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Kritik

Der Grünteetrinker

Hamburg

Aus dem unscheinbarsten Material erhebt sich über der Tasse ein filigranes Palästchen. Düfte entwinden sich hochstrebend der Nase des Beobachters und vereinigen sich zum Gewölbe, Erker und Nischen entstehen aus den Kapriolen der Duftstreben, und zuletzt verziert die leise Note das Bauwerk mit einigen unaufdringlichen Strichen. Das Fundament des Palästchens liegt regungslos und klar wie ein versteckter Bergsee da in seinem matten Grün und dampft leise vor sich hin. Die Eleganz hat seine beste Ordnung. Verlässt man aber die beobachtende Warte, d.h. trinkt man den Tee, macht er sich ganz anders zu schaffen. Erst bläht er sich wie ein Kugelfisch und tastet den gesamten Mundraum vanillen ab. Dann schrumpft er auf eine kaum noch spürbare Größe zusammen, ehe er unendlich aufgeht wie das Universum, den Trinker rüttelnd und schüttelnd, um schließlich, dem pathetischen Gleichnis gegenüber unbefangen, doch ein Ende zu nehmen.

Zur Zeit Sosekis, der Wende zum 20. Jahrhundert, waren in Europa die Absinthtrinker en vogue. Der Vater der japanischen Moderne aber trank nicht minder leidenschaftlich das japanischste aller Getränke, Grüntee. Ganze Straßenzüge in Kyoto sind grün vor Grüntee in einer seiner vielen Gestalten, so wie ganze Straßenzüge in Bern gelb sind vor Käse. Soseki trank das japanischste aller Getränke also leidenschaftlich wie ein Absinthtrinker, ununterbrochen und ohne Rücksicht auf Verluste. Zu guter Letzt fraß sich das edle Gebräu in seine Magenwand, und schlaflos und entnervt ging der Dichter an Geschwüren zugrunde. So will es zumindest die Mär. Let’s run with it.

In „Kusamakura“ (1906), einem eher frühen Werk Sosekis, geht der Erzähler der Frage nach, worin die Überlegenheit der japanischen über die westliche Kultur bestehe, und hält auch beim Grüntee inne. Tropfenweise lässt er ihn sich auf der Zunge zergehen und inhaliert seinen Duft. Dabei preist er den Tee über alle festen und flüssigen Nahrungsmittel, ringt seiner Raffinesse ein Bekenntnis zum rechten Leben ab: Es möge sein, dass einen der Grüntee in die Schlaflosigkeit treibe, aber ein Leben ohne Schlaf sei einfacher zu ertragen als ein Leben ohne Tee. Der Grüntee wird zum Lebensprinzip. Er ist es seiner ästhetischen Eigenschaften wegen, seiner Verfeinerung und Noblesse. So ist die Ästhetik des Grüntees das bestimmende Prinzip, nicht primär die Ästhetik der Teezeremonie, sondern des Tees und seiner Aromen selbst. Mit etwas assoziativem Geschick kann man sich aufgrund solcher Gedanken auch einem Verständnis von Sosekis, wie man sagt, Hauptwerk nähern, „Kokoro“ (1914), das kürzlich von Oscar Benl für Manesse neu übersetzt worden ist.

Das Wort „Kokoro“ bedeutet „Gefühl“ oder „Herz.“ Es wäre aber falsch, „Kokoro“ als Liebesroman zu lesen, obwohl er auch Züge eines solchen trägt. Die Liebesgefühle im Roman sind diejenigen, die am wenigsten lange anhalten. Die Gefühle von Freundschaft, aber vor allem von Schuld, Trauer, Einsamkeit, Todesfurcht sind wesentlicher mit den Figuren verbunden.

Der Aufbau des Romans ist komplex und schlicht zugleich. Im ersten Teil erzählt ein Student, wie er einen älteren Mann, den er „Sensei“ oder „Meister“ nennt, kennenlernte, um es euphemistisch auszudrücken. Tatsächlich zwingt er dem Sensei seine Freundschaft auf unheimliche Art und Weise auf, passt ihn am Strand, auf dem Friedhof, usw. ab, besucht ihn aufdringlich in seinem Haus und drängt ihn wieder und wieder, ihm sein Lebensgeheimnis anzuvertrauen. Soseki kannte insbesondere die englische Literatur sehr gut, und Anklänge an die europäische Romantik finden sich im gesamten Roman. Dass er solche Elemente in die japanische Literatur einführte, begründet teilweise seinen Ruf als Urheber der modernen japanischen Literatur. Es sollte uns also nicht erstaunen, wenn wir im Erzähler einer wenig vertrauenswürdigen Figur begegnen. Zugleich ist er aber, wie alle Erzähler Sosekis, ein feinsinniger Beobachter seiner menschlichen Umwelt, der als Seismograph für emotionale Erschütterungen agiert. Zunächst jedenfalls betrifft der erste Teil des Romans Beziehung des Studenten zum Sensei, das Werben um Vertrauen aufseiten des ersteren und das zögernde Nachgeben des letzteren. Fast noch wichtiger wird allerdings das Verhältnis zwischen dem Sensei und seiner Frau, das unter der angenehmen Oberfläche zerrüttet scheint. Insgesamt wird das Thema der Einsamkeit vorsondiert. Der Sensei ist ebenso einsam wie seine Frau, und auch der verschrobene Student wirkt aus Einsamkeit in sein Verhalten getrieben.

