Anfang 2013, als der Spielraum für freie Meinungsäußerungen vergleichsweise groß war, erklärten die Kader in Peking wie in den Provinzen ihre Bereitschaft, der ungeschönten Kritik der Bevölkerung ihr Gehör zu schenken. Die staatlichen Medien blieben natürlich unkritisch wie immer, aber selbst auf Mikroblogging-Portalen wie Weibo fand man keine Spur von Kritik, sondern bloß immer wieder dieselbe Mitteilung: »Dieser Text wurde leider gelöscht.«
Dieser scheinbare Widerspruch – offiziell wurde Kritik willkommen geheißen, tatsächlich aber zensiert – ist in Wahrheit nicht weiter verwunderlich. In den Augen der meisten Kader würde eine massive Kritik ihr Unvermögen zu regieren bloßstellen. Deshalb führen sie ihre angebliche Offenheit gegenüber Kritik nur als Phrase im Mund, während sie in Wirklichkeit kritische Stimmen unterdrücken, wo sie nur können.
Seit der Gründung von Weibo im Jahr 2009 werden dort Beiträge gelöscht. Je beliebter Weibo geworden ist, desto zahlreicher sind auch die »Leider-gelöscht«-Vermerke geworden. Teilweise erfolgt diese Zensur auf Geheiß der Regierung, teilweise aber auch auf Betreiben der Websites selbst. Warum? Um des Profits willen. Die chinesischen Internetunternehmen sind weitgehend in privater Hand. Sie wagen es nicht, die Regierung vor den Kopf zu stoßen, denn im Falle von staatlichen Repressionen würden ihre Gewinne so schnell versiegen, wie sie vorher gesprudelt sind. Deshalb löschen die Unternehmen heikle Beiträge aus eigenem Antrieb. In der Internetgemeinde hat ihnen das einen Spottnamen eingetragen: »Eunuchen, die sich selbst kastriert haben«.
Doch die Websitebetreiber löschen nicht nur kritische Beiträge und Konten – im Stillen fördern sie zugleich kritische Stimmen. Auf meinem Weibo-Account erreichen mich regelmäßig Mitteilungen, die mich darauf aufmerksam machen, dass der nicht mehr aktive Account von Sowieso unter dem Namen XY wiederauferstanden sei. Und warum? Einmal mehr um des Profits willen. Weibo und seinesgleichen leben von ihrer Dynamik, von der Größe ihrer Datenflüsse. Nur so können sie auch in Zukunft Gewinn erzielen. Und deshalb brauchen sie regimekritische Stimmen, denn die Bevölkerung hört solche Stimmen gern.
Natürlich schlagen die Websitebetreiber dabei nicht über die Stränge. Sie kennen das Maß an oberflächlicher Kritik, das die Regierung toleriert, und bemühen sich, die Kritik in diesem Rahmen zu halten – so als würde der Wolf zum Lamm sagen: »Du darfst gern ein bisschen blöken – aber nicht so laut, dass du den Jäger alarmierst.«
Doch weil sich die kritischen Stimmen immer zahlreicher, schärfer und lautstärker zu Wort meldeten, reagierten die Kader äußerst ungehalten. Und so wurde die Mitteilung »Dieser Text wurde leider gelöscht« zum häufigsten Satz auf den Mikroblogging-Websites.
Jemand hat mich mal gefragt, wann in China endlich Meinungsfreiheit im vollen Sinne des Wortes herrschen werde. »Wenn der Satz ›Dieser Text wurde leider gelöscht‹ aus dem Internet verschwunden ist, dann ist China vielleicht nicht mehr weit von einer echten Meinungsfreiheit entfernt«, so hatte ich geantwortet.
Die nachfolgenden Ereignisse zeigten, wie lächerlich falsch ich mit meinem Optimismus lag. Im August 2013 startete die Regierung einen groß angelegten Feldzug gegen Internet-»Gerüchte«. Dabei wurden allein auf Weibo, der wichtigsten Plattform für kritische Stimmen, über hunderttausend Accounts dauerhaft geschlossen.
