Dinge, die ich nicht verstehe …
Ich verstehe vieles nicht; nein, das ist keine demütige Abhandlung in der Tradition Sokrates’, der dann doch nicht so demütig wußte, daß er nichts wisse – nein, es sind teils einander nur assoziativ verbundene Ratlosigkeiten…
(1) Ich verstehe nicht, wieso man Kirchensteuern zahlen soll. Und zwar als Steuern, wobei der Nachweis zu erbringen ist, daß man korrekte Angaben zum eigenen Einkommen macht. Ist es nicht seltsam, daß die Institution, die von ihren Gläubigen einfordert, zu glauben, daß der Sohn einer Jungfrau über Wasser wandelte, so er es nicht gerade in Wein transsubstituierte, von den Gläubigen zugleich Beweise selbst für plausible Daten fordert? Sind viele von uns so hörig, daß sie das Spiel mitspielen?
(2) Ich verstehe nicht, warum wir gendern. Nämlich es so tun, wie wir es tun. Ja, es geht um die Sichtbarmachung der Frau – aber war gender nicht das soziale Geschlecht, das vor allem die Frage stellte, ob es das so gebe: Mann und Frau? Und ist es nicht das, was noch immer gender meint, daß Geschlechtskonstruktionen sozial auszuverhandeln sind, keine zum Beispiel „biologische” Tatsache, und zwar bis in die Binarität, die Binnen-i & Co. zugleich festschreiben..? Was nicht heißt, daß wir nicht mehr gendern sollten, bloß vielleicht nicht in einer Weise, die, was gender meint, dermaßen unterbietet.1
Dann käme mit dem Bedenken der Selbstbestimmung versus Heteronormativität und dergleichen übrigens die Frage auf, ob es nicht wichtiger als dieses binäre Gendern ist (oder auch als eines, worin ein -x signalisiert, daß es ein drittes Geschlecht gibt), zu erkennen, daß dieser Geschlechterkampf von ganz anderen Interessenskonflikten ablenkt, die manchmal eher zufällig oder strategisch mit zum Beispiel Sexismen korrelieren.
(3) Ich verstehe nicht, warum wir uns über Trumps Verstöße wider die Etikette erregen, als wäre nicht viel umfassender eine Refeudalisierung der Verhältnisse im Gange: Wie der Staat, so ist auch der Kapitalismus längst dadurch in Schieflage, daß nicht in soziale oder unternehmerische Ideen investiert wird, sondern in die gewaltsame Durchsetzung von Oligo- und Monopolen, was mit Werbung beginnt, einem Feldzug gegen die Vernunft, und mit blanker Gewalt endet, wenn Trump, aber er eben als Symptom, Journalisten das Wort verbieten will.
(4) Ich verstehe insofern übrigens auch nicht, warum Linke antikapitalistisch sind, als müßte man den Kapitalismus nicht verstehen, nicht ihn im Gang halten: als Permeabilität der Gesellschaftsschichten und ein unmittelbares Recht der besseren Ideen, als ein System, dessen kluge Vertreter darum ihr Geld nie nur als ihr Geld betrachteten, sondern als einerseits etwas Virtuelles, das andererseits nicht schlecht angelegt war, wenn man es in Möglichkeiten investierte: und zwar fast uneigennützig.
(5) Ich verstünde auch nicht, wie man antikapitalistisch sein kann – alle bekannten Entwürfe, die vom Kapitalismus abweichen, führen ihn entweder doch reduziert fort, nämlich reduziert im Kommunismus etwa auf eine oder zwei der möglichen Kapitalarten2, die Beziehung und vielleicht Kompetenz; oder sie verbrämen ihn theologisch – und die Demut vor Gott entspräche dann immerhin der Klugheit des generös inverstierenden, (sich) unternehmenden Kapitalisten.
(6) Ich verstehe die Angst vorm Scheitern nicht. Alles ist in Schockstarre, keiner will etwas falsch machen, nämlich falsch nach Maßstäben eines verdummenden Marktes, der Bürger zu Konsumenten transformiert. Das entspricht natürlich dem Feudalismus, worin – wenn denn – nur wenige etwas unternehmen; oder: worin man sich die Last von Zins und Zinseszins entfalten läßt. Und zwar auf jene, die statt gebildet sein zu wollen, um die Spielregeln analysieren und ändern zu können, ausgebildet sein müssen. Oder ausgebildet sein müssen wollen, sie merken bloß die Einwilligung nicht.
