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Der
preußische Bildungsreformer
Lothar Galls Biographie über den Preußen von Welt, Wilhelm von Humboldt
Von Klaus-Jürgen Bremm
Vier Dekaden lang hatte
der ältere Vertreter der beiden berühmten Humboldts ein pflichtfernes,
beschauliches Gelehrtendasein führen können, fast wie Hans Castorp, der junge
Held in Thomas Manns Zauberberg. In einer Zeit politischer Umbrüche und
militärischer Katastrophen beanspruchte Wilhelm v. Humboldt, der fraglos begabte
Sohn eines demissionierten preußischen Offiziers und einer gefühlskalten, aber
begüterten Mutter, möglichst ungestört seine Persönlichkeit in all ihren
Ausprägungen ausbilden zu dürfen. Große literarische Projekte hat er in dieser
Phase seines Lebens geschmiedet, doch keines ist über Fragmente hinausgekommen.
Dass ausgerechnet dieser unstete Aristokrat, der tatsächlich glaubte, ein
Schuster wäre ein besserer Handwerker, wenn er über sein Metier hinaus noch
andere Kenntnisse besäße, das höhere deutsche Schulwesen bis heute geprägt hat,
darf man allerdings als bizarren Anachronismus bewerten. Noch immer ächzen
Gymnasiasten unter dem ambitionierten und viel zu breiten Fächerkanon, der aus
normalen Jugendlichen kleine Leibnize zu formen beansprucht. Schon damals aber
erwies sich Humboldts antikisierendes Bildungsideal als überholt. Immerhin war
es sein jüngerer Bruder Alexander, der mit seiner spektakulären Forschungsreise
in die „Neue Welt“ den damals vorherrschenden Eurozentrismus nachhaltig infrage
gestellt hatte.
Gleichwohl kann man
Wilhelm v. Humboldt, dem ungewöhnlichen „Preußen von Welt“ den Respekt nicht
verweigern, wenn der damals 42–jährige nach zwei Dekaden eines fast unabhängigen
Gelehrtenlebens zwischen Berlin, Paris und Rom, aufgelockert durch zahllose
Amouren, endlich 1809 in die Tretmühle der preußischen Bürokratie eintrat und
als Leiter der Sektion für Kultus und Bildung sogleich einen ungewöhnlichen
Reformeifer entwickelte. In der für heutige Verhältnisse unglaublich kurzen
Spanne von nur einem Jahr hat der bis dahin durch keine besondere Lebensleistung
aufgefallene Botschafter Berlins am päpstlichen Stuhl beinahe im Alleingang ein
Jahrhundertwerk geschultert und das gesamte Bildungswesen des
Hohenzollernstaates vom Kopf auf die Füße gestellt. An der Schwelle zur
Industrialisierung und zum bürgerlichen Zeitalter erwiesen sich viele Eckpunkte,
die Wilhelm v. Humboldt gerade bei der Neuordnung der preußischen
Universitäten durchsetzte, als durchaus zukunftsweisend.