Auf vielen dieser Accounts waren tatsächlich haltlose Gerüchte gestreut worden, aber auf vielen anderen hatten Regimekritiker ihre Stimmen erhoben. Tatsächlich war die Kampagne gegen »Gerüchte« bloß vorgeschoben, und die eigentliche Attacke galt den Kritikern.
Im Oktober 2013 war dann der Satz »Dieser Text wurde leider gelöscht« aus Weibo verschwunden. Die kritischen Stimmen waren mundtot gemacht, und wenn sich doch einmal eine zu Wort meldete, fiel ihre Kritik so harmlos aus, dass sie keiner Zensur bedurfte.
Über drei Jahre lang hatte ich die »Gelöscht«-Phrase verabscheut und ihr Verschwinden herbeigesehnt, aber als sie dann tatsächlich verschwunden war, begriff ich, dass keine Meinungsfreiheit Einzug gehalten hatte, sondern nur eine noch schärfere Kontrolle.
Im Dezember sprang mir die Phrase auf Weibo unversehens wieder ins Auge – freilich nicht mehr so massenhaft wie zuvor, sondern nur noch vereinzelt. Und dennoch fühlte ich eine solche Erleichterung, als wäre ich aus dem Wasser emporgetaucht und könnte wieder Atem holen. Die Phrase erregte nicht länger meinen Abscheu, sondern mein Wohlgefallen; ich hoffte nicht mehr, sie würde verschwinden, sondern sie würde Weibo überschwemmen.
Als die Phrase Vergangenheit schien, waren manche meiner Freunde angesichts der Zukunft Chinas in Pessimismus verfallen. Ich nicht. Seit China vor über dreißig Jahren den Weg der Reform und Öffnung eingeschlagen hat, wechseln sich politisch liberalere Phasen beständig mit repressiveren Phasen ab. Ich habe mich an diese Pendelbewegung gewöhnt.
Bald, so glaube ich, werden uns die Kader einmal mehr versichern: »Die Partei und die Regierung müssen sich der Aufsicht und Kritik durch das Volk stellen.« Solche Phrasen dreschen sie seit der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 und werden das auch weiter tun. Mein Gefühl sagt mir: Je mehr sie solche Worte im Mund führen, desto häufiger werden wir die Mitteilung »Dieser Text wurde leider gelöscht« zu sehen bekommen.
Das erinnert mich an eine Geschichte aus dem Altertum: Ein Mann aus dem Reich Chu überquert in einem Boot einen Fluss. Als ihm aus Versehen sein Schwert ins Wasser fällt, ritzt er eine Kerbe in die Bootswand – zum Zeichen: »Hier habe ich mein Schwert verloren.« Am anderen Ufer angelangt, springt er dort, wo die Kerbe ist, ins Wasser – aber natürlich findet er sein Schwert nicht mehr.
Auf die Gegenwart übertragen, lässt sich diese Geschichte wie folgt auslegen: Wenn unsere Kader nach außen hin Kritik aus der Bevölkerung willkommen heißen, dann ist das, als würden sie dort, wo das Schwert in den Fluss gefallen ist, eine Kerbe ins Boot ritzen – um dann hinterher das Schwert vergeblich zu suchen. Und das Ufer verkündet: »Dieser Text wurde leider gelöscht.«
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

Yu Hua ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Chinas. Seine Bücher haben sich in China Millionen Mal verkauft. Dass sein neues Buch ›China in zehn Wörtern‹ von den Chinesen verboten wurde, liegt weniger an seiner Kritik am heutigen China als an den Parallelen, die er zwischen der Kulturrevolution und dem neuen kapitalistischen System zieht. Wie zu Zeiten Mao Zedongs, sieht Yu auch heute Unmenschlichkeit und Gewalt. Der Großteil der chinesischen Gesellschaft profitiert nicht vom Wohlstand, sondern wird auf brutale Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die persönlichen Essays lassen aber auch Yus Verbundenheit zu seinem Heimatland erkennen. ›China in zehn Wörtern‹ wirft einen ganz anderen, einen neuen Blick auf ein Land, von dem noch viel zu erwarten ist.