»Da ist doch was faul«, sagte er.
»Wo …«
»Die beiden da auf dem Fahrrad. Wir haben verdammt nochmal Mitternacht.«
»Ich dich auch.« Lugo legte auf.
Sie fuhren noch zwei Blocks in unruhigem Schweigen, bis Lugo schließlich sagte: »Du bist dran, Dicker …«
»Okay, Licht aus, ranfahren, dann wollen wir doch mal sehen …«
Und da kamen sie schon, der Junge an die Brust des Schwarzen gelehnt, den Blick zu ihm hinaufgerichtet. Daley stellte sich ihnen in den Weg. »Hey, Tag auch, würden Sie bitte absteigen?«
»Was gibt’s denn?« Der Schwarze lächelte unter seiner Dreadlockkrone, als wäre es ihm eine unverhoffte Freude.
»Schon mal was von Helmen gehört?«
»Ah.« Er zuckte zusammen. »Tja, tut mir leid, normalerweise …« Er setzte den Jungen auf dem Gehweg ab.
»Na, Großer« – Lugo zwinkerte dem Jungen zu –, »wie heißt du denn?«
»Noah Rosenberg?«, antwortete er, als wäre er sich nicht sicher. Er hielt eine kleine, zerknitterte braune Papiertüte in der Hand.
»Noah, komm mal her, Kumpel.« Mit einer Hand auf seiner Schulter führte Lugo ihn zum Taxi. Als der Schwarze ihm, noch immer lächelnd, folgen wollte, hielt ihm Daley die Hand vor die Brust. »Hiergeblieben.«
»Nein, ich wollte nur …«
»Kann ich mal einen Ausweis sehen?«
»Was?« Nervös lächelnd reckte er den Hals, um nach dem Jungen zu sehen.
»Ausweis … Nicht ihn angucken, mich angucken.«
»Nein, ich wollte ihn gerade nach Hause fahren zu seiner Mom.«
»War das die Frage?«
»Nein, ich bin nur … Ich arbeite bei Zeigler.«
»Noch mal: War das gerade die Frage?«
»Nein, ich bin nur …«
»Wieso versuchen Sie mich abzulenken?«
»Mach ich doch gar nicht.«
»Schön hierbleiben.«
»Kein Problem.« Er zog seinen Führerschein aus einem Packen Kreditkarten, der von Gummibändern zusammengehalten wurde, dann winkte er dem Jungen zu.
»Was hatte ich Ihnen gerade gesagt?«
»Nein, das ist doch bloß wegen Noah, er ist ein bisschen überspannt.«
»Tatsächlich.« Daley deutete auf den Straßenrand. »Setzen Sie sich.« Der Mann folgte der Anweisung und streckte die Beine in den Rinnstein, Hände auf den Knien, noch immer lächelnd. Er spielte mit.
»Ein bisschen spät für so eine Spazierfahrt mit einem kleinen Jungen, oder?« Daley richtete sein Maglite auf den Führerschein.
»Schon, nein, meine Schicht sollte …«
»Und wo wollten Sie noch mal hin mit ihm?«
Zwanzig Meter entfernt stand der Junge vor dem Taxi. Lugo strahlte ihn an, als wäre er aus irgendeinem Grund stolz auf den Kleinen.
»Also, Noah, stimmt’s?«
»Jawoll«, zirpte der Junge. »Und zum einmillionsten Mal: Ich habe keine Arche.« Er sprach auf eine überdrehte Art präzise.
»Das kriegst du oft zu hören, hm?«
»Gott, Sie machen sich keine Vorstellung.«
»Noah, ich heiße Donny.«
»Hi.«
»Wie alt bist du, Noah?«
»Nächste Woche ganz genau ein Jahrzehnt.«
»Prima. Und wo wohnst du?«
»Avenue D 333?«
»Ja? Bei wem denn?«
»Meiner Mutter?«
»Gehst du da hinten auch zur Schule?«
»Auf die Earth School.«
»Klar. Was hast du denn da in der Tüte? Kann ich mal sehen?«
Der Junge reichte sie ihm, und Lugo blickte hinein. »Und, wer ist das?« Er gestikulierte vage in Richtung Fahrrad.
