In den letzten Jahren haben die chinesischen Behörden gewohnheitsmäßig Lügen über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse verbreitet, um die Wahrheit zu vertuschen – mit der Folge, dass in der Bevölkerung haltlose Spekulationen ins Kraut geschossen sind. Wenn offizielle Lügen und inoffizielle Gerüchte um die Vorherrschaft streiten, sind Wahr und Falsch im Internet kaum noch voneinander zu unterscheiden.
Die Beliebtheit von Mikroblogs wie Weibo hat den im Internet fabrizierten Gerüchten in den letzten vier Jahren zu einem rasanten Aufstieg verholfen. Im heutigen Informationszeitalter nehmen die Mikroblogs einen großen Raum in der chinesischen Gesellschaft ein und üben beträchtlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung aus. Um einen verbreiteten Spruch zu zitieren: »Wenn die Wahrheit sich noch die Schuhe schnürt, hat das Gerücht schon in ganz China die Runde gemacht.«
Doch die Mikroblogs sind bloß ein Mittel zur raschen Verbreitung von Gerüchten. Tatsächlich hat die Regierung selbst mit ihren langjährigen Lügen dem Siegeszug des Internets als einer gigantischen Gerüchteküche Vorschub geleistet.
Am 6. Februar 2012 suchte Wang Lijun für einen Tag Zuflucht im Amerikanischen Generalkonsulat von Chengdu, nachdem er kurz zuvor von Bo Xilai, dem damaligen Parteichef von Chongqing, seines Amtes als lokaler Polizeichef enthoben worden war. Als daraufhin die Behörden von Chongqing die Lüge auftischten, Wang sei krankgeschrieben gewesen, brodelte die Gerüchteküche im Internet. Selbst von einem Umsturz in Peking munkelte man: Militärfahrzeuge hätten die Hauptstadt besetzt.
Die Lügen der Regierung trieben die Leute dazu, sich aus den Gerüchten im Internet ein Bild von der Wahrheit zusammenzustückeln, und tatsächlich erwies sich dabei manches Gerücht, das die Behörden als haltlos abgetan hatten, als wahr. So wurde zum Beispiel die Ohrfeige, die Bo Xilai seinem geschassten Untergebenen Wang Lijun verpasst hatte, später offiziell bestätigt, was das Vertrauen in die Gerüchteküche des Internets noch vertiefte.
Angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich Gerüchte online verbreiten, haben Gegenmaßnahmen wie das Löschen von Beiträgen, das Filtern von Schlüsselwörtern und das Sperren von Accounts zunehmend an Wirkung verloren. Aufgrund dieser Erkenntnis nimmt die Regierung inzwischen Zuflucht zur strafrechtlichen Verfolgung der Blogger. Der Oberste Gerichtshof und die Oberste Staatsanwaltschaft haben am 9. September 2013 eine Erklärung folgenden Inhalts abgegeben: Wer verleumderische Nachrichten verbreitet, die im Internet mindestens fünfhundert Mal geteilt werden, macht sich strafbar.
Eine Woche nach dieser Bekanntmachung wurde in Zhangjiachuan, einem autonomen Kreis der Hui-Nationalität in der nordwestchinesischen Provinz Gansu, der Mittelschüler Yang Hui wegen Anstiftung zum Aufruhr verhaftet, nachdem er die offizielle Lesart für den Tod eines Mannes in seinem Kreis in Zweifel gezogen hatte. Der minderjährige Yang war der Erste, der der neuen Regelung zum Opfer fiel. Erst unter dem Druck der Öffentlichkeit kam er nach siebentägigem Strafarrest wieder auf freien Fuß.
Tatsächlich freilich war die Regierung bereits vor der offiziellen Erklärung auf breiter Front gegen missliebige Stimmen vorgegangen. Schon Ende August 2013 berichteten verschiedene Medien von den Ergebnissen dieses landesweiten harten Durchgreifens: In der zentralchinesischen Provinz Henan wurde Haftbefehl gegen 131 Menschen, in der nordchinesischen Provinz Shanxi gegen 23 Menschen erlassen; in der ostchinesischen Provinz Shandong wurden 49 Menschen unter Strafarrest gestellt, 29 Menschen wegen Störung der öffentlichen Ordnung verurteilt und gegen 23 Menschen Haftbefehl erlassen; in der zentralchinesischen Provinz Hubei wurde 128 Menschen ein Verweis erteilt, 90 Menschen wurden unter vorübergehenden Polizeiarrest, fünf unter Strafarrest gestellt. Auch andere Provinzen und Städte gingen in ähnlicher Weise gegen angebliche Internetgerüchte vor. Diese Politik, die sich erst im Nachhinein den Anschein juristischer Legitimität gab, ist im Internet kaum hinterfragt worden, weil die Regierung zur selben Zeit im großen Stil Beiträge gelöscht, Schlüsselwörter gefiltert und Accounts gesperrt hat, so dass die Kritiker sich nicht mehr hörbar machen konnten oder sofort mundtot gemacht wurden.
