Ich bin vierundfünfzig Jahre alt und habe noch nie einen Stimmzettel gesehen. Aus Neugier habe ich viele Leute gefragt: »Hast du schon mal einen Stimmzettel gesehen?« Aber die meisten haben genauso wenig wie ich eine Vorstellung davon, wie so ein Zettel aussieht. Sie haben bloß im Fernsehen irgendwelchen Leuten, die sie nicht kennen – angeblich ihre Vertreter –, bei der Abgabe eines Stimmzettels zugeschaut. Einige wenige haben tatsächlich mit eigenen Augen einen Wahlzettel zu Gesicht bekommen: In ferner Vergangenheit sei das gewesen, zu ihren Studentenzeiten. Jemand vom Klassenkomitee sei damals mit einem solchen Zettel zu ihnen gekommen und habe sie aufgefordert, einen Namen darauf zu schreiben, der ihnen völlig fremd war. Das galt dann als demokratische Wahl.
Die Abgeordneten der genannten beiden Kammern sind auf fünf Jahre gewählt. Im März 2013 machten die alten Delegierten ihren Nachfolgern Platz. Ein Freund von mir, ein Wissenschaftler, kam gerade von einer Reihe von Gastvorträgen aus Europa zurück. Kaum stieg er in Peking aus dem Flugzeug, erreichte ihn ein Anruf: Er sei in die Politische Konsultativkonferenz gewählt worden und solle sich unverzüglich zu deren Sitzungen begeben.
»Warum durfte ich nie an einer Wahl teilnehmen?«, fragte mal jemand im Internet. »Wer entscheidet überhaupt, wer Delegierter des Nationalen Volkskongresses wird?«
»Das ist eine gute Frage«, antwortete jemand. »Im Wesentlichen nennt jede gesellschaftliche Basiseinheit ein paar Namen, die natürlich von oben abgenickt sind, und dann entscheidet eine höhere Ebene über die Auswahl.«
»Ich bin über achtzehn«, schrieb ein anderer. »Warum darf ich nicht wählen?«
»Weil die Delegierten des Nationalen Volkskongresses und der Politischen Konsultativkonferenz als deine Vertreter schon für dich gewählt haben, auch wenn du keine Ahnung hast, wer sie sind.«
»Ach so. Danke!«
Ich erinnere mich noch, wie vor gut zehn Jahren das chinesische Fernsehen in den Nachrichten wiederholt Bilder zeigte, wie im südkoreanischen und japanischen Parlament zwischen den adrett gekleideten Abgeordneten wüste Schlägereien ausbrachen. Offensichtlich wollte man uns damit vor Augen führen, wie primitiv sich die Abgeordneten der kapitalistischen Länder gebärdeten. Später kursierten im chinesischen Internet Fotos von Parlamentssitzungen in allen möglichen Ländern. Überall sonst auf der Welt führten sich die Abgeordneten wie Rowdys auf und stritten mit Worten oder Fäusten. Unsere chinesischen Delegierten dagegen legten größte Zurückhaltung an den Tag und nutzten ihre Sitzungen regelmäßig zu einem Nickerchen.
Der Vergleich dieser Fotos bedeutete für viele von uns ein Aha-Erlebnis: Die ausländischen Abgeordneten kämpften und stritten miteinander, weil sie sich für die Interessen ihrer Wähler einsetzten. Unsere Delegierten dagegen schliefen den Schlaf des Gerechten, weil sie keinerlei Wählerinteressen, ja, nicht einmal ihre eigenen Interessen zu vertreten brauchten.
In einem Punkt freilich stellen die Abgeordneten unserer beiden Kammern ihre ausländischen Kollegen weit in den Schatten: Beim Einreichen von Anträgen entwickeln sie einen frappierenden Eifer. Allein während ihrer diesjährigen Märzsitzungen stellten die Abgeordneten insgesamt 5875 Anträge, von denen 4982 geprüft und gebilligt wurden. Seit Jahren übersteigt die Zahl der Anträge in den beiden Kammern stets die Fünftausender-Marke.
Diese Anträge sind ganz unterschiedlicher Natur. Zwar gibt die Regierung nur ihre Zahl bekannt, nicht ihren Inhalt, aber manche von ihnen sickern doch an die Öffentlichkeit durch und werden im Internet zur Zielscheibe des Spotts – darunter beispielsweise Vorschläge, neue Bezirke einzurichten, um mehr Beamtenstellen zu schaffen, das Gehalt von Angestellten im öffentlichen Dienst zu erhöhen, großen Steuerzahlern entsprechende offizielle Titel zu verleihen und den allzu bäurisch klingenden Namen einer Stadt umzuändern.
Gleichzeitig haben auch einfache Bürger im Internet ihre Vorschläge geäußert. Die Zahl dieser Vorschläge lässt sich schwer ermitteln, aber inhaltlich weichen sie in jedem Fall von den offiziellen Anträgen ab: Es geht darin um lauter existenzielle Belange der Bevölkerung, so etwa darum, Rentenungleichheiten zu beseitigen, Arztbesuche zu erleichtern und die Kosten für Medikamente zu senken.
Deshalb meinen manche, die wahren Vertreter des Volkes fänden sich nicht im Nationalen Volkskongress oder in der Politischen Konsultativkonferenz, sondern im Internet. Aber diese virtuellen Abgeordneten haben wahrscheinlich genauso wenig Ahnung wie ich, wie ein Stimmzettel aussieht.
Am 29. November 2012 verkündete die Kommunistische Partei auf ihrem achtzehnten Parteitag den »chinesischen Traum« als politische Leitlinie. Was das sein soll? »Die Verwirklichung einer großen Wiedergeburt der chinesischen Nation«, so die offizielle Erklärung. »Der konkrete Ausdruck dieser Wiedergeburt sind ein reiches und mächtiges Land, eine blühende Nation und ein glückliches Volk. Um diese Ziele zu verwirklichen, beschreiten wir den Weg des Sozialismus chinesischer Prägung, halten am theoretischen System des Sozialismus chinesischer Prägung fest, fördern den nationalen Geist und bündeln die Kräfte des Landes. Die Methode zur Umsetzung besteht im Aufbau einer umfassenden politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und ökologischen Kultur.«
Wie viele Chinesen wohl aus dieser schwammigen Erklärung schlau werden? Ein Freund rief mich an und erzählte mir, er habe einen Traum: dass er den Tag noch erlebt, an dem er mit seiner Stimme mitentscheiden darf, wer chinesischer Präsident wird.
»Ist das der chinesische Traum?«, fragte er mich.
»Zumindest ist es ein Traum in China«, sagte ich.
»Jetzt verstehe ich, was der chinesische Traum ist: ein Traum in China.«
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

Yu Hua ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Chinas. Seine Bücher haben sich in China Millionen Mal verkauft. Dass sein neues Buch ›China in zehn Wörtern‹ von den Chinesen verboten wurde, liegt weniger an seiner Kritik am heutigen China als an den Parallelen, die er zwischen der Kulturrevolution und dem neuen kapitalistischen System zieht. Wie zu Zeiten Mao Zedongs, sieht Yu auch heute Unmenschlichkeit und Gewalt. Der Großteil der chinesischen Gesellschaft profitiert nicht vom Wohlstand, sondern wird auf brutale Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die persönlichen Essays lassen aber auch Yus Verbundenheit zu seinem Heimatland erkennen. ›China in zehn Wörtern‹ wirft einen ganz anderen, einen neuen Blick auf ein Land, von dem noch viel zu erwarten ist.