Hingabepoesie
Als bislang vorletzter Band der ambitionierten VERSschmuggel-Reihe im Heidelberger Verlag „Das Wunderhorn” liegt nun auch ein russisch-deutscher Band mit Gedichten vor, im bewährten Erscheinungsbild: Original und Übersetzung gegenüber gestellt. Schon von der klaren Grafik her ist die Reihe vorbildlich gestaltet, mit gleichem Respekt vor den Namen von DichterIn, NachdichterIn und VermittlerIn, jeweils in lateinischer und kyrillischer Schrift.
In Nachdichtungsworkshops haben sechs deutsche und sechs russische Dichter sich für drei Tage im Mai 2015 in Moskau in Klausur begeben, um mithilfe von vorher angefertigten Interlinearversionen und Dolmetschenden einander zu übersetzen, weil sie – das gehört dazu – der Sprache des jeweils anderen nicht mächtig waren. Die Methode wurde von der Berliner Literaturwerkstatt entwickelt und geht auf die bewährte Praxis der Literaturübersetzung in den gewesenen sozialistischen Ländern zurück, wo Sprachwissenschaft und daher auch literarische Übersetzung einen weit höheren Stellenwert genossen als im konsumistischen Westen.
Jeder Dichtende steuert vier oder fünf Seiten eigene Texte bei und schafft ebenso viele Texte des Partners in die eigene. Jeder Teilnehmende kommentiert Übersetzungsanspruch und -erfahrung in einem längeren Kommentar, neben den beiden (Nach)Dichtenden auch die mittelnde Person. Schon allein die Kommentare machen VERSschmuggel zu einem wertvollen Beitrag für alle, die mit Gedichten aus anderen Sprachen zu tun haben. Das ist nicht bei jedem Band der Reihe gleich gut gelungen, im vorliegenden russischen lohnt es sehr.
Diese Absätze erlauben Werkstatt-Einblicke, aber zeigen auch Erwartung, Befürchtung und Erleichterung, mit entsprechender Herzlichkeit. Etwa Asmus Trautschs Stoßseufzer: „Ich wünschte, mit solch einer langatmigen Behutsamkeit, Neugier und Untreue würde man sich öfter gemeinsam Gedichten zuwenden.” mag als Zeugnis für die Hingabe herhalten, mit der die eingeladenen Poeten sich ihrer Aufgabe gewidmet haben, und das ist schön zu sehen.
Die DichterInnen gehören der jüngsten Generation an, d.h. sie sind höchstens 40 Jahre alt´und repräsentieren damit den aktuellen Trend ihrer Nationalliteratur. Die russischen Teilnehmenden verbindet, dass die meisten etwas mit dem Poesiefestival in Nischni Novgorod zu tun haben, während die deutschen vielfach im Merve-Band „Zur Theorie des schlechtesten Werkszeugs” vertreten waren. Fast alle haben schon Lyrik aus anderen Sprachen übersetzt, manche waren auch bei anderen VERSSchmuggeleien dabei.
Die dichterischen Texte sind in beiden Sprachen Freie Verse; Lea Schneiders sind nicht einmal in gebrochenen Zeilen, d.h. im strengen Sinne nicht Gedicht, während bei Iwan Sokolow sehr wohl Reime im Spiel sind, die allerdings in Schneiders Version nicht berücksichtigt wurden. Der Projektbericht zeigt, dass Schneider sehr wohl von ihrem Sparring Partner erfahren hat, dass seine Texte im Tonfall russischer Vorläufer geschrieben sind, d.h. auf Mandelstam-, Kirchenlied- oder Puschkin-Gedichten beruhen, frei in der Wahl ihrer Mittel, entschied sie sich jedoch gegen ein nachahmendes Verfahren zur Übertragung; dennoch loben beide Autoren den Anderen, da er ihnen einen Crashkurs in Themen und Methoden zeitgenössischer Dichtung der fremden Nation vermittelt hat.
Einzig Lew Oborin hat mehrheitlich gereimte Gedichte in seiner Auswahl, die sein Gegenpart Linus Westheuser – manchmal – als solche übersetzt. Der Dichter hat über die Verkennung seiner Technik die Stirn gerunzelt, erfahren wir. Und schließlich spricht Oborin in seinem Kommentar es selbst aus: „Wenn der Übersetzer <...> nicht über das Wissen und das Gefühl der Funktionsweise der Dichtung verfügt, gelingt ihm auch keine Poesie.” – Quod erat demonstrandum!
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