»Also, Ihren Freund da kenne ich ja nicht, aber mein Freund heißt Cleve.«
»Cleve. Weißt du denn auch, wie Cleve mit Nachnamen heißt?«
»Carter. Cleve Carter. Manchmal nenne ich ihn Coca Cola.«
»Das ist ziemlich lustig. Wie lange kennst du ihn denn schon?«
»Ein, also, genau anderthalb Jahre? Er ist jetzt so was wie mein Patenonkel, weil mein anderer Patenonkel gestorben ist?«
»So so. Wo wollt ihr denn hin?«
»Zu mir nach Hause. Er hat mich vom Spielen abgeholt.«
»Also kennt deine Mom ihn.«
»Na, die sind praktisch Freunde.«
»Praktisch?«
»Sie übernachten gegenseitig.«
»Er und deine Mom.«
»Genau.«
»Wie heißt denn deine Mom?«
»Adinah? Manchmal nenne ich sie Adrenalin.«
»Und sie weiß, dass du jetzt mit ihm unterwegs bist?«
»Sie hat ihm doch gesagt, dass er mich abholen soll. Mein Vater wohnt in Woodstock.«
»Cleveland also.« Daley studierte den Führerschein. »Hier steht, Sie sind aus Ohio.«
»Ursprünglich.«
»Cleveland aus Ohio, hm?«
»Eigentlich bin ich aus Oxford.«
»Ach, das ist doch … Miami College?«
»Genau.«
»Wally Szerbiac.«
»Etwas vor meiner Zeit.«
»Der Typ hat die Uni erst bekanntgemacht. Haben Sie auch für die gespielt?«
»Bloß Fußball.«
»Echt? Ich bin Fußballtrainer. Long Island.«
»Super.« Er hob den Hintern vom Kantstein und klopfte sich den Dreck von der Unterseite seiner Schenkel.
»Genau«, sagte Daley, »ich warte immer noch drauf, dass dieser Sport richtig einschlägt, aber allmählich gebe ich die Hoffnung auf, verstehen Sie?«
Ein Schwarzer, der Cleveland auf dem Kantstein sitzen sah, brüllte aus dem Beifahrerfenster eines Mustang, die hohlen Hände zum Trichter geformt: »Bruder an Zentrale! Bruder an Zentrale! Ein Nigger am Boden. Ich wiederhole! Nigger am Boden!« Lachend zog er den Kopf ein. Als der Mustang nordwärts zur Houston röhrte, blickte Cleveland nach Süden Richtung Broome und blinzelte die Essex hinunter, als wollte er in der Ferne etwas erkennen.
»Dieser Cleve, wohnt der bei euch?«, fragte Lugo Noah.
»Nee, der wohnt Avenue B 210, wir Avenue D 333.«
»Schon mal bei ihm gewesen?«
»Bloß eine Million mal.«
»Mit deiner Mom?«
»Und alleine.«
»Nur du und Cleve?«
»Ich und Coca Cola.«
»Was macht ihr dann so?«
»Manchmal führen wir seinen Hund Mars aus – das ist ein Afrikanischer Löwenhund«
»Ach ja? Und sonst?«
»Na ja, er wollte mir beibringen, wie man Spiegeleier macht, aber da hab ich irgendwie Angst vor, weil sein Herd, die Brenner sind so, da hält man das Streichholz dran, dreht das Gas auf und PAFF.«
»Wow.«
»Und einmal war ich drei Tage bei ihm, weil da musste meine Mom in Woodstock vor Gericht.«
»Vor Gericht«, wiederholte Lugo mit Blick auf Daley, auf den Mann am Kantstein, der die Beine von sich streckte, als wollte er sich für ein Rennen warmmachen.
»Aber die meiste Zeit?«, sagte Noah, »also, circa achtzig Prozent der Zeit: würde sagen, da gucken wir fern.«
»Du und Cleve …«
»Genau.«
»Macht ihr auch noch andere Sachen?«
»Was denn …«
»Keine Ahnung. Irgendwas.« Ihre Blicke trafen sich, dann: »Irgendwas.«
Der Junge sah aus, als wüsste er nicht weiter, als kämpfte er mit sich, als würde ihm hinter den Augen etwas dämmern. Lugo atmete stockend ein, trat näher, tippte auf die Marke an seinem Gürtel. »Hey, Noah«, er flüsterte beinahe, »weißt du, was das ist?«
»Eine Polizeimarke.«
»Das ist korrekt. Und weißt du auch, was das bedeutet?«
»Was denn …« Der Junge bekam fast keine Luft mehr.
»Das bedeutet, dass du mir alles sagen kannst und vollkommen sicher bist. Verstehst du mich?«
Noah spitzte das Kinn auf Lugos Gesicht und schwieg einige Sekunden, dann platzte es aus ihm heraus.
»Oh Gott«, heulte er, »sperren Sie ihn jetzt ein?«
»Wieso?«, krächzte Lugo; er atmete flach.
»Wenn ihr Arschlöcher ihn noch ein einziges Mal einsperrt, weil er schwarz ist und ich nicht, dann bringe ich mich um, das schwör ich euch.«
»Moment, Moment, ganz ruhig, ganz ruhig.«
»Hey, Noah, Kumpel!«, rief Cleve.
»Halt!« Daley baute sich vor ihm auf. »Was hatten wir gesagt von wegen mit ihm reden?«
»Nein, ich wollte doch bloß …« Clevelands Lächeln brach in den Augenwinkeln.
