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»...
ich bin der Andere«
Marie Hermansons neuer Roman
»Himmelstal«
Von Jens Dittmar
Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: »Himmelstal«, den neuen Roman der
schwedischen Autorin Marie Hermanson, habe ich fast in einem Rutsch gelesen.
Keine Zeit zum Duschen, Frühstücken oder Schneeschaufeln; keine Lust zum Kochen,
Abwaschen oder Staubwischen. Und auch der Hund hat zwei Tage auf seinen
gewohnten Spaziergang mit mir verzichten müssen. Danach hieß es noch eine Weile
über die Lektüre nachdenken: über Realismus, Dramaturgie und Erzähltechnik; über
Vorbilder, Kitsch und Klischees. Aber vor allem über Psychopathen. – Kennt nicht
jeder von uns einen solchen? Oder habe ich gar selbst pathologische Züge?
»Das Unglück der meisten
Menschen ist,
dass sie mehr Gefühle haben, als sie brauchen.«
Als Daniel seinen Zwillingsbruder in der Luxusklinik Himmelstal in den Schweizer
Bergen besucht und dieser ihm vorschlägt, mal eben mit ihm zu tauschen, weil er
draußen Geschäftliches zu erledigen habe, da ahnt der Leser bereits, dass er in
der Falle sitzt. Denn Himmelstal ist ein Hochsicherheitstrakt, und natürlich
wird Max nicht wie verabredet nach zwei, drei Tagen wieder auftauchen, um
seinen Bruder aus dem militärischen Sperrgebiet zu befreien. Daniel hat keine
Chance, der Hölle von Himmelstal zu entgehen, dafür gibt es von Anfang an
bedrohliche Menetekel an der Felswand: Von »pochender Unruhe« ist die Rede, von
Tannen wie abgebrochene Streichhölzer, und ein Mitbewohner wird gar vermisst.
Alles deutet darauf hin, dass eine Katastrophe bevorsteht. Zuerst tut man so als
ob, und dann ist der Rückweg versperrt – das gehört wesentlich zum Doppelgänger-
oder Zwillingsmotiv. Oder anders gesagt: Ist die Identität erst mal vertauscht,
dann gilt das für den Rest des Lebens. So ist es kein Zufall, dass Daniel
Dolmetscher ist; als Fährmann, der von einer Sprache in die andere übersetzt,
ist er es gewohnt, für die Ansichten anderer verantwortlich gemacht zu werden.
Wie Charon in der griechischen Mythologie, der die Toten über den Totenfluss
rudert, um sie dem Totengott Hades zu übergeben.
Dabei geht es den Patienten in Himmelstal gar nicht mal so schlecht! Himmelstal
ist eine Luxusklinik, ihre Bewohner – Topdogs der Wirtschaft, begüterte
Burnout-Patienten aus aller Welt – genießen alle Freiheiten in dem idyllischen
Gebirgstal. Nur morgens um sieben und um Mitternacht müssen sie auf ihren
Zimmern sein – ansonsten können sie tun und lassen, was sie wollen: angeln,
lesen, essen gehen und sich sogar verlieben … Genau wie bei einem Kuraufenthalt
– Kurschatten inklusive. Dass einige mit Drogen handeln und gewalttätig sind,
gehört ebenfalls zur Normalität. Zugegeben, die Dorfbewohner sind vielleicht
etwas seltsam, aber das ist in der Schweiz genauso wie im Schwarzwald oder im
Allgäu! Oder etwa nicht? – Nur die uniformierten Wachen erinnern daran, dass die
Patienten und alle Bewohner des Tals Gefangene sind. Jenseits der elektrischen
Zone ist die Freiheit wohl grenzenlos, doch leider unerreichbar.
»Die Ruder einem anderen
übergeben. Er brauchte nur einen Passagier zu bitten, eine Weile zu rudern. Dann
war er frei …«
Als Daniel versucht, die Ärzte davon zu überzeugen, dass er kein Patient ist,
sondern Max’ Zwillingsbruder, mit dem er bloß vorübergehend getauscht hat, da
glaubt ihm das keiner. Denn der Bruder, der vor geraumer Zeit zu Besuch kam, sah
ihm noch nicht einmal ähnlich. Jeder kann das bestätigen: Der Besucher trug
Vollbart, während Max eine Kurzhaarfrisur hat. Und außerdem weiß die
Personalakte nichts von einem Zwillingsbruder. Ein Bruder – ja, aber der ist
zwei Jahre jünger als Max, da steht es schwarz auf weiß.
