Urban warten
Im letzten Sommer (2016) ist Nadja Grassellis Gedichtband HxH. Die Stadt (er)wartet bei hochroth in Leipzig erschienen. Der sehr schmale Band ist eine Sammlung von Gedichten beziehungsweise Texten in Gedichtform, die sich entweder durch ihre Naivität auszeichnen oder durch das kalkulierte Spiel mit ihr, wobei letzteres manchmal schwerfällt zu glauben, denn ein erkennbares Ziel (inhaltlich oder wortgestalterisch) will nicht so recht ins Auge fallen. Grassellis lyrische Sprache besteht in erster Linie aus Bekenntnisversen, Reflexionen über das soeben Erdachte und koketter Abkehr davon à la "aber das meinte ich nicht". Neben den kreisenden Ich-Strophen, die sich in der Hauptsache mit dem Thema Warten beschäftigen, gibt es dialogische Antwortzeilen, ein imaginärer Restaurantbesuch etc., sowie immer wieder eingeschoben: Reminiszenzen und Anspielungen auf Hexen und Hexentum als Analogien. Interessant sind die Übergänge zwischen den einzelnen Gedichten, die als Kurzkommentare, Regieanweisungen, Testbilder, Unterbrechungen fungieren und an dieser Stelle den Band in reflektierte Gewässer ziehen, ja ihn gewissermaßen in durchkomponiertes Territorium lassen. In den Gedichten selbst beschäftigt sich das lyrische Ich auf eine rein persönliche Art und Weise mit seinem persönlichen Warten. Situationen in der Bahn, beim Essen und während der dort stattfindenden Gespräche werden heraufbeschworen. Die verwendete Sprache ist eigentümlich ungefeilt. Sie scheint nicht gewollt naiv, sie ist "einfach so" naiv – wie in einem Moment hingeschrieben und im nächsten schon gedruckt. Selbstverständlich gibt es in der Literatur Räume dafür. Auch mit solch einer Sprache können Epen gebildet werden, aber HxH. Die Stadt (er)wartet ist so kurz, dass diese Intention ausscheidet. Für komponiertes Gegeneinandersprechen mit besagten "Regienanweisungen" ist das Niedergeschriebene in dieser Kürze jedoch nicht scharf genug. Die Verse kehren dem Rhythmus den Rücken und brechen zu keinem Abenteuer auf, obwohl der Komplex Warten/ Erwarten in Bezug auf Stadt oder denjenigen Konnotationen, die mit Urbanität an sich einhergehen, ja absolut interessant ist. Was Grasselli verhandelt, ist ein immer junges Thema, zumal sich die Pole Individuum und Viele-Individuen in demselben Raum (Stadt) in ständigen Wandlungen befinden und damit der literarischen Überschreibung bedürftig erscheinen. Doch wirkt der Band insgesamt ungerichtet und bar eines letzten Schliffs, um abseits von mehr oder weniger Gemeinplätzen eine lyrische Sicht auf jenes Thema als Erfrischung präsentieren zu können. Am ehesten gelungen ist die Form der Verknüpfung aus Einzelgedicht, Meta-Ebene der Verknüpfung und ihrer typografischen Umsetzung. Zu Beginn des Textes hat die Deutsch-Italienerin Grasselli den Schluss des Textkorpus in italienischer, leicht abgewandelter Übersetzung (oder ist es das Original?) gesetzt. Dessen (italienische) Sprech-Rhythmik scheint auf den ersten Blick irgendwie zwingender. Vielleicht wäre der Zyklus in dieser Sprache insgesamt besser aufgehoben – das sei allerdings nur spekuliert. HxH. Die Stadt (er)wartet ist ein leicht blasser, unklarer Band, der aber durchaus das formale Potential der Autorin durchblicken lässt.
„ATTESE
Aspettate passanti sospetti
aspettate pure.ditemi che abbiamo perso il nostro tempo
passato a tendere,
a sfiorare confine
aspettando tempi migliori
e sospettando – che non arriveranno mai.Aspettate il successo,
che mai giungerà,
il coraggio
che mai avrete.Sospettate.
E che il buio vi divori
mentre persi aspettate.[…]
Wartet ruhig, ihr Verdächtigen,
wartet nur,
befürchtend,
belauschend,
erwartet,
den Erfolg, der nie kommen wird,
den Mut, der euch nie greifen wird.
Dass euch das Dunkel verschluckt,
während ihr verloren wartet.“„5. HEXENTANZ
Ich erwarte nicht nur. Ich berechne Wahrscheinlichkeiten.
Nicht nur hohe,
besonders gern besonders geringe.
Und noch lieber
besonders geringe, sehr gefährliche Gegebenheiten.
Die sind ja auch möglich.
So wie –
Darf man es sagen oder zieht man damit Unglück an?
Besonders Katastrophen.
Das hält mich nie davon ab, die gefährlichen
Unternehmungen trotzdem zu
unternehmen.Nur
mit einer gewissen Unruhe,
die verschiedene Nebenwirkungen mit sich bringt.
Ich erwarte allerlei.
Besonders von Pflanzen.
[…]“
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Kommentare
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Hier müsste man die Rezension rezensieren - und zwar sehr kritisch. Zu allererst handelt es sich hier um keinen Gedichtband, womit die Gültigkeit der Kritik bereits weitestgehend entfällt. Es geht hier stattdessen um einen Prosatext, der ursprünglich als Theatertext konzipiert und immer noch so aufgeführt wird. Auch wenn das auf Anhieb nicht zu erkennen ist, hätte man so weit recherchieren können und in Wirklichkeit führt eine genauere Beschäftigung mit dem Werk relativ schnell zu dem Schluss, dass es kein Lyrikband sein könnte. Des weiteren gibt es einen Rechtschreibfehler - "Speil" - und der Name des Verlages lautet "hochroth Leipzig". Ich bin für kritische Auseinandersetzungen, aber so schlampig sollen sie nicht sein ...
?
Speil ist jetzt Spiel. hochroth Leipzig steht und stand unter dem Buchcover. In der Sidebar ist hochroth als Verlag verlinkt, meines Wissens gibt es keine Extraseite für hochroth Leipzig und die Buchdetails linken zu einer Unterseite des hochroth Verlags. Julietta Fix
Wenn sich eine
Wenn sich eine Veröffentlichung keine Genrezugehörigkeitsbezeichnung im Buch geben möchte und in einem Verlag erscheint, dessen Programm im Schwerpunkt auf Lyrik besteht, ist bei einer textgrafisch derart an Lyrik ausgerichteten Gestaltung kein Zweifel aufgekommen, dass ein sechsteiliger Gedichtzyklus vorliegen muss – folglich hat sich auch keine Recherchezwangslage ergeben.
Jetzt liegen die Dinge anders: Es handelt sich um Prosa, die offensichtlich aber eigentlich ein Theatertext ist und aufgeführt wird. Das ändert das Genre, aber nicht den generellen Eindruck, dass dieser "Text" in einer Unschärfe aus Gemeinplätzen und Richtungslosigkeit steckenbleibt. Auch die Lesart als Monolog eines "Ichs" im inszenierten Warten darf Erwartungen an Zielgerichtetheit und Sprechrhythmik an den Text hervorrufen. Diese aber bleiben, wie in der Lesart als Lyrikzyklus, ähnlich unter ihren Möglichkeiten. Was schade ist.
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