Niemandssprache, Niemandsland
Jiddisch is hefker: Jiddisch ist herrenlos; Jiddisch ist Niemandssprache, Niemandsliteratur, Niemandswelt.
Mehr als zehn Jahre hat Efrat Gal-Ed an der Biografie »Niemandssprache« über Itzik Manger gearbeitet: Knapp 800 Seiten sind das Resultat ihrer Nachforschungen in Czernowitz, Jerusalem, London, New York und Warschau, die der Suhrkamp Verlag Anfang diesen Jahres sorgfältig arrangiert herausgebracht hat. Ein ziemlich umfangreiches, aber sehr lesenswertes Werk, soviel sei vorab gesagt.
Efrat Gal-Ed Niemandssprache - Itzik Manger – ein europäischer Dichter, Suhrkamp 2016
Die Judaistin hat sich im Laufe der Jahre von Freunden und Wegbegleitern des Dichters Anekdoten und Begebenheiten erzählen lassen, um Itzik Mangers Leben fragmentarisch nachzeichnen zu können. Entstanden ist eine fulminante Biografie des Dichters, die mit erstmals veröffentlichtem Bildmaterial arbeitet und grafische Anordnungen unterschiedlicher Textarten klug durchspielt. Zwei biografische »Stimmen« ziehen sich durch das Buch, ermöglichen dem Leser verschiedene Lesarten und ignorieren gewohnt chronologische Darstellungen mit großem Mehrwert; auch wenn man sich innerhalb der Anordnung erstmal ein wenig einfinden muss. Der Aufbau ist zu großen Teilen einer Talmud-Seite nachempfunden: Der Haupttext ist in der Mitte platziert; Kommentare, Erläuterungen und Fußnoten sind in einer anderen Schriftart als Spalten gesetzt. Mosaikähnlich ergibt sich so aus Bildmaterial, biografischen Erzählungen und Kommentaren ein dichtes Geflecht aus Leben und Werk, das je nach Lesart variiert und andere Schwerpunkte setzt.
Dass es Efrat Gal-Ed aber nicht nur um die Nacherzählung eines Dichterlebens geht, wird schnell klar. Im Fokus der Biografie steht auch die Verortung des Jiddischen in der europäischen Kultur, seine Bedeutung als Sprache und als Identifikationsmoment einer Minderheit. Neben Familienporträts und Städtebildern sind Itzik Mangers erste Notizhefte und handschriftliche Gedichtentwürfe abgebildet, sodass sich von Beginn an nahezu intime Einblicke in Mangers Schreibprozesse eröffnen, die Entscheidung für die jiddische Sprache sukzessive sichtbar machen. Immer wieder schwingt in den Seiten das umsichtige Heraufbeschwören einer verlorenen Kultur mit, die in Itzik Manger und seinen Balladen einen ihrer großen Repräsentanten gefunden hatte. Sei es in der Begegnung mit anderen Dichtern, in der Publikationsgeschichte der ersten Bände oder in der Beschreibung jener Orte, in denen das Jiddische beheimatet war. Mit »Niemandssprache« liefert Efrat Gal-Ed so eine beeindruckende Kulturgeschichte des Jiddischen, das sich bis zu seiner Auslöschung durch die Nationalsozialisten als integraler Bestandteil der europäischen Kultur verstanden hat.
1901 wird Itzik in Czernowitz geboren, also in jener Stadt, in der Rose Ausländer, Paul Celan und Selma Meerbaum-Eisinger zuhause sind, die unterschiedlichste Sprachen und Kulturen in sich vereint und die durch das ostgalizische Schtetltum charakterisiert ist. Itzik Manger wächst dort in den ärmlichen Verhältnissen einer Arbeiterfamilie auf, sein Vater ist Schneider. Auch Itzik Manger versucht sich anfänglich in diesem Beruf, bevor er zu schreiben beginnt. 1921 erscheint in Jassy seine erste jiddische Ballade, Auftakt für eine Reihe von weiteren Veröffentlichungen in jiddischen Zeitschriften, die ihn bald zum »Prinzen der jiddischen Ballade« werden lassen.
Ich erinnerte mich an die schönen Volkslieder, die ich in meines Vaters Werkstatt gehört hatte. Was für eine Orgie an Farbe und Klang. Ein brachliegendes Erbe, Gold, das als Niemandsgut mit Füßen getreten wurde. Und ich habe gehorcht und geschaut.