Der zweite Teil geht den Tod, den Endpunkt aller Einsamkeitsgefühle, direkt an. Der Erzähler besucht seine Familie auf dem Land, anlässlich des Nierenversagens seines Vaters. Das Nierenversagen war schon immer eine Todesform, die sich, anders als zum Beispiel der Herzinfarkt, seiner Prolongation wegen für die Literatur eignete. So sehen wir also den Vater des Erzählers erst unbesorgt, dann furchtsam seinem Tod gegenüber, ihn zuletzt leugnend, bevor er stirbt. Der Kern ist wiederum die Einsamkeit: Die Einsamkeit des Vaters und der Familie, während er stirbt, aber auch die zukünftige Einsamkeit der Mutter, die nach seinem Tod allein auf dem Land leben wird. In diesem zweiten Teil zeigen sich die Verästelungen der Beziehung des Erzählers zu seinen Eltern. Der Vater wird häufig mit dem Sensei verglichen, wobei er in den Augen des Erzählers wegen seiner Offenheit abfällt, wie auch seine ganze Familie.

Unterbrochen wird die Todesszene durch einen Brief des Sensei, der den längsten, dritten Teil des Romans ausmacht und in dem er endlich sein Geheimnis preisgibt. Ich werde nicht im Detail auf diesen Teil eingehen, denn was bleibt schon vom Krieg der Sterne nach dem spoiler? Nur so viel: Der Sensei erzählt von einer Freundschaft, als er Student war, und von seiner Liebe zu einer Frau. Es ergeben sich viele Doppelungen mit den ersten beiden Teilen. Auch der Sensei war Student in Tokio, auch er hatte eine Familie auf dem Land, auch sein Vater starb, während er selbst noch studierte usw. Eine gewisse Selbstverliebtheit und ein unheimlich lauerndes Naturell weist der junge Sensei ebenso auf wie der Erzähler. Die in den Roman eingelassene Briefform allein deutet darauf hin, dass wir es mit einer weiteren formalen Hommage an die Romantik zu tun haben, und wiederum sollten wir dem feinsinnigen Verfasser in seiner Darstellung wohl nicht ganz vertrauen. Die Ähnlichkeit des Erzählers mit dem Sensei, die sich im dritten Teil auftut, ist eines der Elemente, die den Leser am meisten verunsichern. Ist der Brief auch eine Prophezeiung für den Erzähler? Wer weiß, vielleicht wird auch er ein tragisches Schicksal erleiden oder was er dafür hält.

Zurück zum Grüntee. Das eigentlich Bemerkenswerte an Sosekis Romanen, besonders aber an „Kokoro“, ist ihre unaufgeregte Intensität, die von späteren japanischen Autoren wie Akutagawa, Mishima oder Oe weiterentwickelt, aber nicht erreicht wurde. Die Sätze sind beinahe durchsichtig, ohne poetisches Gezappel, ohne Wirkungsdrang. Wenn aber Satz auf Satz fällt, wachsen sie zu ungeheurer Wirkung heran. Es gelingt Soseki mit dem unscheinbaren Satzmaterial ein feines Netz aufzuspannen, das jede Regung des menschlichen Gefühls registriert. Darin liegen die Feinfühligkeit und das Filigrane. Gleichzeitig ist der Leser, der einmal an dieses Netz anstieß, einer Überfülle von Eindrücken ausgesetzt, denn jede emotionale Feinheit ist noch weiter ziseliert, die alle obsessiv vorgetragen und bis in die vollkommene Düsternis einer Analyse der menschlichen Einsamkeitsgefühle geführt werden. Es fehlte nicht viel, und der Leser ginge an dieser Literatur entnervt und schlaflos zugrunde.

Soseki Natsume
Kokoro
Aus dem Japanischen von Oscar Benl - Mit Nachwort von Oscar Benl
Manesse
2016 · 384 Seiten · 24,95 Euro
ISBN:
978-3-7175-2418-2

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