Galt es doch, zwischen Forschung und Lehre ein ausgewogenes Verhältnis zu finden
und gleichzeitig die staatliche Einflussnahme auf finanzielle und
organisatorische Aufgaben zu beschränken. Dieser Ansatz entsprach voll und ganz
Humboldts liberalen Staatsverständnis, das sich nach Ansicht seines Biographen
Lothar Gall beinahe durch die gesamte Vita dieses europäischen Preußen
verfolgen lässt. Der Emeritus für Geschichte und Doyen der deutschen
Historiographie hat nun eine handliche Lebensbeschreibung des älteren der beiden
Humboldts vorgelegt, dessen Stern bisher von den gefeierten Forscherleistungen
des um zwei Jahre jüngeren Alexanders überstrahlt wurde. Leicht zu lesen ist
Galls Text trotz seiner überschaubaren Seitenzahl gleichwohl nicht. Dafür sorgt
allein schon die Vorliebe des Verfassers für lange Schachtelsätze, die nicht
selten bis zu sieben Zeilen beanspruchen. Genau genommen aber erreicht sein Text
auch kaum die Standards einer modernen Biografie, da er die sozialen und
geistigen Kontexte seines Protagonisten nur denkbar knapp skizziert und sich
stattdessen umso mehr mit dessen Anschauungen und Denkschriften befasst, leider
zu oft in zu ausführlichen Paraphrasen. Zu wenig ist aus seinem Text aber über
das preußische Bildungswesen im Ancien Régime zu entnehmen – also über das
Vorher - und über Humboldts Nachwirken im preußisch-deutschen Schulsystem
verliert Gall kaum ein Wort. Zu den besseren Passagen seines Buches zählt
immerhin die Schilderung der Gesandtenzeit in Wien und später in London,
während der jedoch Humboldt trotz ihrer Übereinstimmung in zentralen politischen
Fragen zunehmend in Konflikt zu Staatskanzler Hardenberg geriet. Seine
demütigende Entlassung aus dem Ministeramt im Dezember 1819, schon ganz im
Schatten der Beschlüsse von Karlsbad, nahm der immerhin als Hardenbergs
Nachfolger gehandelte Humboldt mit bemerkenswertem Gleichmut hin, um sich
kampflos seinen verbleibenden 15 Lebensjahren beschaulich der Sprachforschung zu
widmen.
Seinem Biographen scheint das zu gefallen. Zu flüchtig gerät ihm der Übergang
von der Praxis zur Theorie. Jedenfalls versäumt Gall an dieser Stelle, die
politischen Ambitionen und Leistungen seines Protagonisten noch einmal einer
ausführlichen Würdigung zu unterziehen. War der immerhin zweitmächtigste
Politiker Preußens am Ende vielleicht froh, der großen Bühne den Rücken zukehren
zu können? Sein Vorgehen in dieser wohl entscheidendsten Phase seines Lebens
wirkte jedenfalls ungeschickt, sein Widerstand nur halbherzig. Rückkehrpläne
verfolgte er nur halbherzig, obwohl doch Hardenberg schon 1822 auf einer Reise
nach Genua verstarb. Dass sich so ein biographischer Spannungsbogen nur mühsam
aufbaut, wäre als Nachteil vielleicht noch hinzunehmen. Wenn aber ein
renommierter ehemaliger Hochschullehrer mit Spitzenpositionen im
Wissenschaftsbetrieb eine biographische Studie veröffentlicht, in der weder eine
Einordnung in den aktuellen Forschungsstand erfolgt, noch überhaupt neue
leitende Fragen aufgeworfen werden, die ein derartiges Vorhaben wissenschaftlich
rechtfertigen könnten, ist man als Leser doch irritiert.
Um es klar zu sagen: Wohl kein Habilitant wäre mit einer vergleichbaren
Narration beim Verfasser durchgekommen. Galls durchweg beengter Blick auf seinen
Protagonisten verstärkt sich sogar noch im letzten Abschnitt seiner Biographie,
wo er über Humboldts letzte Jahre als Pensionär, Bauherr und Sprachforscher
berichtet. Man mag die ausführlich aus dessen späten Werken referierenden
Passagen gar nicht mehr lesen, zumal sie in der Wissenschaft kaum Spuren
hinterlassen haben. Wie aber sah die Nachwelt diesen „Preußen von Welt“? Was war
sein Vermächtnis und wie wurde es nach seinem Tode rezipiert. Auch hierüber
schweigt diese Biographie, deren abruptes Ende den Eindruck hinterlässt, dass
hier ein schneller Schluss gefunden werden sollte. Die Prognose erscheint nicht
allzu gewagt, dass in Bälde Besseres zu Wilhelm v. Humboldt erscheinen könnte.
Dessen 250-igster Geburtstag fällt ja schon auf das Jahr 2017.
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Lothar Gall
Wilhelm von Humboldt.
Ein Preuße von Welt.
Propyläen
448 Seiten
24,99 €
ISBN 978-3549073698
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