(7) Ich verstehe nicht, wie ein Glücken dann noch möglich ist, wenn aus jener Ausbildungspflicht auch deren Einlösbarkeit resultiert – also bequemerweise niemand mehr überfordert ist; es sei denn, ihm widerstrebte diese Uniformität, die als telos eine bestmögliche Entfaltung dessen, was nur man selbst sein könne, die „Vorfreude auf sich selbst”, wie Sloterdijk formulierte, ablöst. Jenen überforderte die Unterforderung. Vielleicht ist in diesem Zusammenhang zu verstehen, warum eine Studentin jüngst eine schwache Prüfung mir gegenüber unaufgefordert rechtfertigte, und zwar damit, daß sie ein Doppelstudium habe – bloß, daß dies nach drei Monaten ihre erste Prüfung war. Aber der Abschluß ist fast schon Implikat der Immatrikulation, heute, jedenfalls in der idealen Universität feudaler Verhältnisse…
(8) Ich verstehe erst recht nicht, warum wir eine Entdemokratisierung auch der Universitäten zuließen, wo heute zwar die Studenten (und sei’s durch betuchte Eltern) und vor allem die Ordinarien etwa zu sagen haben, aber der Mittelbau stimmlos wurde: nach Beinahe-ad-personam-Ausschreibungen rekrutiert, tribalistisch dem Doktorvater verpflichtet, in Projekten mit Befristung abhängig gehalten. Ohne hinreichende tenure track-Möglichkeiten, ein Prekariat, das dienen darf, als trüge das zur Qualität bei, die die Exzellenzinitiativen suggerieren, die bloß euphemistisch umschreiben, daß Exzellenz, wie sie die Universität einst ermöglichte, sodaß man von „Exzellenzinitiativen” nicht sprechen mußte, so nun genau nicht herbeigezüchtet wird.3
(9) Ich verstehe nicht, wieso wir es den rechten Parteien überlassen, Themen vorzugeben: solche, die ein Problem suggerieren, das entweder nicht existent ist, oder nicht lösbar, jedenfalls nicht unter dem Blickwinkel dieser Thematisierung. Auch da ist Trump wieder Symptom. Hätte man – wie Sanders, ob er nun gute Lösungen hatte oder nicht – dagegen eine eigene Vision gestellt, und zwar dem Kalauer aus der Politik zum Trotz4, hätte man die USA politisieren und dadurch schon demokratisieren können, anstatt nun ihrer Privatisierung zuzusehen, dem Export des Elends ins Ausland oder in billige Wohngegenden, die zugleich tragen, was ihnen unerträglich sein müßte.
(10) Ich verstehe nicht, warum Fakten bezweifelt werden, um dann andere Fakten blind zu glauben: je dubioser die Quelle, desto eher wäre sie wahr, der Zensur jener entgangen, die bestimmten, was die „offizielle Wahrheit” ist. Wann wurde Paranoia die neue Metanoia?
(11) Ich verstehe das Wort postfaktisch nicht. Wenn es den fahrlässigen Umgang mit Daten meint, ein schlampiges Denken nämlich des Verhältnisses von Methode und Respons, dann haben wir ja Fakten – die nichts als das sind, nur gemacht. Postfaktisch wäre dann Feyerabend.5 Und Trump und Seinesgleichen wären samt Gefolge nicht postfaktisch, sondern skrupellos und/oder verblödet … faktisch vollgemacht.
(12) Ich verstehe nicht, warum wir uns nicht darauf einstellen, mehr denn je mit immer weniger Menschen herstellen zu können – und zu überlegen beginnen, wie die Gesellschaft mit jener Freizeit umgeht, wie sie um ihrer selbst willen das Verkümmern der Menschen vor dem Fernseher vermeidet, oder vor dem Internet, wo wie im Fernsehen gezappt wird: Totaladdition von Sinneseindrücken, von Erregungen – vielleicht sind die „heimlichen Wahrheiten”, die manche gelten lassen wollen, nur Stimulation auf eben diesem Niveau, durch keinerlei Intelligenz moderiert: Der Weg zum Zweifel ist folglich prinzipiell für jene Besorgten nicht einzuschlagen, weil dieser aufklärte, aber vor allem auch abregte…
Ich könnte dies fortsetzen; ich verstehe vieles nicht – es ist sicher meine Schuld.
- 1. cf. http://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritiken/anna-babka-gerald-posselt/g...
- 2. Ich verweise auf Pierre Bourdieu, u.a. Die feinen Unterschiede.
- 3. cf. http://m.diepresse.com/home/meinung/quergeschrieben/189327/index.do
- 4. „Wer eine Vision hat, der soll zum Arzt gehen.” – Der Satz wird verschiedenen für ihren Pragmatismus bekannten Politikern zugeschrieben, u.a. Helmut Schmidt.
- 5. cf. etwa https://www.youtube.com/watch?v=sE1mkIb1nmU&feature=youtu.be&t=12m26s
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