Itzik Mangers spätere Beschreibung seiner Entscheidung für das Jiddische ist in dem Essay »Mein Weg in der jiddischen Literatur« zu finden. Seine Balladen sind von einem feinen Gespür für Musikalität und Rhythmus ausgezeichnet. Die Themen oszillieren zwischen der Einsamkeit und den Sehnsüchten des eigenen Ichs, Alltagssituationen aus seinem Umfeld und religiösen Bildern. Itzik Mangers Balladen schaffen durch das vermeintlich leicht und eingängig Liedhafte Räume, in denen der Einzelne als Suchender ungestört mit sich selbst unterwegs sein kann.
schtiler ownt. tunkl-gold.
ich siz bajm glesl wajn.
woss is geworn fun majn tog?
a schotn un a schajn –
sol chotsch a rege tunkl-gold
in majn lid arajn.Stiller Abend. Dunkelgold.
Ich sitz beim Gläschen Wein.
Was ist geworden aus meinen Tagen?
Ein Schatten und ein Schein –
ein Augenblick von Dunkelgold
soll in mein Lied hinein.
Die Zwischenkriegszeit sind gute Jahre für Itzik Manger. Er schreibt viel: Sein Nachlass besteht aus Aphorismen, Essays, Prosa und Theaterstücken; scheinbar mühelos und mit großer Freude bespielt er die große Klaviatur der literarischen Formen. Sechs Gedichtbände publiziert der Schriftsteller bis 1938, sein erster, sorgfältig zusammengestellter Band trägt den Titel »Sterne auf dem Dach«, in dem auch die Ballade »Jassy« zu finden ist, die einem der geografischen Mittelpunkte des Jiddischen ein schönes Denkmal setzt.
du, alte schtot, mit winklik-krume gassn,
fun dajne fenzter schtomt a siss dermanen.
do hot geblit turbarun-lid un lejd
un ss’blien noch sichrojness, welche wjanen
in jedn fenzter, woss brent in blejchn schajn
un wigt dem wanderer mit benkschaft ajn.Du alte Stadt, mit winklig-krummen Gassen,
aus deinen Fenstern strömt süßes Erinnern.
Da blühen der Troubadoure Lied und Leid
und blüht Gedenken, das verblasst
in jedem Fenster, das brennt in bleichem Schein
und wiegt den Wanderer mit Sehnsucht ein.
1938 beginnt zwangsweise auch Itzik Mangers Leben als »Wanderer«, ein Leben, in dem seine Dichtung nur schwer überleben kann. Eine Ausreise nach Palästina scheitert, nach mehreren europäischen Zwischenstationen folgen lange, erfolglose Jahre in London. Erst ab Mitte der 50er Jahre erlebt Itzik Manger zunächst in den USA, später in Israel nochmals eine Zuhörerschaft, die ihm große Anerkennung für seine Werke zuteil werden lässt; der Dichter wird gefeiert und mit Preisen ausgezeichnet – ein später Ruhm.
Itzik Manger Dunkelgold - Gedichte, Suhrkamp 2016
»Niemandssprache« und der neu aufgelegte Gedichtband »Dunkelgold«, ebenfalls von Efrat Gal-Ed in Deutsch und Hebräisch (mit jiddischer Umschrift und biografischem Essay) herausgegeben, sind zwei wunderbare Möglichkeiten, Itzik Mangers »Jiddischwelt« zu entdecken. Die Biografie und der Gedichtband vermitteln ein eindrucksvolles Bild jener Zeit, in der unzählige Menschen zur Flucht gezwungen wurden, auf der die Dichtung und die eigene Sprache neben kosmopolitischen Utopien oftmals die einzigen Rettungsanker waren.
epilog
ch’hob a cholam ajch gebracht
un ir hot im opgeschtojssn,
wen ss’is geworn nacht
hot ir mich gelost in drojssn;
ch’hob a cholem ajch gebracht
un ir hot im opgeschtojssn –Epilog
Hab euch einen Traum gebracht
und ihr habt ihn weggestoßen
als es damals wurde Nacht,
habt ihr mich gelassen draußen;
hab euch einen Traum gebracht
und ihr habt ihn weggestoßen
Bücherliste:
Itzik Manger, Dunkelgold - Gedichte, Jiddisch und deutsch Herausgegeben, aus dem Jiddischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Efrat Gal-Ed, ISBN: 978-3-633-24106-4, 29.95 Euro, Suhrkamp Verlag 2016
Efrat Gal-Ed, Niemandssprache - Itzik Manger – ein europäischer Dichter, ISBN 978-3-633-54269-7, 49.90 Euro, Suhrkamp Verlag 2016
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posting Dr. Götting
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