gehört Leonardo Lidis
Adaption von Gabriele D'Annunzios Die tote Stadt (La città morta).
Der Protagonist Leonardo ist ein Archäologe, der in den Ruinen von Mykene
gräbt. Seine Frau Anna ist blind. Als sich der Vorhang öffnet, hört sie
Leonardos Schwester Bianca Maria zu, die Passagen aus Antigone liest. Der
Dichter Alessandro (den Lidi in Gabriele umbenennt und somit die Verbindung
zu D'Annunzio herstellt), ein Freund von Leonardo, ist in Bianca Maria
verliebt. Aber auch Bianca Marias Bruder Leonardo hegt solche Sehnsüchte
seiner eigenen Schwester gegenüber. Gekonnt umschreibt D'Annunzio die
griechischen Tragödien von Antigone, Iphigenie und Cassandra, die über
Inzest und Mord berichten. Der 32-jährige Lidi versetzt den 1896 entstandenen
Text ins Heute. Das Bühnenbild zeigt die Tribünen eines Sportplatzes.
Hingegen erinnern die Lieder von Bobby Solo, Little Tony und Salvatore Adamo
an die sechziger Jahre. Gegenwart und Vergangenheit fügen sich zu einem
ausgewogenen Ganzen zusammen. Die drei Darsteller, die sich in allen fünf
von D'Annunzio vorgesehenen Rollen abwechseln, liefern eine bemerkenswerte
schauspielerische Leistung. Sprachgewaltige Ausbrüche wechseln sich mit
poetischen Monologen ab. Intelligent, humorvoll und intensiv wirkt Lidis
Konzept.
Auch Giovanni Ortoleva hat seine Inspiration bei einem
"skandalösen" Autor gefunden. 1975 geschrieben und
erst 34 Jahre später in Deutschland inszeniert, war Fassbinders Der Müll,
die Stadt und der Tod (I rifiuti, la città e la morte) einer der
aufsehenerregendsten Fälle von Zensur. Im Mittelpunkt des Werkes befindet
sich Roma, eine Prostituierte, die von ihrem Partner Franz ausgebeutet wird.
Das Leben der Frau ändert sich, als sie den Schutz eines reichen jüdischen
Bauspekulanten zu genießen beginnt. Damit wird aber auch das Gleichgewicht
der Stadt zerstört. Ortoleva sieht darin "die
Geschichte einer modernen Passion Christi". Der
29-jährige Regisseur stellt (wortwörtlich) die Charaktere in den Hintergrund
und lässt sie nur entlang eines Modenschau-Laufstegs auftreten. Die Rolle
des Erzählers ist dem an der Rampe stehenden Kleinen Prinzen anvertraut.
Auch in dieser Produktion spielen die Schauspieler gleich mehrere
Rollen. Die Sprache, die Bewegungen, alles ist bewusst übertrieben, und doch
wirkt es zu unnatürlich.
Mehrere Regisseure nahmen sich etablierte Klassiker als
Ausgangspunkt für ihre eigenen zeitgenössischen Arbeiten. In Die
Leopardinnen (Die letzte Feier vor dem Weltende) lassen sich Nina's Drag
Queens von Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman "Der
Leopard" inspirieren, um die Unabänderlichkeit der
Machtverhältnisse zu überdenken und Italien in den wirtschaftlichen
Aufschwung der 1960er-Jahre zu versetzen.
Bemerkenswert fand ich auch Liv
Ferracchiatis Neuinterpretation von Tschechows erstem Stück "Platonow". Die
Tragödie ist beendet, Platonow lässt den Beziehungskonflikt zwischen dem
versoffenen Dorfschullehrer und den vier Frauen, die ihn vergöttern, auf der
leeren Bühne in einer Art Ring stattfinden. Überraschenderweise befindet
sich der Regisseur selbst außerhalb der Arena. In bürgerlicher Kleidung,
übernimmt er eine selbstreflexive Rolle und kommentiert das Geschehen.
Ferracchiati ist das Spiegelbild Platonows, mit dem er letztendlich die
Plätze tauscht. Bewusst macht der Regisseur Tschechows Text zu seinem
eigenen. Entsprechend seiner Biografie huldigt er auf amüsante Art dem Sein
und Nicht-Sein, eine Frau zu sein und ein Mann sein zu wollen. Das Ergebnis
wirkt frisch, rhythmisch und gut orchestriert (wenn man von ein paar
unnötigen Längen absieht).
Für
seine Platonov-Interpretation hat Liv Ferracchiati eine "besondere Erwähnung" der vierköpfigen
internationalen Jury erhalten, welche heuer erstmals von Antonio Latella einberufen wurde.
Den Hauptpreis gewann mit Glory Wall der erst 28-jährige Leonardo
Manzan. Das von Manzan gemeinsam mit Rocco Placidi
geschriebene Stück konfrontiert das Publikum "mit
einer weißen Wand, die den Blick auf die Bühne versperrt, und spielt auf
sehr intelligente, ironische und humorvolle Weise mit den Ideen, sich
selbst, andere und die schwindende Bedeutung des Theaters zu zensieren", heißt es in der Presseaussendung der Biennale.