»Ihr habt ihn in Handschellen gepackt, als er mich von der Schule abholen wollte, ihr habt ihn aus unserer Wohnung geschleift, weil die Verrückte nebenan gesagt hat, er ist ein Vergewaltiger, wegen euch musste ich auf meine Mom warten, als er mit mir zum Jahrmarkt ist …« Noah strömten die Tränen übers Gesicht, seine Augen glänzten wie nasser Stahl. Lugo sah Daley an und zuckte hilflos mit den Schultern.
Vom Kantstein aus blickte Cleveland vorsichtig in Richtung des Jungen, dann holte er sein Handy aus der Jackentasche. »Officer, wollen Sie das hier vom Tisch haben? Wie wär’s, wenn ich für Sie Noahs Mom anrufe?«
»Wie wär’s, wenn ich sie anrufe«, erwiderte Daley und holte sein Handy raus. »Der Name noch mal?«
»Adinah.«
»Bobby.« Daley winkte Lugo halb zu. »Name der Mom?«
»Adinah«, rief Lugo. Es klang, als würde er in kabbeliger See Wasser treten.
Zu Cleveland: »Nummer?«
Als Daley wählte, suchte Cleveland erneut Noahs Blick, aber der Junge war in Tränen aufgelöst und schluchzte den verwirrten Cop an.
Die Frau nahm beim ersten Klingeln ab.
»Ja, hallo, hier Sergeant Daley vom siebten Revier, mit wem spreche ich?«
»Adinah Rosenberg, was ist passiert?« Ihre Worte türmten sich aufeinander.
»Ich muss Sie fragen, wissen Sie, wo sich Ihr Sohn zurzeit auf hält?«
»Was?«, hauchte sie, »was ist passiert …«
»Adinah, ganz ruhig, reine Information.«
»Er müsste auf dem Heimweg sein, mit Cleve, um Himmels willen, was ist passiert!«
Cleveland saß da mit geneigtem Kopf, um die blecherne Hysterie aufzufangen, die aus Daleys Apparat drang; das Überlebenslächeln war noch da, erreichte jedoch die Augen nicht mehr.
»Nein, nein, nein, es geht ihnen gut, geht ihnen gut, also, wir hatten bloß, wir mussten das Fahrrad anhalten, weil die beiden keine Helme tragen …«
»Ach, Gott sei Dank, wie geht es Noah?«
»Mom sagt, wenn ich es nicht schaffe, weniger nervös zu sein, muss ich höchstwahrscheinlich bei meinem Vater in Woodstock wohnen!«
»Gut geht’s ihm«, sagte Daley.
»Ach, Gott sei Dank, Sie haben mich zu Tode erschreckt.«
»Na ja, das ist ein schwerer Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften. Ich meine, strenggenommen müssten wir die Personalien aufnehmen, aber …«
Nach einer halbherzigen Predigt über Fahrradhelme durften Cleveland und Noah wieder aufsteigen, der Junge auf der Fahrradstange noch im Nachbeben seines Heulkrampfs, Cleveland weiter lächelnd. »Hey, so was kommt vor«, flüsterte er dem Jungen ins Ohr, als er sich vom Sattel erhob, um sich abzustoßen.
Kurz darauf fuhren auch Lugo und Daley davon, rollten nachdenklich von ihrer Seite der Bowery zum East River.
»Scheiße, ich hab noch die Tüte von dem Jungen«, sagte Lugo.
»Was ist denn drin?«
»Gameboy und Unterhose.«
»Unterhose?«
Lugo zuckte mit den Schultern.
Sie fuhren eine langsame Schleife unter der Überführung der Williamsburg Bridge und von dort westwärts auf der Delancey.
»Weißt du was?«, sagte Daley schließlich.
»Was denn?«
»Da ist doch was faul.«
»Wir haben’s versucht, Dicker. Viel mehr kann man nicht machen.«
Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow

Nachtschicht in Manhattan: Billy Graves ist ein ruheloser Cop. Energy-Drinks und Zigaretten halten ihn wach, während er in den frühen Morgenstunden die Blocks in New York City abfährt. Billy und vier seiner Freund bilden den harten Kern der Wildgänse - einer Gruppe vom Leben gezeichneter Cops und Ex-Cops in Manhattan, New York. Vergangene Untaten schweißen sie zusammen. Billy fristet, seit er bei einem Schusswechsel einen zwölfjährigen Jungen getötet hat, seine Zeit als Detective in der Nachtschicht. Wie seine vier Kollegen hat auch er einen Unantastbaren, einen skrupellosen Mörder, den er nie dingfest machen konnte. Als er einen der Unantastbaren in einer gigantischen Blutspur entlang einer Subway-Station findet, gerät die ungesühnte Vergangenheit wieder an die Oberfläche, und Billy beginnt, gegen seine engsten Vertrauten zu ermitteln. Ein fesselnder New York-Roman, knallhart, fesselnd und gnadenlos gut.
Gewinner des deutschen Krimi Preises 2016