
Über die, die auf dem Tian‘anmen physisch dabei gewesen sind, kann der deutsche Leser heute mehr wissen als damals. Wer die Bücher von Liao Yiwu aufmerksam liest, weiß, dass unter den »konterrevolutionären Rowdies« vom 4. Juni 1989, die ihre langjährigern Haftstrafen überlebt haben, Wang Weilin als der »Held« gilt, »der sich den Panzern entgegengestellt hat«. Wu Wenjian, mit dem zusammen Liao Yiwu viele der Entlassenen vor ungefähr zehn Jahren aufgesucht hat, erzählte ihm: »In der Zelle brodelte die Gerüchteküche, sie hätten ihn eingebuchtet, aber ob tot oder lebendig, das wusste niemand. Ich vermute, wenn sie ihn nicht umgebracht haben, haben sie ihm die Haut abgezogen.« Bert Brecht ließ seinen Theaterhelden Galilei mitten im großen antifaschistischen Kampf sagen: »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.« China scheint mir das unglücklichste Land der Welt; es steckt voller Helden und Heldengeschichten. Aus dem großen antifaschistischen Kampf gegen die japanische Okkupation hat die chinesische Befreiungsarmee ihre patriotische Legitimation bezogen, »Volk und Armee seien wie Fisch und Wasser«. Die Erfahrungen von Krieg und Bürgerkrieg von 1937 bis 1949 haben diese Staatsideologie der Volksrepublik gefestigt und durch alle Katastrophen kommunistischer Modernsierungen hindurch überleben lassen. Doch diese Vorstellungswelt ist am 4. Juni 1989 in einer Nacht zusammengebrochen.
Am 4. Juni 1989 endete nicht nur das short century von 1917 bis 1989, sondern auch die zweihundertjährige weltgeschichtliche Epoche der Revolutionen, deren Beginn Goethe so treffend bezeichnet hatte. In der chinesischen Revolution schienen beide Epochen noch einmal konzentriert. Goethe, obwohl er gar kein Revolutionssympathisant war, sah, dass das Ancien Régime dem Ansturm nichtaristokratischer Kräfte nichts entgegenzusetzen hatte. Ein vergleichbarer Prozess hatte sich 1911 in China abgespielt; das traditionelle Kaisertum brach wie ein Kartenhaus zusammen. Die von Goethe angesprochene neue Epoche der Weltgeschichte hatte längst auch China erreicht. Was in China folgte, war weder eine bürgerliche noch eine sozialistische Gesellschaft, sondern ein Chaos, das das chinesische short century nur als ein Jahrhundert katastrophaler Modernisierungen mit barbarischem Antlitz erscheinen lässt.
In China begann dieses ›Kurze Jahrhundert‹ mit dem antikolonialen Impuls der Bewegung vom 4. Mai 1919 gegen die Versailler Verträge, in der China als ein koloniales Objekt behandelt wurde – im schreienden Kontrast zum vom US-amerikanischen Präsidenten Wilson proklamierten Selbstbestimmungsrecht der Völker, das mit dem universalen Versprechen auf Demokratie verknüpft war. Der chinesische Warlordismus, der alles in den Schatten stellte, was wir am Ende des short century in Afghanistan und Somalia erleben mussten, wurde letztlich von der Kommunistischen Partei Chinas beendet, die nicht nur die internationale Unabhängigkeit, sondern auch die Herstellung einer für China säkular ungewohnten Ordnung auf ihre roten Fahnen schreiben konnte. Nur zur Demokratie kam es nie; sie wurde von der studentischen Demokratiebewegung im Mai 1989 eingeklagt.Die Statue der Goddess of Democracy auf dem Platz des Himmlischen Friedens – hergestellt aus Hartschaum und Pappmâché von Studenten der Central Academy of Fine Arts (CAFA). © 2009 The Guardian, Unbekannter Fotograf Die Errichtung einer nachgemachten Lady Liberty auf dem Tian‘anmen durch Pekinger Kunststudenten verdichtete symbolisch beide Epochen: Freiheit und Unabhängigkeit.
Die chinesische Parteiführung konnte diese Provokation nicht ertragen; sie reagierte mit einer öffentlichen Machtdemonstration, die als das »Massaker von Beijing« in die Geschichte eingegangen ist.
