Essay

Abschiede oder Willkommensgruß - Sprachräume von Frank Milautzcki

Anders die Imitation: der theatralische Vollzug des Nachahmens verlangt Beschränkung in der Sache und Gehorsam gegen das Schema und damit in erster Linie wirkliche (das kann auch intuitive sein) Kenntnis von Sache und Schema. Die Imitation nimmt das Greifbare und versucht seine Griffigkeit auf ein Neues zu übertragen. Das ist beim Gebrauch liebgewonnener überlieferter Muster so (wie im Skeuomorphismus), als auch beim Ausleuchten des Aufleuchtens eines Sterns am Kunsthimmel. Die geistige Simulation sorgt für Einsichten in Ichstrukturen, ohne deren Kenntnis eine Geste nicht authentisch sondern mechanisch wirken würde.

Der Poetologe im Poeten erkennt hier viele Prozesse, denen er sich selbst nie ganz verschließen kann. Ingeborg Bachmann bekennt in einem Gespräch mit Josef-Hermann Sauter im Jahr 1965, es „langweilen mich Gedichte meistens, ich lese fast keine mehr, hier und da erinnre ich mich an eine früh gehörte Zeile, an einen Ausdruck, und wenn mir etwas sehr gefällt, wenn ich meine, es müsse gerettet werden, dann verwende oder variiere ich einen Ausdruck, gebe ihm einen neuen Stellenwert. Das ist also, wenn Sie so wollen, ein Verhältnis zur Vergangenheit, ein Arbeitsverhältnis, das zum Beispiel in der Musik seit jeher vorkommt.“ (Michael Gratz grub dieses Zitat unlängst in der lyrikzeitung aus). 

In der Poesie gibt es weitaus mehr Muster, die zitiert oder vermieden werden, als man denkt. Es gibt Imitation und Nachahmung. Dabei kann man auch abstrakte Denkattitüden nachahmen und Denkmoden genügen. Man kann ein Ich verweigern, das im Text etwas Privates anrichtet, man kann Worte vermeiden, die nach etwas schmecken, man kann Verweigerung verweigern. Groucho Marx hat einmal gesagt:  the key to success in business is honesty and fair dealing. If you can fake that, you’ve got it made. Fake ist ein Thema überall in der Welt, auch in der Kunst. Wer ein feines Gespür für das Angesagte hat, kann selbst zum Ansager werden. Er muß nur die entsprechenden Muster zeigen. Also immer dran bleiben, vorne mitschwimmen, die Antwort auf die Frage vorneweg denken: what is the key to success in poetry nowadays? In einer Poesie, die sich formal orientiert und den Inhalt ignoriert, ist der Kuckuck willkommen.

Zu negativ gedacht? Zu pessimistisch? Richard Kämmerling erörtert in Ernst-Wilhelm Händlers Roman „Wenn wir sterben“ (2002) die Übernahme der Gegenwartsliteratur durch den Kapitalismus: „Es geht nicht nur darum, dass der Kapitalismus die Menschen zerstört, nein, viel finsterer: Die Individualität ist konvertierbare Münze geworden, simulierbar und imitierbar. Was sich besonders dünkt, ist nur Ausdruck eines Allgemeinen.“ Das Vorhandensein von Individualität bestimmt einen Wert, mit dem man Kasse macht. Je spektakulärer das Individuum aufschlägt, desto gewinnträchtiger das Paket. Der Wunsch nach Originalität verführt zur Übertreibung und zur Imitation und erzeugt Ichs, die in Blasen leben. Wirkliche Authentizität wird, sobald sie überzeugend auftritt, sofort vom Markt und der Masse assimiliert. „der markt kann sich alles anverwandeln“, sagt Händler, „weil er alles ausdrücken kann.“ Wie eine Orange. Er handelt mit Orangengeschmack und kann einen Furz vergolden.

