
An Charly Weller ist ein Völkerkundler verlorengegangen, das stellt
er immer wieder unter Beweis. Stattdessen hat sich er sich –
eigentlich ein Filmemacher und zudem der Regisseur zahlreicher
TV-Folgen von »Die Kommissarin«, »Ein Fall für zwei« und anderem –
auf Kriminalromane verlegt. »Totenwind« ist schon sein vierter Fall
für Kommissar Roman Worschtfett, pardon: Roman Worstedt, aus Gießen.
Nach »Eulenkopf«, »Finsterloh« und »Katzenkönig«, nach den
unbekannten und dunklen Ecken von Gießen, Wetzlar und Wien geht es
dieses Mal in zwei neue Habitate menschlich-ach-so-menschlichen
Fehlverhaltens: nämlich zu den Eingeborenen und Eingeplackten im
Vogelsberg und nach Namibia, früher Deutsch-Südwestafrika.
Gut 60 Seiten braucht es, ehe Kommissar Worschtfett seinen ersten
Auftritt hat, ruppig im Taxi unterwegs zu einem Tatort in der Pampa.
Die mysteriösen Todesfälle auf dem Gehöft eines Landadligen und
Weinhändlers werden ihn letztlich bis vor ein »Tribunal zur
Verfolgung von Verbrechen während der Kolonialzeit in Südwestafrika«
in Namibia bringen. Aber erst Mal halblang.
Völkerkundler Charly Weller, der auch ein ziemlicher Feinschmecker
und großer Weinkenner ist, entwirft ein figurenreiches Panorama,
überrascht mit Hunderten von skurrilen Details, steigt mit Blick für
das Signifikante in die deutsche Kolonialgeschichte und ebenso
neugierig in das Seelenleben der deutschen Provinz. Er zeigt uns das
Fremde im Vertrauten, ist ein Schelm und Eulenspiegel. Kein Wunder,
dass sich einer wie Worschtfett immer wieder bei ihm blicken lässt.
Schon das Motto von Thomas Pynchon aus »Die Enden der Parabel« zeigt
die Richtung an, die dieses Buch wohl nehmen wird: »Einst behandelte
Deutschland seine Afrikaner wie ein strenger, doch liebender
Stiefvater, der sie bestrafte, wo es geboten schien, nicht selten
mit dem Tod … Heute lebt der Herero unter dem Dach seines
Stiefvaters … Er bleibt wach nach den Sperrstunden und beobachtet
seinen schlafenden Stiefvater unsichtbar. Im Schutz der Nacht, die
seine eigene Farbe trägt. Was denken all diese Hereros? Wo sind sie
heute Nacht? Was tun sie jetzt, in diesem Augenblick, eure dunklen,
geheimnisvollen Kinder?«
Diese Kinder, sie sind die Geister und die Schatten der
Vergangenheit, und die greift ins Heute, beschert Worschtfett und
seiner Kollegin Regina Maritz Arbeit. Um ihren Fall aufzuklären,
nehmen die beiden, die sich gerne kabbeln und nicht immer am
gleichen Strang ziehen, zum Ende hin sogar gefährliche Identitäten
an, schlüpfen – wie unbeabsichtigt auch immer – in die Haut der
früheren Täter. Neben all dem Spaß, den man in Charly Wellers
Kriminalromanen garantiert serviert bekommt, gibt es bei ihm eine
politische Ernsthaftigkeit, die sich sehen lassen kann. »Unter
anderen Umständen hätten wir vielleicht richtige Freunde werden
können«, verabschiedet sich Wortschfett am Buchende von einem
Herero-Rächer, den er in Deutschland hätte verhaften müssen, der in
Namibia aber Teil einer, wenn auch späten Gerechtigkeit geworden
ist.
