Das XX. Mainzer Kolloquium zu Gott und der literarischen Welt
von Sandra Oster
Im goldenen Zeitalter der Literaturkritik war der Literatur die Rolle der Weltdeutung überantwortet und dem Kritiker die Deutung der Literatur. Folglich war der Kritiker Gott – so Alfred Kerr, so Hubert Winkels. Er las den lieben langen Tag in Büchern seiner Wahl, klapperte munter auf seiner Schreibmaschine Besprechungen zusammen und ab und an einen schönen Verriss.
Kritiker und Publikum waren sich einig über die Aufgabe der Literatur und es gab eine Einheit des literarischen Kanons. Ob es so gewesen ist, sei dahingestellt. Zumindest aber hatten die überregionalen Zeitungen vor fünfzehn Jahren noch ein stattliches Feuilleton und die Literaturkritiker darin genügend Raum und Zeit. Selbst in den Regionalzeitungen wurden ernstzunehmende Buchbesprechungen gedruckt und gelesen.
Bedeutungsverlust, Verflachung, Lobhudelei, Orientierungslosigkeit. Das Ende der Literaturkritik sei nah, so die Kritiker der Kritik, zuletzt vertreten durch den Verleger Jörg Sundermeier im Buchmarkt.
Die Literaturkritik sei überhaupt nicht mehr in der Lage, »komplexe und umfangreiche Bücher angemessen zu würdigen« – ein Vorwurf, der so alt ist wie die Kritik selbst. Die ausufernde Laienkritik im Internet und die bedrängten Arbeitsverhältnisse der professionellen Kritiker haben aber tatsächlich eine Veränderung der Kritik ausgelöst. Neu ist die Tatsache, dass kaum noch Verrisse erscheinen und sich die Kriterien in Richtung einer reinen Buchempfehlungsrhetorik verlagern. Die hochkulturelle Literaturkritik ist in Bedrängnis geraten. Welche Rolle sie noch innehat und in Zukunft haben kann, ist die große Frage, die über allen Beiträgen und Diskussionen des Kolloquiums schwebt.
Wie sieht die Arbeit des Kritikers nach dem goldenen Schreibmaschinenzeitalter eigentlich aus? Das Berufsbild des Kritikers gestaltet sich nach eigenem Bekunden heute als vielseitige Tätigkeit: Mit Lesen und Schreiben verbringt er nur einen kleinen Teil seiner Zeit. Er pflegt Kontakte zu Verlegern, Autoren, anderen Kritikern, Lesern; er moderiert Lesungen und tritt bei Veranstaltungen auf; er ist als Juror für einen oder mehrere der etwa 10.000 Literaturpreise und -stipendien des Landes tätig; vielleicht lehrt er obendrein auch noch in einem der zahlreichen Studiengänge, die neben der Literaturwissenschaft längst auch dem literarischen Leben gewidmet sind. Er sitzt den ganzen Tag im Zug. So stellt Hubert Winkels seinen Arbeitsalltag vor und konstatiert: Der Kritikerberuf ist längst ein performativer geworden. So wie es für den Autor unverzichtbar ist, ein Gesicht zu haben und Aufmerksamkeit über seine Person zu binden, so ist auch die Person des Kritikers in den Mittelpunkt des Literaturbetriebs gerückt. Reden statt Schreiben, Zeigen statt Lesen (Winkels: »Ich wollte immer nur ein Schreiber sein.«)
Die neuen Techniken und Fertigkeiten des Kritikers wirken sich auf die Komplexität seines Urteils aus: Mündlichkeit und gebotene Knappheit verhindern eine Komplexität des Urteils, die manche Texte nach wie vor erfordern. Die Verpflichtung zur Präzision, die sich auch in der Zeitungskritik aus immer knapperen Vorgaben ableite, sei jedoch ein Garant für die Qualität von Besprechungen, so Sandra Kegel.
Man müsse ja nicht bei jeder Gelegenheit sein Gesicht in die Kamera halten, hieß es aus den Reihen der Teilnehmer. Ja schon, aber der Nebenerwerb in Zeiten sinkender Auflagen sei für manche unverzichtbar geworden. Allerdings bieten sich nicht für jeden Kritiker so viele Einsatzmöglichkeiten: Veranstalter und Preisstifter möchten am liebsten auf bekannte Namen zurückgreifen und ihren Preis oder ihr Festival mit dem kulturellen Kapital des renommierten Kritikers schmücken. Die Zugehörigkeit zu einer Institution öffnet dabei Türen. So wie Hubert Winkels oben mit der Zugehörigkeit zum Deutschlandfunk vorgestellt wurde, ist das Kürzel »FAZ« beispielsweise ein Suffix geworden, das Sandra Kegels Namen außerhalb ihrer Zeitung begleitet. Entsprechend stellt der Kritiker für das Publikum nicht nur sein persönliches Urteil dar, sondern personifiziert die renommierte Institution – die auf diese Weise ein weiteres Publikum erreicht. Der freie Kritiker hat dagegen nur geringe Aussichten auf Erfolg.
