Liebe Lore!
Ich war gestern schon ganz sauer, daß garnichts von Dir eintraf und hatte Lust, einen ganz harten Brief an Dich zu schreiben, etwas in dem Tenor, daß die Frauen nur ans Ficken denken und ihnen die Freundschaft ganz egal ist.
Heute nun kam Dein herrliches und untergründig anzügliches Foto mit dem wundervollen Text, wie hast Du das schwierige Faktum souverän ausgedrückt.
Ich arbeite wie ein Verrückter und will bis zum 31. März ein Theaterstück fertighaben. Dann bin ich wieder freier.
Ich kämpfe täglich, stündlich mit dem Problem Serge. Ich spreche überhaupt nicht davon und noch dazu versteht er nicht. Garnicht. Es ist grausig. Andererseits was soll ich in Hamburg machen um zu leben.
Sprich nicht mit Mutter davon, auch nichts von meinem Stück bei Dumont.
Ende März kannst Du wohl kommen, um die Aufnahmen von Serge zu machen. Dann können wir zusammen nach Paris fahren unter der Bedingung völliger Mitleidslosigkeit und gegenseitiger sinnlicher Freiheit. Ich bin nicht mehr bereit, irgendeine leidenschaftliche Bindung einzugehen. Ich habe keine Lust mehr, kuhäugige Blicke zu werfen und mit kuhäugigen Blicken angesehen zu werden. Ich will Freiheit, Freiheit – und dazu bedarfs Witzes und Lachens.
Ich bin sicher, Du verstehst meine groben Worte. Aber ich werde täglich unbewußt moralisch erpreßt. O Gott – ich führe lieber jetzt als morgen. Und es ist seltsam, dieser Befreiungstrieb zerstört alles andre. Ich liebe Serges Bruder nicht mehr. Ich habe keine Lust mehr, Schafe zu hüten. Und dabei leidet der Arme wie am Spieß.
An meiner Freundschaft mit Dir ist mir sehr viel gelegen und vielleicht Dir ja auch ein bißchen. Ich hoffe, daß es nie mit uns dahin kommt, denn Du bist mir in Deiner Amoralität sehr verwandt und distanzierst die Geschehen besser als Serge.
Ich darf über das alles garnicht nachdenken.
Ich flüchte in die Arbeit wie ein Besessener und es geht einigermaßen.
Leider nimmt mich das Stück so in Anspruch, daß ich gar keine Kraft habe, mich mit Kurzgeschichten zu befassen. Aber sicher flaut diese Engagiertheit einmal ab und dann – in dieser Lücke, werde ich dann ein paar Kurzgeschichten schreiben.
Heute schicke ich Dir nur eine trockene Distel, keine duftige, fleischliche Nelke. Aber die Distel ist etwas sehr Schönes. Sie kennt das Glück der Einsamkeit. O – wie genieße ich, wenn ich einmal ein paar Stunden alleine im Atelier arbeiten kann.
Herzlich und hart
Hubert

Anfang der Sechzigerjahre lernten sie sich kennen: Hubert Fichte, der junge und ambitionierte Schriftsteller, der seine Homosexualität zum Programm erhob. Und die Architektur-Fotografin Leonore Mau, die das bürgerliche Familienleben satt hatte. Es entstand eine außergewöhnliche Liebesbeziehung und produktive künstlerische Arbeitsgemeinschaft, die bis zu Fichtes Tod 1986 anhielt. Die rund achtzig erhaltenen Briefe Fichtes an Leonore Mau zeugen von einem schonungslosen Umgang, vom Ringen um Autonomie innerhalb der Beziehung und von dem unbedingten Willen, ihre gemeinsame Kunst durchzusetzen. Sie überraschen aber auch durch Fürsorge und das tiefe Vertrauen, auf dem diese offene und doch innige Partnerschaft beruhte. Der von Peter Braun herausgegebene Band erscheint im Herbst 2016.