Diese Bücher sind fulminante Weltschöpfungen, könnte man sagen. Zugleich entwerfen sie Formen des Erzählens, die dem Sprechen, dem Singen, dem Atmen nahe sind, ein »Atlas«, ein »Sprachgesang« (so Ludger Lütkehaus über ›Der fliegende Berg‹), ein »Roman mit einem Ovidischen Repertoire«. In seinen Romanen erkundet Christoph Ransmayr die Formen des Erzählens.
Vielfältiger, umfassender und freier noch als in den großen Werken unternimmt Christoph Ransmayr diese Erkundung des Erzählraumes in einer Reihe, die er »Die weiße Reihe« nennt, weil die einzelnen schmalen Bände in helles Leinen eingebunden sind. Der erste Band dieser »Spielformen des Erzählens« erschien 1997, ›Die dritte Luft oder Eine Bühne am Meer‹. Es folgten neun weitere Spielformen: ›Strahlender Untergang. Ein Entwässerungsprojekt oder Die Entdeckung des Wesentlichen‹, ›Die Unsichtbare. Tirade an drei Stränden‹, ›Der Ungeborene oder Die Himmelareale des Anselm Kiefer‹, ›Die Verbeugung des Riesen. Vom Erzählen‹, ›Damen & Herren unter Wasser. Eine Bildergeschichte nach 7 Farbtafeln von Manfred Wakolbinger‹, ›Geständnisse eines Touristen. Ein Verhör‹, ›Odysseus, Verbrecher. Schauspiel einer Heimkehr‹, ›Der Wolfsjäger. Drei polnische Duette‹, ›Gerede. Elf Ansprachen‹. Das ›Gerede‹ ist die zehnte Spielform und soeben, im Februar 2014, erschienen.
»Wenn er sich allein oder zumindest unbeobachtet glaubte, führte mein Vater manchmal lange Selbstgespräche in einer rätselhaften, mir Wort für Wort unverständlichen Sprache.« Der junge Christoph Ransmayr glaubt, dass er diesen Klang, das Russische, wenn er selbst erst erwachsen sein wird, selbstverständlich wird verstehen und sprechen können, dass ihm diese Sprache zukommen wird wie Körpergröße, graues Haar, Bart, Kahlköpfigkeit und andere Zeichen der Reife. Doch er wird erfahren, dass nach mühsamem Erlernen des Alphabets, nach vielen Hin- und Rückwegen über den Schulhof die Zeichen und Laute der rätselhaften Sprache des Vaters ihm weiterhin verschlossen bleiben. So erzählt er es in einer Ansprache zur Kunst der Übersetzer.
Aus diesem kindlichen Ausgeschlossensein, diesem Staunen vor der babylonischen Sprachverwirrung, erwacht die Faszination für Sprache und Schrift.
Eine zweite Urszene beschreibt Christoph Ransmayr in seiner Rede zur Eröffnung der Basler Buchmesse, »Als ich noch unsterblich war«: Als er noch ein Junge war, verwandelte er die Nudeln der Buchstabensuppe in eine Tierkarawane, in eine Reiterarmee in fettschimmernder Rüstung oder in ein Elfenheer. Erst später wandelt sich die Schildkröte in ein O, die Schlange in ein S, und nach und nach werden die Reiterkolonnen zu Wörtern, zu Namen, zu ganzen Sätzen. Aus dem tosenden Suppenozean fischt der Junge das MEER heraus. Der Zauber dieser Metamorphose, die Welt in Sprache und Worte in Welten zu verwandeln, ist der Ursprung des Erzählens.
Unterwegs nach Babylon, so nennt Christoph Ransmayr sein großes Erzählprojekt.
Babylon, das sind all die Buchstabenozeane, die fremden Klänge, die unverständlichen Sprachen, die vergessenen Geschichten, die Mythen und Legenden, Geschichten, die Menschen einander erzählen. Und nicht nur erzählen: Sie singen und fluchen, sie sprechen im Duett und in großen Monologen, sie gehen ins Selbstgespräch vertieft umher oder stehen auf einer Bühne, sie erzählen Märchen und Lügen, phantasieren von Fabelwesen, sie zeigen einander Bilder.
Diese Klangfarben des Erzählens bringt Christoph Ransmayr zur Sprache in seinen Spielformen. Das Faszinosum der Metamorphose von Welt und Sprache steht am Beginn dieses literarischen Projektes.
›Eine Bühne am Meer‹ ist der Titel der ersten Spielform. Ransmayr erzählt von Liam O’Shea, der in einer endlosen Ballade alle Namen, Jahres- und Opferzahlen von mehr als einhundert Schiffsuntergängen an der irischen Westküste singt. Sein Haus wird zum Schauplatz, zum Theater, seine Viehweide zu einem festlichen Ort, Bauern, Fischer und Strandgutsammler zum Publikum. Im Tanzen und Singen von Geschichten und Balladen zur Knopfharmonika verwandeln sich die Lieder in Dramen, die Worte in Wirklichkeiten, das Leben in Lieder, »die Brandung des Atlantischen Ozeans, ein in der Nacht verhallender und wiederkehrender Applaus.«
Eine zweite Metamorphose ist für Christoph Ransmayrs Werk gleichermaßen zentral: Das Werden des Menschen aus dem Nichts und sein Gang in die Leere.
›Strahlender Untergang‹, der zweite Band der »Weißen Reihe«, ist ein Brief, der nach achtzehn Jahren auf seinen Schreibtisch zurückkehrt und erneut ausgesandt wird. Von der Wüste und vom Verschwinden erzählt dieses Fernschreiben, ein rhythmisches Sprechen, ein Singen fast. Von einem phantastischen wissenschaftlichen Projekt wird berichtet, von der Organisation des Verschwindens, es geht um das Verschwinden des Menschen in der Wüste: »Was liegt näher, als eine Existenz, / die ihren Anfang unter der Sonne nahm, / auch unter der Sonne wieder / verschwinden zu lassen?« Der Stern wird sich zum Riesenstern aufblähen, in einem Heliumblitz verschwinden, aus dem eine Supernova wieder hervorgeht und dann zu planetarischem Nebel zerfällt und sich zu einem weißen Zwergstern verdichtet.
»Solange du die Sterne noch empfindest als ein ›Über-Dir‹, fehlt dir der Blick des Erkennenden.« Diesen Satz aus einer Nietzsche-Ausgabe, die Christoph Ransmayr als Dreizehn- oder Vierzehnjähriger von einem Onkel geschenkt bekam, zitiert er als Antwort auf die Frage, wie die Himmelsbeobachtung seinen Blick verändert habe.
Christoph Ransmayrs Blick ist zu den Sternen gerichtet, in die Leere des Alls, wie in die Weite der Wüste. Im Blick auf die Materie, auf das Licht der Sterne, angesichts der schieren Überforderung, der Erschöpfung, der Angst beginnt der Mensch zu erzählen, Geschichten zu erzählen, Balladen zu singen, die Welt auf den Brettern des Theaters lebendig zu machen, zu reden.
Christoph Ransmayrs Spielformen zeugen davon.
Petra Gropp