Die Zuständigkeit des Literaturkritikers hat sich zudem ausgedehnt, er ist nicht nur selbst ein Akteur des Literaturbetriebs, sondern jener zählt auch zu seinem Gegenstand. So ist Sandra Kegel als Redakteurin für Literatur und literarisches Leben angestellt. Das Tagesgeschäft des Nachrichtenmagazins verlange sowieso mehr als eine reine Besprechung des Textes, wie Uwe Wittstock erläutert: Einen Kontext zu aktuellen gesellschaftlichen Themen, eine Zusammenschau mehrere Texte oder zumindest eine Besprechung, die mit einem Porträt der Autorin verbunden ist, verheiße erst den erforderlichen »journalistischen Spin«.
Bei aller Bedrängnis für die inhaltliche Arbeit – der Kritiker steht mitten im literarischen Leben und ist aus ihm nicht wegzudenken.
Und die äußere Bedrängnis? Wie stellt sich das Phänomen des Social Reading mit Leseforen, Kundenrezensionen und geteilter Lektüre für die professionelle Kritik dar? Und ist das überhaupt noch Kritik? Die Kundenrezensionen des Online-Händlers Amazon lassen sich auch als »eine der größten Sammlungen von Texten über Literatur der Gegenwart« betrachten, wie es Stefan Neuhaus formuliert, der eine Vielzahl dieser Texte mit dem Blick des Literaturwissenschaftlers gelesen hat. Die Kriterien, welche die Laien-Kritiker bei der Beurteilung literarischer Texte anwenden, haben mit den verfeinerten ästhetischen und historisch geschulten Kriterien der professionellen Kritiker wenig gemein. Er konstatiert eine Polarisierung des Urteils – entweder werden vier Sterne vergeben oder nur einer –, mit der eine Tendenz zur Affirmation verbunden ist. Spannung und Unterhaltung sind die wichtigsten Kriterien.
Es stellt sich die Frage, welche Relevanz die literarisch-ästhetische Kritik für die Allgemeinheit noch hat. Die Antwort ist einhellig: Die Allgemeinheit ist nicht mehr zu erreichen, das »große Gespräch über Literatur«, wie Sandra Kegel Kritik und Laienaustausch zusammenfasst, findet in vielen Nischen und Kanälen statt. Und es findet weiter statt, denn der Leser hat das Bedürfnis, über Literatur zu sprechen. Und darüber hinaus auch von Literatur zu hören und zu lesen.
Auf diese Erfahrung stützt sich auch Herbert Grieshop, der mit seinem Videoblog Herbert liest! als einziger Teilnehmer der laienhaften Seite des Literaturgesprächs am Kolloquium teilnahm. Grieshop, der promovierter Germanist ist, betont den großen Orientierungsbedarf des Lesers. Er biete in seinem Blog eine radikal subjektive Form von Buchempfehlung an. In wechselnden Wohnungen vor der Kamera von Sonja Praxl sitzend, erzählt er in regelmäßigen Abständen, welche Bücher er in letzter Zeit gelesen hat und welche ihm gefallen haben. Ihm schwebt ein Diskurs der Enthusiasten vor, der freilich in seinem Blog eher ein Monolog ist. Der Leser braucht ein Gesicht, einen Guide auf der Wanderung durch die Neuerscheinungen, dem er vertrauen kann. Dies ist eine gemeinsame Ursache für die performative Arbeit von Hubert Winkels und für den Videoblogger.
Was ist nun die Rolle der Kritik? Im großen Kreis der Leser weiß sie den Bezug zu Lesern und Lektüren aus anderen Zeiten und Sprachen herzustellen. Sie weiß einen Text zu knacken, wie Hubert Winkels sagt. Sie ist dem Leser verpflichtet und berichtet ihm entsubjektiviert von der Lektüre. Sie ist nicht am Ende. Und sie ist nicht allein. Die Literaturkritik ist polytheistisch geworden und die Literatur ist es sowieso. Und in fünf Jahren? Sitzt vielleicht auch ein Amazon-Rezensent auf dem Podium.