Ihr werdet ja sehen!
Italo Calvinos ›Cosmicomics‹
Das letzte Buch, das Calvino eigenhändig verabschiedet und veröffentlicht hat, ein knappes Jahr vor seinem plötzlichen Tod im September 1985, ist für mich sein schönstes, reichstes, tiefstes, heiterstes, hintergründigstes, phantastischstes, schwerelos-komischstes und philosophisch-kosmischstes Buch, ich könnte auch sagen: die narrative und spekulative Summa dieses großen italo-kosmopolitischen Dichters und Denkers. Wer dieses Buch noch nicht kennt, ist zu beneiden, denn er hat seine jungfräuliche Lektüre noch vor sich. Die ist ein großer Genuß, dank einer Reihe unerhört kühner, wahrhaft atemberaubender Erfindungen: Erzähler ist einer, der alles miterlebt hat, was jemals im Universum geschehen ist, der unerklärlicherweise seit den Ur-Anfängen der Zeit und des Raumes immer schon da und überall dabei war, ein höchst vielgestaltiger Ich-Erzähler namens Qfwfq(!), der meistens irgendwie anthropomorph erscheint, aber auch mal als einzelliges Wesen, das sich teilt, mal als Molluske im lauwarmen Meereswasser oder als letzter Dinosaurier unter den »Neuen« auftritt, nicht ohne zwischendurch wiederholt ein ganz normaler New Yorker zu sein (im Klappentext der amerikanischen Ausgabe wird er definiert als »a protean being as old as the universe and as new as the latest racing car«).
Solch einer also erzählt hier im Plauderton eines vielgereisten alten Onkels aus höchstpersönlich-eigener Erfahrung, wie sich der Kosmos gebildet und entwickelt hat: Vom Urknall (in der wunderbar heiteren Ur-Liebes-Geschichte ›Alles in einem Punkt‹) und sogar noch von dem, was dem Urknall vorausgegangen sein muß (›Das Nichts und das Wenige‹), reicht der Bogen über die Ausdehnung des Makrokosmos der Galaxien sowie des Mikrokosmos der Moleküle, Atome und Zellen bis zu dem relativ späten Schritt des Lebens aus der seichten Lagune aufs feste Land und dem noch viel späteren mysteriösen Aussterben der Dinosaurier, von der Geburt des Lichts, der Farben, der Sehkraft (und mit ihr der »Sterbensverliebtheit«) bis zur Erfahrung des Todes (und des Weiterlebens in der Meiose).
Ort der Handlung ist im Wortsinn der Gesamtraum des Ganzen, das All: die Erde, das Sonnensystem, die Milchstraße, die Galaxienhaufen, aber auch ein sehr realistisch geschildertes New York und die Poebene zwischen Pavia und Mailand. Für Calvinos Erzähler ist es ein leichtes, in einem Atemzug vom Andromedanebel und von den Vogesen zu sprechen.
Was hier vielleicht noch als pure Spielerei anmuten mag, erweist sich indessen bald als nur oberflächlich verhüllter, ziemlich bitterer Ernst. Gleich das Thema der ersten Erzählung (›Der Onkel im Wasser‹: Wir sind ja soo hoch entwickelt, aber wir haben leider noch immer einen peinlichen proletarisch-plebejischen Rest...) ist die Dialektik der Evolution, der Fortschritt als ein womöglich irreparabler Verlust.
Die zweite Erzählung, in der Qfwfq von seinem Leben als letzter Dinosaurier erzählt, behandelt im Grunde die Vergeblichkeit aller Kommunikationsbemühungen über Klassen- und Rassenschranken hinweg, und beinahe alle Erzählungen sind unter der Hand auch Liebesgeschichten unter dem Motto ›Sie konnten zusammen nicht kommen‹.
Zwanzig Jahre lang hat Calvino an diesem Buch geschrieben: Von den insgesamt 29 Erzählungen sind die ersten 12 bereits 1965 erschienen, und zwar unter dem Titel Cosmicomiche – ein Kunstwort aus cosmico = kosmisch und comica = komischer alter Stummfilm in Slapstick-Manier, im Plural auch interpretierbar als ironische Übersetzung von comics, daher stammt der im Deutschen anglisierte Titel.
Fünf weitere folgten zwei Jahre später zusammen mit jenen vier »deduktiven Erzählungen«, die von einigen KritikerInnen als bloßer Anhang abgetan werden, in Wahrheit aber wohl die logische Folge und konsequente Bündelung des Ganzen darstellen: beklemmende Exerzitien über die Existenz von Raum und Zeit, über das Gefangensein darin und die Möglichkeit einer Befreiung (aber wohin?). In der letzten der deduktiven Erzählungen, ›Der Graf von Monte Christo‹, ist das erzählende Ich eingekerkert in der Festung Château d’If, und sein letzter Gedanke gilt der Möglichkeit einer Flucht: »Wir bräuchten nur den Punkt zu identifizieren, an dem die gedachte Festung nicht mit der wirklichen koinzidiert, um den Ausweg zu finden.«
Den jüngeren Texten Calvinos ist, scheint mir, ihre Entstehungszeit anzumerken: Waren die Qfwfq-Erzählungen aus den sechziger Jahren noch vorwiegend heiter, gelassen-ironisch und bisweilen – etwa die Urknallgeschichte oder ein Märchen wie ›Die Entfernung des Mondes‹ – geradezu übermütig, so dominiert in den späteren ein zunehmend melancholischer Grundton, am deutlichsten wohl in dem kurzen Text ›Die Implosion‹ (»Ex- oder implodieren, das ist hier die Frage...«), der den Übergang von den Makro- zu den Mikrokosmos-Geschichten herstellt und vielleicht einer der letzten Texte ist, die Calvino geschrieben hat.
Im deutschen Feuilleton ist das Anfang 1989 erschienene Buch nur sehr spärlich rezensiert worden – ich weiß nicht, ob es den Kritikern hierzulande zu hoch, zu tief, zu schwierig, zu simpel, zu ausgefallen, verrückt, unzeitgemäß, zeitgeistig oder sonst was erschienen ist. Sicher muß man diese ›Cosmicomics‹ nicht gelesen haben, aber wer einmal die Nase hineingesteckt hat, wird leicht – dies jedenfalls ist meine Erfahrung – danach süchtig.
Calvino sei, so konnte man nach seinem Tod im Nachruf eines italo-amerikanischen Physikers lesen, gelegentlich gern zu Besuch nach Harvard gekommen; an solchen Abenden hätten sich dann alle um den berühmten Schriftsteller aus Europa versammelt und eifrig mit ihm über Gott und die Welt diskutiert. Dabei sei es hin und wieder vorgekommen, daß man den Dilettanten Calvino bremsen mußte, wenn er sich in allzu kühne Thesen verstieg. Dann habe er freundlich erwidert: »Vedrete, vedrete!« – »Ihr werdet ja sehen!«

Der Held dieses Buches hört auf den unaussprechlichen Namen Qfwfq. Mehr weiß man nicht von ihm. Es ist nicht einmal sicher, dass es sich um einen Menschen handelt. Und was sein Alter betrifft, so ist er ungefähr so alt wie das Universum. Das macht ihn zum idealen Augenzeugen der unbegreiflichsten Veränderungen: Wie kam es zum Urknall? Woran liegt es denn wirklich, dass die Dinosaurier ausstarben? Und wann ging zum ersten Mal die Sonne auf? In der schillernden Erscheinung des Qfwfq verbindet Calvino gewitzt kühne Wissenschaftstheorien mit der Macht uralter Kosmogonien.