Dieses Gerede vom Rollentausch mit dem Zwillingsbruder ist also nichts weiter
als Symptom seiner Krankheit. Multiple Persönlichkeit, dissoziative Identität,
hohes Gewaltpotential – wenn man eine Theorie hat, dann stellen sich die
Beweise von selbst ein. Max leidet unter einer Identitätsstörung: Er ist ein
Mythomane, und die Lüge ist Teil seiner Persönlichkeit. Da überrascht es nicht,
dass er versucht, sich als seinen Bruder auszugeben, um die Freiheit zu
erlangen. Zwillingsbruder gar! Lächerlich!
Der Psychopath kennt keinen Unterschied zwischen Gut und Böse, ihm fehlt die
Fähigkeit zur Empathie. Dennoch weiß er, dass er nicht stehlen und nicht lügen
darf. Er weiß es nicht aus eigener Anschauung, sondern weil er es gelernt hat.
Wie ein Farbenblinder, der gelernt hat, dass Tomaten rot und Tannen grün sind.
Deshalb kann man Psychopathen auch nicht zur Rechenschaft ziehen. Man kann sie
nur isolieren, um sich vor ihnen zu schützen.
Und während seine Ärztin noch an der Theorie arbeitet, die den angeblichen
Rollentausch psychologisch erklären soll, betritt der Leser den zweiten Kreis
der Hölle: Wer hat die Personalakte manipuliert? Gibt es im Hintergrund noch
jemanden, der ein höheres Ziel verfolgt? Einer, der alle Fäden in der Hand hält?
»Die Speerspitze der
Neuropsychiatrie.«
Wie Daniel schließlich doch freikommt, sei hier nicht verraten. Vielmehr
versuche ich zu begreifen, was mich ergreift (wie Emil Staiger zu sagen
pflegte). Wie schafft es die Autorin, mich derart zu fesseln?
Der Roman besteht aus vier Teilen und sechzig Kapiteln auf 421 Textseiten, das
sind durchschnittlich sieben Seiten pro Kapitel – nicht viel mehr als bei einem
Groschenroman. Das triviale kompositorische Mittel fördert die
Lesegeschwindigkeit und treibt die Handlung voran. Atemlos vor Spannung möchte
man auf den geschliffenen Dialogen vorwärtstreiben, auch wenn man schon ahnt,
worauf alles hinausläuft. Nur – das Ende ist dann doch ein wenig zu willkürlich
und daher enttäuschend.
Wenn man »Himmelstal« dennoch nicht für Trivialliteratur hält, dann wohl, weil
man das Buch symbolisch lesen kann. So gesehen ist die Forschungsklinik ein
Sinnbild der Gesellschaft, eine in sich geschlossene Schöne Neue Welt. Wer drin
ist, kommt nicht mehr heraus, der ist abhängig von den Göttern in Weiß, den
Ärzten. Sie bestimmen die Regeln und entscheiden über Leben und Tod der
Patienten (die euphemistisch Bewohner genannt werden).
Nach Himmelstal gelangt der Reisende aus Schweden nach einer dreistündigen
Autofahrt ab Zürich-Kloten: Willkommen in der Hölle. Da fällt es nicht ins
Gewicht, dass es auf der Alm keine Hotels gibt und Kuckucksuhren eher in den
Schwarzwald gehören als nach Graubünden. Und versuchen Sie mal, einem Schweizer
einen Moselwein zum Trinken anzubieten! – Regine Elsässer, die präzise
Übersetzerin, oder der Lektor hätten ab und zu ruhig eingreifen dürfen, wo der
ortsfremden Schwedin die Detailkenntnis fehlt. Doch fallen solche Kleinigkeiten
kaum ins Gewicht, denn es geht nicht um Mimesis. Offenbar wetteifert Marie
Hermanson mit der Wirklichkeit, und Realismus dient ihr dazu, die Realität zu
übertreffen. In einschlägigen Kreisen spricht man dann von Fantasy, Mystery oder
gar von Horror.
Kann man Aldous Huxleys »Schöne Neue Welt« als Horror bezeichnen? Und ist Marlen
Haushofers »Die Wand«, an die man sich immer wieder erinnert fühlt, vielleicht
Fantasy? – Ich ziehe den Begriff »magischer Realismus« vor und freue mich auf
weitere – auch ältere – Titel der Autorin. Die Bezeichnung »Psychothriller« auf
der Umschlagseite vier soll mich dabei nicht stören, weil solche Etiketten vom
Werbeleiter stammen.
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Marie Hermanson
Himmelstal
Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer
Insel Verlag 2012.
427 Seiten
Klappenbroschur
14,99 Euro
Leseprobe
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