Schon am 21. August war diese Kampagne publik geworden, als eine Schlagzeile die großen Websites dominierte: Die Pekinger Polizei hatte eine »Internetfirma zur Verbreitung von Gerüchten« zerschlagen und sechs Personen, darunter einen Blogger mit dem Pseudonym Qin Huohuo, festgenommen.
Die staatlichen Medien berichteten in Zusammenarbeit mit der Pekinger Polizei ausführlich über Qins zahllose Missetaten. Mir war sein Name vorher unbekannt gewesen, und nun, da ich einen Blick in seinen Mikroblog warf, kamen mir einige seiner Beiträge in der Tat wie haltlose Spekulationen vor.
Dennoch nahmen ihn viele Internetnutzer in Schutz, denn die Beschuldigungen der staatlichen Medien waren alles andere als hieb- und stichfest. So bestand eines seiner vermeintlichen Vergehen darin, Lei Feng – einen Tugendhelden der Kommunistischen Partei, den Mao selbst zum nationalen Vorbild geadelt hatte – verleumdet zu haben, indem er ihm einen Hang zu einem luxuriösen Lebensstil attestierte: »Die Kleidung von bester Qualität, die sich Lei Feng 1959 kaufte – Lederjacke, Wollhose, Lederschuhe –, kostete damals etwa neunzig Yuan. Dabei lag sein monatliches Einkommen nur bei sechs Yuan.«
Einige Internetnutzer haben darauf hingewiesen, dass schon Ende 2012 die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua auf ihrer Website über den Kauf einer Armbanduhr und einer Lederjacke durch Lei Feng berichtet hatte. Warum, so fragten die Nutzer, verhaftete die Polizei nicht auch Xinhua?
Die Unterstützung, die Qin Huohuo im Netz erfahren hat, lässt mich an der Wirksamkeit der staatlichen Strafmaßnahmen zweifeln. Am nachhaltigsten würde der Staat den Gerüchten im Internet Einhalt gebieten, wenn er nicht länger Lügen erzählte – aber das wird nicht geschehen, und so wird die Gerüchteküche ungeachtet aller staatlichen Restriktionen weiterbrodeln.
Meine Generation hat sich an die Lügen der chinesischen Regierung längst gewöhnt – angefangen mit den ins Phantastische aufgeblähten Zahlen zur Reisernte während des Großen Sprungs nach vorn (1958–1961) bis hin zum jüngsten Ammenmärchen von Wang Lijuns Krankschreibung. Und dennoch haben sich die Zeiten geändert: Vor dem Aufkommen von Internet und Mikroblogs verbreiteten sich Gerüchte in der Bevölkerung bloß von Mund zu Mund, und entsprechend begrenzt war ihre Reichweite, während die Regierung mit ihren Lügen ein unangefochtenes Informationsmonopol besaß. Heute dagegen, im Zeitalter des Internets und vor allem der Mikroblogs, verbreiten sich die Gerüchte in einem rasanteren Tempo als die Behauptungen der staatlichen Medien und sind für viele zu einem wichtigen Mittel geworden, sich ein Bild von der Wahrheit zu machen; das staatliche Lügenmonopol ist zusammengebrochen, und so hat die Regierung die Jagd auf alle missliebigen Gerüchte eröffnet, die im Netz kursieren.
Taizu, der Gründer und erste Kaiser der Song-Dynastie, hat einmal gesagt: »Wie könnte man neben seinem Bett einen anderen Schläfer dulden?« Mit anderen Worten: Wie könnte man in seiner eigenen Macht- und Interessensphäre einen Eindringling tolerieren? Heute könnte man den Satz wie folgt umformulieren: »Wie könnte die Lüge neben ihrem Bett das Gerücht als Schläfer dulden?«
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

Yu Hua ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Chinas. Seine Bücher haben sich in China Millionen Mal verkauft. Dass sein neues Buch ›China in zehn Wörtern‹ von den Chinesen verboten wurde, liegt weniger an seiner Kritik am heutigen China als an den Parallelen, die er zwischen der Kulturrevolution und dem neuen kapitalistischen System zieht. Wie zu Zeiten Mao Zedongs, sieht Yu auch heute Unmenschlichkeit und Gewalt. Der Großteil der chinesischen Gesellschaft profitiert nicht vom Wohlstand, sondern wird auf brutale Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die persönlichen Essays lassen aber auch Yus Verbundenheit zu seinem Heimatland erkennen. ›China in zehn Wörtern‹ wirft einen ganz anderen, einen neuen Blick auf ein Land, von dem noch viel zu erwarten ist.