Essay

Abschiede oder Willkommensgruß - Sprachräume von Frank Milautzcki

Poesie ist, wie alle Kunst, eine Lebensäußerung. Ein Spiel mit dem Wahrhaben und Begreifen, das vom Nennen und vom Urteil weg ins Offene und Unbewohnte treibt, soweit es als Konstrukt aus eigenen Verabredungen, inneren und verinnerten Regeln und herbeigeschafften (angelesenen / aus Speichern entlehnten) Materialien dazu fähig ist. Die Zutaten und die individuelle Regie bestimmen den Radius der Spielwelt. Was man unter Poetologie ausstellt, ist im Grunde ein Script, mit dem ein subjektiver Möglichkeitsraum hergestellt wird für das eigene Wetter und den eigenen Film. Das Script kann wie jeder Entwurf entgleisen und zum Selbststreicheln werden, in der Regel ist es aber das Gegenteil, nämlich der Schlüssel für Nicht-Ich-Gebiete, wo Worte, Ideen und Formen plötzlich eigene Lebenshorizonte haben in denen sie agieren und reagieren und der Künstler zum Instrument wird, auf dem sich das spielt.

Der Künstler ist eine Zulassungsstelle. Hier gehen die Speicher eines Ichs über in das Verfahren von Inhalt in einen neu zu bildenden Raum und seinem Verfahren in diesem Raum. Der Prozess ist nicht einfach, er findet als Weg statt. Man weiß nicht, was passiert. Irritationen gibt es genug, Seile, die halten, Emotionen, die leimen, Musik, die hineinspielt und übertönt. 

Das Erstaunliche am Material der Sprache ist dabei, daß es sich nie in einem allgemeingültigen, fertigen Zustand befindet, sondern immer in der Person bedingte Zustände annimmt. Ein Wort hat Farbe und riecht, es wird in hochkomplexen neuronalen Mustern erinnert und fährt mit dem Boot weit raus, es kentert und schwimmt um sein Leben. Man findet es unter Schutt, verstaubt und verletzt, man findet es als Kleinod der Auslage oder vermodert, leise als Ton und laut wie eine Musik und findet es nur in genau demjenigen so, der sich dem Wort gerade aussetzt, ob als Schreibender oder als Leser. Genau deshalb ist es so spannend, dieses Material irgendwohin zu stellen (in ein Gedicht) und zu schauen, wie es dort reagiert.

Der Materialist (der Künstler, der mit dem „Material“ arbeitet und Inhalt verneint) lebt also insgeheim vom Immateriellen (das durchweg ein Geschehen ist und kein statisches Objekt). Er vertraut darauf, daß das Material etwas anrichtet, das mehr ist als materiell. Das ist im Prinzip, was Dada getan hat. Die Zerstörung der Bedeutung dient dem Sprung in eine neue Aufmerksamkeit, hat Dieter Mersch über Schwitters Merzbilder treffend resümiert. Es gilt das Leben des  Materials zu entdecken, das Fundstück kann etwas, es wird zum Zeichen, das zufällt, nicht weil es zufällt, sondern weil es planvoll ästhetisch betrachtet und in einen ästhetischen Kontext überführt wird. Das Material fällt in den Künstler hinein und was in ihm geschieht ist nicht mehr zufällig. Er hat ein Script.

Immer enthält das Script mehr oder weniger klare Anweisungen, verhandelbare Ge- und Verbote, aber auch kuriose Sätze, geheime innere Absprachen, Hasslieben und Verneinungen, Spielabsagen. Je nachdem in welchem Kontext sich der Spieler selbst sieht, worin er sich situiert, mit welchem Einsatz er zu seiner geistigen Einrichtung und zu seiner Kleidung kommt. In der stark vernetzten Gegenwart, in der von allem gewußt wird und Modelle praktischerweise in Klischeeformen gedacht werden, die auf Oberflächen ausmustern, wird Orientierung oft zu einem Zappen und einem raschen Blättern im fremden Script. Ein Blick in die Wohnung des anderen genügt und man weiß wer er ist. Ein Blick auf das Gedicht des anderen und man ahnt das fremde Script. Verweigert es sich zunächst, scheint es interessant und weckt Interesse.

Wir sortieren die Welt (und auch Gedichte) per Vor-Urteil. Die Informationsfluten sind manchmal so hoch, daß ein eigenes Manövrieren nur noch funktioniert, wenn man überfliegt. Es braucht viel Zeit, um sich selbst positionieren zu können in den Enzyklopädien der bislang hochgewachsenen und erprobten Schreibweisen und Verfahrenstechniken und eigentlich hört das Dazulernen nie auf.  Die Entwicklung der Poesie hört nie auf. Keine Generation hatte so viel auf dem Tisch, wie die jetzt aktive. In den seltensten Fällen räumt man den Tisch leer und fängt neu an. Meistens versucht man sich erstmal einen Überblick zu verschaffen, mit was man es zu tun hat. Talent allein reicht längst nicht mehr. Der Akteur braucht Wissen, Mut zur Performance und Erfolgswille. Am besten er studiert und das Studium wird zum Ausweis, mit dem er die Hallen des Betriebs betritt.

„O daß ich unbekannte Sätze hätte,/ seltsame Aussprüche, neue Rede,/ die noch nicht vorgekommen ist,/ frei von Wiederholungen,/  keine überlieferten Sprüche,/  die die Vorfahren gesagt haben.“ stöhnte Chachepereseneb schon 1800 vor Christus.

Das neue Gedicht muß sein. Nicht das Gedicht, das von selbst (im Selbst) entsteht, sondern das Gedicht, das ohne das spezielle Script nie entstehen würde und so bislang noch nicht entstanden ist. Nur das Neue bringt ausreichend frischen Wind, der den eigenen Drachen in die Höhe trägt. Konkurrenz belebt das Geschäft um das neuartige Gedicht und/oder das noch nicht dagewesene Schreiben. Man sucht ein Kostüm, das niemand sonst anhat und noch keiner kennt und steht plötzlich vor dem Zwang zur Behauptung. Man verdriftet vom offenen Sagen zum assertorischen Urteil oder zu Schaurede und Deklamation. Selbst Kosmetik ist bei Gedichten ein Thema – klar, es geht um die Erscheinung und das Vermeiden von schädlichem Schein, es geht um Material und  Optik, um Schnitt, Frisur, Schminke. Es geht darum, mit der Sprache etwas anders zu machen.

 

Der einfachste Weg, sich zu unterscheiden, führt zunächst über den formalen Aspekt. Wir tun uns heute leichter neue Formen zu behaupten als revolutionär Inhalte oder revolutionäre Inhalte zu bekennen, weil Inhalte und ihr Verstehen in Verruf gekommen und angebliche Wissenspfründe (zu Recht) ungewiß geworden sind. Gedichte, in denen etwas gewußt wird, sind unitäre Transformationen der bourgeoisen Eitelkeit und der Arroganz des sich selbst überschätzenden Menschen, der seine Perspektive nicht mehr als biologische Annäherung wahrnimmt, sondern als Maß. Gedichte, in denen nicht mehr über Gewißheiten gestritten wird, sondern die um einen Sinn herum Sprache versammeln, sind zwar Verdichtungen, aber sie erzeugen eher Panzerungen statt Spielwiesen.

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