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Essay
Abschiede oder Willkommensgruß - Sprachräume von Frank Milautzcki
Die Szenerie, in der Poesie aktuell stattfinden muß, hat Bühnenbilder von erschreckender Tiefe. Weltbilder sind ineinander geschichtet, durcheinander geflochten, übereinander geworfen. Sie sind chancenreich, aber auch grundübel. Offenherzig, aber auch brutal. Sie sind vielgesichtig und undurchschaubar. Ein süßer Schein lacht vom Wühltisch, darunter sitzt ein Kind ohne Zukunft. Unkulturen haben sich so fest in den Alltag gewebt, daß man ihnen nicht mehr ausweichen kann. Selbst wenn man etwas in bester Absicht nutzt, ein notebook, um einen Essay zu schreiben, klebt auf eine unsichtbare, hinterhältige Weise Blut daran. An allem klebt etwas anderes, als man es denkt, es ist verborgen der Preis der Moderne. Die Begriffswelt, die zu ihr geführt hat, behandelt die Welt und mißhandelt sie als Nutzfracht. Der Glaube an die Macht der Technik und die Stimmigkeit der Naturwissenschaften, an einen steten Fortschritt, der automatisch zu einem vermehrten Wohlstand führt, formuliert noch immer Gebete, die sich als Politik getarnt in den Vordergrund unseres Daseins spielen. Mit gefalteten Händen sitzen die Ichs im Kapitalismus fest, als wäre er eine Kathedrale.
Altes Denken steckt in jedem Stück Plastik, in jeder Socke, in jeder Angelschnur. Die Masse der Menschen ist zu einem unbeweglichen Kollektiv verschwommen, das in die Röhre kuckt. Ein Trauerspiel, das als action daherkommt. „Komm schon! Komm schon!“ bellt der Held den Anlasser des Flugzeugs an, das ihn hier wegbringen soll (obwohl er noch nie zuvor eine Flugzeug geflogen hat), weil gerade die Welt hinter ihm in ein Meer flüssiger Lava wegbricht. Er wird es schaffen. Das Flugzeug wird anspringen und die Menschheit wird gerettet. Der Preis für diesen Film ist der Untergang der Wirklichkeit und am Ende der wirkliche Untergang.
Die Welt ist überklebt - sie ist übervölkert mit Zitaten und zugepflastert mit Klischees. Der Mensch selbst ist ein Muster, eine Stereotype, ein Klischee – man kann ihn reduzieren auf triviale Eigenschaften (man muß es nicht, aber wir tun es) und beliefert ihn frei Haus. Das Bild, das die Konsum- und die Geldwelt vom Menschen hat, ist entwürdigend. Es zeigt sich in den Klischees, die allgegenwärtig sind und eine Verpackung schreiend rot aussehen lässt mit einem gelben „Päng“ und nicht einfach schlicht. Die Sprache des Kapitalismus äußert sich in den Mustern der medialen Bombardements. Sie sagt: der Mensch will beballert sein, verführt, übers Ohr gehauen, gebauchpinselt und betrogen. Er will die Mogelpackung und die Wichsvorlage. Sein Ich braucht den Konsum und die Grenzenlosigkeit. Er ist über alles andere Leben erhöht und die Begründung der Welt, seine geistige Elite führt ihn sicher in eine Zukunft der Allmacht, weil sie über die richtigen Karten verfügt.
In Wirklichkeit sind diese Karten alt und oftmals erschreckend unvollkommen bis schlichtweg falsch. Wer dennoch behauptet, er wisse Bescheid, gibt damit zu, in seinem eigenen Gefängnis zu leben. Niemand in der Moderne weiß Bescheid. Wir sind angekommen in Westindien. Keiner kennt sich im Außerhalb wirklich aus und wir erzeugen mit genau diesem begrenzten Wissen immer mehr Innerhalb. Es spiegelt eine evolutionsbiologisch verständliche Tendenz im Menschen, sich in seine eigene Tiefe hineinzuentwickeln und völlig autonom von der Umwelt zu werden. Eine Höhle zu finden, in der er sich einrichten kann. Wer die Natur mit eigener Umwelt ersetzt, das Inventar kontrolliert und ein eigenes Klima nutzt, ist weniger anfällig gegen externe Willkür und Unbill. Er behauptet sich leichter.
Das ist der Platz, auf dem die Poesie stattfinden soll. Einerseits überwältigende Fülle und schwierigste Komplexität, durchaus befleckt, andererseits genau deshalb Raum für Offenes und neue Chancen und eine bessere Welt. Je vielfältiger die reaktiven Flächen, umso mannigfaltiger die Möglichkeiten – Wissen ist in einer unglaublichen Breite und Tiefe möglich. Ein Grunddilemma der Moderne ist das Zehren zwischen ihrer Basis und ihrem Flackern. Damit wir uns immer wieder neu erfinden, nehmen wir das Gewesene als Basis. Wir befinden uns heute in der kritischen Situation, daß diese Basis wegbröckelt. Materiell und ideell. Jede vergangene Zeit konnte ihre Utopien auf dem Boden ihres Wissens und dem Reichtum der Erde aufstellen - unsere Zeit, die herumschwirbelt in der Luft wie ein Feuerwerk, verliert gerade ihren Boden. Er ist ausgezehrt. So ist die Jetztzeit noch ungeheuer reich in ihren Lebensäußerungen, aber bereits arm an Substanzen, um das Feuer weiter zu schüren. Aus dem freien Entschluß zu Kohle und Öl wird ein zukünftiges Muß zur Nutzung regenerativer Energien. Aus der freien Wahl der Feldfrucht wird eine alternativlose Entscheidung pro Biodieselpflanze. Die Möglichkeiten verengen sich wieder, je länger der Mensch die Erde beackert. Der Verbrauch einer Ressource ist auch der Verbrauch möglicher Welt. Das Aussterben des Eisbären nimmt uns das Fell.
Bedeutungen ändern sich, gehen verloren. Neue Zusammenhänge erfordern neue Bedeutung. Es ist wichtig, unsere Begriffswelt auf den Prüfstand zu schicken. Heisenberg hat Recht, wenn er dabei der Logik und der Mathematik als alleiniges Mittel der Weltvergewisserung mißtraut. Sie kennen nicht alle Wirkmomente und Reaktionstiefen. Das gleiche Mißtrauen verdienen auch die als Religion installierten Gesellschaftssysteme. Der Kapitalismus als Wachstumsmaschine hat seine Erfolge gehabt, im Wiederaufbau – er scheitert als Bewahrer. Was Heisenberg sich wünscht, ist im Grunde genommen Poesie. Die Öffnung des Denkens, das neue Hinhören auf Reaktionstiefen schon in der Sprache und der Begrifflichkeit, eine andere Anwesenheit, die anderes behauptet.