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Essay
Abschiede oder Willkommensgruß - Sprachräume von Frank Milautzcki
Behauptet wird überall und seit je. Man kann sich behaupten und etwas behaupten. Das Prinzip ist ohne Unterschied. Wessen eigene Behauptungen schlüssiger und zutreffender sind, schlagkräftiger und überzeugender, der tut sich leichter sich selbst zu behaupten.
Behauptung ist auch nichts Neues in der Kunst. Der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn sagt: „Kunst ist die Behauptung von Form“. Übersetzt: die Behauptung hebt Form in den Rang von Kunst. Der Künstler nimmt Maß und erklärt Nicht-Kunst zur Kunst. Marcel Duchamp erklärt ein Urinoir zum Springbrunnen. Das Behaupten gehört in die Welt als biologisches Folgenreich des Erkennens und ist ein Motor der Evolution. Das in der Bildenden Kunst vorherrschende „Originalitätsgebot“, das man seit langem als maßgebliche Antriebsgröße ausmachen kann, führt in der äußerst komplexen Kunstwelt zu immer stärkerer Spezialisierung und immer weiträumigeren Abseitserkundungen. Dort ist die künstlerische Praxis ein Projekt der konzeptuellen Artikulation von Welt, welche von Laien als Kunst nicht mehr erkannt werden kann, weil ihnen der Kontext des Konzepts und die Kenntnis der Gebiete fehlt. Spezialargumente liegen den Behauptungen zugrunde, die dem Nicht-Fachmann verschlossen bleiben (müssen).
Die Kunstakteure leben und denken in Sonderwelten, deren Zugänge verhängt sind. Dieser Hermetik liegt der Glaube zugrunde, daß der Mensch kunstfähig sei. Daß er neben Kunstfertigkeit (wozu heute auch geistige Erkundungen, gelehrte Umfassungen und kluge Denkoperationen gezählt werden) auch eine Gültigkeit besäße, die ihn heraushöbe aus der übrigen Natur. Kunst hat Bedeutung.
Die Anthropologie sieht in den ersten Künstlern Schamanen, denen die Abbildung eine Beschwörung ist, Teil eines Zaubers, der den Menschen mit Gott verbindet oder sogar ein kleines Stückchen annähert. Im Zentrum steht dabei das Abbild des Externen mit den Mitteln des Internen. Die Verinnerung der Welt wirft sich an das erweiterte Ich der Höhle. Die Natur und das Göttliche sind das Abbildungswerte. Das ändert sich mit zunehmender Verfeinerung der Techniken. Immer mehr Internes geschieht im künstlerischen Prozess und schlägt sich nieder, bis schließlich der Mensch nur noch sich selbst abbildet. Jetzt ist die ganze Welt zur Höhle geworden.
Die Kunst macht das Menschen-Ich zum Teilhaber einer Macht, die Welt erzeugt und verändert. Über Jahrtausende bleibt sie etwas Anbetungswürdiges und bisweilen Übersinnliches, ein sonst unerreichtes Extra, das den Menschen zum Schöpfer neben Gott macht. Das Welterzeugende ist gleichzeitig Weltverwandelndes. Die Kunst sei in der Lage, die Welt zu verändern. Der Schamane Beuys predigt die soziale Plastik, mischt sich überall ein und behauptet, sein größtes Kunstwerk sei sein eigenes Leben. Das Eigene ist das Göttliche. Der Stellvertreter tritt auf und auf der Stelle. Die Stelle heißt Gott. Ein selbsterfundenes Prinzip. Jesus ist nicht mehr alleine. Aber anders als der Erlöser ist der Behaupter von Kunst für die Gesellschaft nicht wirklichkeitsrelevant – er wird als Möglichkeit geschätzt, als Lebensäußerung eines Modus, den erst die Konzentration und Vertiefung in einem fernen Abseits ermöglichen und nicht das alltägliche Leben, ein Modus, der allerdings nicht verbindlich ist für das eigene Zentrum in der Mitte der Welt. Die Kunstwelt ist zunächst eine Parallelwelt, die nicht zuständig ist für die Geschehen in der realen Gesellschaft.
Im Lyrikbetrieb ist es nicht anders. Auch hier gibt es Kunst, die, weil sie dazu erklärt wurde, Kunst ist, und nicht, weil sie das Kollektiv als solche erkennen würde. Das soll und darf nicht gegen sie sprechen. Wenn Dubuffet die Kultur als „eine tote Sprache“ brandmarkte, „die nichts mehr mit dem gemein hat, was auf der Straße gesprochen wird“, dann nicht, um (mit der Sprache der damaligen Zeit) dem dumpfen Rausch des Pöbels das Wort zu reden, sondern aus romantischer Verkennung der wirklichen Verhältnisse. Er traute der ideengesteuerten Kunst nicht zu, den Mensch als Ganzes anzusprechen und suchte deshalb nach Primitivität und Ursprünglichkeit. Er verneinte damit auch die im technischen Fortschritt angelegte Komplexität, die dem Menschen das Endgültige und Immergültige raubt und zum ständigen Lernen verdammt. Die rasende Moderne hat Konstanz nur in der Ungewißheit und konfrontiert mit dem Spielcharakter der Welt. Während sich der Mensch einen verläßlichen Alltag wünscht, rennt die Zeit in immer neue Zeit und immer schneller. Anker werden wichtig. Positionen eingefroren, um nicht zu verschwimmen in einer ständig wechselnden Umwelt. Die Gesellschaft teilt sich auf: wer davonschwimmt, belebt den Rand und macht Entdeckungen, wer im Zentrum ankert, versucht zu verinnern, was Neues hereintropft und kann es nur zum Teil. Das Kollektiv ist zerrissen, es gibt wenige offene Teile, die gegenwärtig sein können und große romantische Teile, die Festigkeit wollen und Festigkeit üben. Die im festen Teil verinnerten Behauptungen tragen sich wie ein Pyjama oder ein Totenhemd. Es sind die abgelegten Klamotten der Avantgarde von gestern, zurechtgeschnitten für den Massengebrauch und systemgerecht gefärbt. Das verankerte Wissen des Kollektivs ist als Grundlage für einen Stoff, aus dem die Zukunft gewirkt ist, unbrauchbar. Es läßt sich eine spannende Kunst mit den Formeln des Kollektivs nicht ausrechnen. Die von der Masse assimilierte Kunst wird zur bloßen Fertigkeit, ihre Erzeugung ein Muster. Wer die Casting-Kandidaten reihenweise Gesten und Phrasierungen der etablierten Stars beim Nachsingen aufführen sieht, erlebt wie Kunstvolles zum Zitat und zum allgemeingültigen Muster wird. Der Nachahmer ist der Lieblingsmensch des Systems. Er übernimmt und trägt weiter. Er lebt im Gleichstrom und schaltet durch. In der Popwelt hat deshalb derjenige Erfolg, den man widerstandsfrei durchschalten kann. Und die Geldmenschen in der Popwelt denken, das habe zu tun mit gewissen Merkmalen, die man bloß aufzurufen habe und dann klimpern die Penunzen. Sie produzieren und verbreiten Klischees.