Die Lyrik hat einen kleinen, sehr durchwachsenen Markt mit vielen Untergenres - und einen eigenen Betrieb. Geld gibt es auch – in Form von Literaturpreisen, Stipendien, Dozentenlohn und Juryentgelt. Und zwar mehr als jemals zuvor. Mußte früher der Buchverkauf das Einkommen sichern, sind es heute Gelder aus Töpfen. Weil niemand kauft, was geschrieben wird. Es gibt kulturelle Förderungen für Buchprojekte (was leider dazu führt, daß Titel, zu denen Gelder in Aussicht stehen, von den in ihrer Existenz bedrohten Verlagen lieber publiziert werden, als spannendere Konkurrenzmanuskripte) und naives Selbstengagement (bis zur Selbstausbeutung). Es gibt Plattformen, Inseln, auf denen sich leben lässt, und Netzwerke, mit denen sich leben lässt. Es gibt Personen, die als wichtig gelten und die hofiert werden (müssen). Schrankensteher, denen man Zoll in Form von Demut zahlt. Die Lyrik ist also nicht gefeit gegen menschliche Schwäche und bitterem Pragmatismus. Sie ist kein letzter Rest idealer Gesellschaft, sondern ein Betrieb, der sich am Rande abspielt (und auch viele positive Seiten hat; mehr, als die hier anklingenden negativen es vermuten lassen), in einem gewissen Sinn gettoisiert. Als Sammelbecken der poetischen Beantwortung der Welt ist sie Metaraum und weitläufigen Zuströmen ausgesetzt und enthält selber Strömungen. Hier findet die künstlerische Sozialisation, die kulturelle Positionsbestimmung statt. Neues verteilt sich schnell, es gibt Ansagen und Warteschleifen. Etwas wird aufgerufen und passiert. Und obliegt dann jener schnelllebigen Verdauung, wie sie der Gegenwart eigen ist.

Weil sich alles Neue nach und nach gleich anfühlt, ist es irgendwann nicht mehr von Belang. Das Muster wird zum Allgemeingut und langweilig. Man sucht nach wieder Neuem, noch nicht Dagewesenem und spekuliert mit der Form. Eigentlich ist es die Suche nach einer unverbrauchten Perspektive, aus der man Dinge anschauen kann. Aber man schnitzt an der Form, weil die sich schneller und von Mustern sicher geleitet verändern lässt. Das Script als Fräse ist bei vielen zeitgenössischen Lyrikern eine Maschine, die zwar Form erzeugt, aber wenig Inhalt.

Ist der Künstler überhaupt zuständig für Inhalt? Kann es Form geben ohne Inhalt? Ist Inhalt ein Verhalt der Form, sobald sie angeschaut/berührt/belebt wird, oder verhält sich Form gar nicht?

Form generiert „So-Sein und nicht anders“ – deshalb spricht sie Ge- und Verbote aus, „be-deutet“ was geht und nicht geht. Bedeutung entsteht, sobald Form in der Welt auftritt. Wenn sie auf ein zweites trifft. Ein Ding allein ist ohne Zeit und ohne Bedeutung. Im Zusammenspiel erst zeigt sich Form als Grund für eine mögliche Regel und erlangt Bedeutung. Das ist ganz elementar und auf alle Stufen der Weltprozesse übertragbar. Es braucht immer das Zweite, das Weitere. Form allein verliert sich im Nichts. Obwohl sie das Nichts braucht, um sich zu zeigen, erlangt sie ihre Bedeutung erst durch die Anwesenheit eines Zweiten. Das Wort „Anwesenheit“ sagt es sehr tief: es hat mit der Berührung des Wesens eines Anderen zu tun. Wie diese Berührung ausfällt wiederum, hat genauso mit dem Wesen des Berührenden zu tun, wie mit dem Wesen des Berührten. Daß wir verschiedene Wellenlängen des Lichts als „Farben“ lesen, hat eine Bedeutung, die nicht nur im Licht angelegt ist, sondern sich evolutiv über Jahrmillionen aus den reaktiven Flächen der Welt aufgestapelt hat bis hin zum „Raum des Auges“ des Menschen  (unsere Art zu sehen, hört nicht auf beim Auge – es gehört ein Teil des Gehirns dazu und am Ende die Gesamtheit „Mensch“). Also entscheidet nicht alleine die Form von etwas über das Entstehen von Bedeutung, auch das Wesen des Zweiten, desjenigen Dings, das dieser Form begegnet. Seit der Quantenphysik wissen wir es naturwissenschaftlich offiziell: daß wir nichts berühren können, ohne es zu beeinflussen. Jede Berührung kreiert Bedeutung und diese Bedeutung entsteht nicht allein aus dem So-Sein des Dings, sondern auch aus dem So-Sein des Anwesenden (oder seines Signals). „Die Dinge selbst beginnen im Lichte des Sinns zu posieren, sobald sie den Blick eines Subjekts auf sich spüren“, sagt Jean Baudrillard.

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