Jedoch, wo Ernst ist, da darf bei Charly Weller auch gehörig Komik
sein. Das U- und E-Problem steckt er locker in einen Sack. Und in
dem stecken wieder viele schöne Gaben. Nach dem Manischen in Gießen,
dieser von seltsamen Menschen gesprochenen seltsamen alten Sprache
(auch Til Schweiger ist mit ihr aufgewachsen), bringt Weller uns in
»Totenwind« den Vogelsberg näher, wo die Landwirte Torfstechermützen
tragen und nicht gerade leichte Dialekte wie das »Grimcher Platt« zu
meistern sind. Kapitel mit Überschriften wie »Abbene Kuppe« oder,
besonders köstlich, »Dick Mock«, künden davon. Geradezu dadaistisch
geht es bei einer dem F.W.-Bernstein-Stück »Das Landexamen«
nachempfundenen Mundartprobe zu, wo es unter anderem korrekt
auszusprechen gilt, wie das Mutterschwein auf Weikartshainerisch
heißt – wie in Maar, in Stockhausen, Ulrichstein oder Volkartshain.
Manchmal ist das eine »Fregglsau«, manchmal eine »Mock«. Unnützes
Wissen, natürlich. So wie auch das, was eigentlich in einer
Boerewors steckt, in der namibischen Grillwurst. Oder was es mit dem
Fälschen von Weinetiketten auf sich hat, mit dem Gehabe mancher
Weinkenner, mit Bordeaux-Protzereien und mit den sogenannten
Bonzen-Tropfen, »die nicht gekauft wurden, um sie zu trinken,
sondern um im Freundeskreis damit zu protzen«. Reminiszenzen an das
»Gargantua« von Klaus Trebes dürfen hier nicht fehlen.
Letztlich führen all diese Sinnesfreuden dann zu der namibischen
»Liebig’s Extract of Meat Company« (kurz LEMCO), zur Mutter aller
Brühwürfel, benannt nach dem Gießener Chemiker Justus von Liebig. Im
Khoma-Hochland weideten dafür einmal Rinder auf 200.000 Hektar
Farmland. Die Geschichte des Brühwürfels, so zeigt uns Charly
Weller, ist auch eine der Nilpferdpeitsche. »Sjambok« heißt sie in
Namibia. Koloniale Ausbeutung, anschaulich gemacht. Würfelgroß.
Die Krimis von Charly Weller funktionieren oft wie ein Kaleidoskop.
Immer wieder verschieben sich die Blickwinkel, verschränken sich
Details, wird es bunt und farbig und ein wenig gaga. Wird aus Spaß
ein Ernst, und umgekehrt. Da werden einer reichen Frau auf ihrem
Liegestuhl am Pool einer Villa in Bad Homburg vier Finger abgehackt,
um an ihre Brillanten zu kommen, da sieht ein Finanzer in einem
Penthouse in der Frankfurter Stiftstraße kostümiert aus wie für
einen Maskenball von Gordon Gecko aus »Wall Street«, da dreht ein
Frankfurter Filmemacher im Vogelsberg »Entspannungsfilme ganz ohne
Spuren der Zivilisation«, da soll ein Windrad höher als die Türme in
Abu Dhabi wachsen, da hat ein Vorfahr eines Mordopfers während der
Kolonialzeit Hunderte von Eingeborenen enthauptet und deren Schädel
an die Charité und andere medizinische Einrichtungen im deutschen
Kaiserreich zur rassenhygienischen Forschung veräußert. Und das ist
wahr.
Artikel
online seit 07.01.18
Wir danken dem
Strandgut - Das Kulturmagazin für Frankfurt & Rhein-Main |
Charly Weller
Totenwind
KBV Verlag, Hillesheim 2017
314 Seiten, 10,95 Euro.
Die Vorgängerromane:
Eulenkopf (2014), Finsterloh (2015), Katzenkönig (2016).
Eine
Premierenlesung für Frankfurt wird am 8. März um 20.30 bei 7 €
Eintritt im Ypsilon auf der Bergerstraße stattfinden.
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