Die kriminellen kommunistischen Machthaber Chinas, die mit ihrem schamlos öffentlichen Massenverbrechen fast alles in den Schatten stellten, was kommunistische Machthaber bis dato auf ihrem Kerbholz gehabt haben, versuchten ihre Widersacher dem schnellen Vergessen zu überantworten. Als Sieger, die nach einem treffenden Wort Walter Benjamins »zu siegen nicht aufgehört haben«, können sie sich nur fühlen, weil sie sich der Mehrheit als des chinesischen Volkes als Garanten öffentlicher Sicherheit und ökonomischer Stabilität darstellen konnten. Der Westen – und das heißt wir alle – tragen mit unserer Indifferenz eine schwere Mitschuld. Gewinne, die allemal mit der Volksrepublik zu machen sind, werden einer Weltordnung vorgezogen, in der es gerecht zugeht. Aber den Preis des Wachstums wollen die Führer der westlichen Gesellschaften gar nicht wahrnehmen. Die ökologische Katastrophe, die inzwischen zum Hauptauswanderungsgrund in China geworden ist, verdeckt die moralische, die aber unser Leben nur dann überschattet, wenn wir sie wahrnehmen wollen. Die chinesische Gesellschaft führt uns die Tendenz der unseren in dieser neuen Epoche der Weltgeschichte vor Augen: Das Opium des Volkes ist nicht die Religion, sondern das Geld, i.e. die Ökonomie. Aber eine Ökonomie ohne gesellschaftliche Moral endet in der Willkür der Mächtigen. Sichtbar für alle, erfahrbar für jeden auf der Alltagsebene, bedeutet dies die Allgegenwart der Korruption. Die chinesischen Machthaber versuchen die Erinnerung zu korrumpieren, indem sie den Opfern des 4. Juni das Attribut »konterrevolutionär« aberkennen wollen; es sollen nur noch »Rowdies“ sein; denn die chinesische Führung hat erkannt, dass sie nur als Garant einer ungerechten Ordnung akzeptabel ist, nicht als eine emanzipatorische Kraft, die man in den letzten Jahrhunderten mit dem Begriff der Revolution in Verbindung gebracht hat.
In den Kategorien des short century war die Niederschlagung der demokratischen Volksbewegung von 1989 eine Konterrevolution im Namen der Revolution. Die Rechtfertigung dieser ungeheuren Schandtat vor den Augen der Welt, nicht in abseits gelegenen Lagern wie noch zu Zeiten des Nationalsozialismus und Stalinismus, delegitimierte diejenigen, die es wagten zu widersprechen. Längst ist es vergessen, in Westdeutschland nie richtig ins Bewusstsein getreten, dass Honeckers designierter Nachfolger Krenz mit seinem dummdreisten Lächeln, als er aus Peking zurückkehrte, die Bürgerrechtsbewegung in der DDR stimulierte. Der Zusammenbruch des Realsozialismus in Europa kann ohne dieses barbarische Massaker, von einer kommunistischen Parteiführung gegen das eigene Volk begangen, nicht verstanden werden. Mit der russischen Oktoberrevolution hatte das short century begonnen, mit dem Tian‘anmen-Massaker endete es. Gewagte Prognosen vom Ende der Geschichte, der universellen Durchsetzung von liberalem Kapitalismus und Demokratie, konnte man schon damals als blauäugig erkennen. Sie wurden schnell von einem verballhornten Samuel Huntington abgelöst – von einem weltweiten clash of civilisations, als den man dann den 11. September 2001 einzuordnen versuchte. Die chinesische Parteiführung versuchte sich in den »Kampf gegen den Terror« einzureihen; eine Devise, hinter der sie ihre nationale Repressionspolitik gegen die Tibeter und Uiguren verstecken konnte. Das neue Zeitalter brachte nicht automatisch Wohlstand und Demokratie mit sich, sondern eine neue internationale Arbeitsteilung der Ausbeutung von Mensch und Natur, begleitet von einer Indifferenz gegenüber politischen Machtstrukturen. Populismus und Autoritarismus gehen Hand in Hand.
Was wir 2014 weltweit erleben, ließ sich 1989 schon ablesen. Dass ein verbrecherisches Regime, das die Verantwortung für das Tian’anmen-Massaker trug und auch nicht verleugnete, an der Macht bleiben konnte, belastet das neue Zeitalter wie einen Geburtsfehler. Die Lehre aus dieser Geschichte: Macht, wird sie nur brutal und skrupellos ausgeübt, zahlt sich aus. Bei blutigen Ereignissen schaut zwar die ganze Welt kurz zu, doch schnell kommt das Vergessen. Begrenzt wird die Macht letztlich nur durch die Ökonomie – in den seltensten Fällen durch demokratische Institutionen. Auch unsere Geschichte am 25. Jahrestag des Massakers erzählt das. Zu ihr gehört das Mitschuldigwerden an dem Morden in Syrien – offen verteidigt von China und Russland. Jahrelang hat die Welt tatenlos zugeschaut, wie Präsident Assad ein öffentliches Massenmorden nach dem Modell Tian‘anmen veranstaltete – er ließ tausende von unbewaffneten Demonstranten erschießen. Die Welt verharrt bis heute in Indifferenz – China und Russland, autoritäre Territorialherrscher, triumphieren. Die Menschen, die sich 2014 für Demokratie und gegen Autoritarismus in Beijing und in Moskau auf die Straße wagen, riskieren viel. Wenn wir sie unterstützen, handeln wir auch im eigenen Interesse; denn der Kampf um ein menschenwürdiges Leben in demokratischen Verhältnissen ist nicht gewonnen, solange noch Menschen ihrer elementaren Rechte in Arbeit und Leben beraubt sind.
Eine ausführliche Bilderstrecke zu den Geschehnissen vom Tian’anmen findet sich auf folgendem Blog.
Auf der Seite der South China Morning Post mit Sitz in Hongkong gibt es außerdem eine sehenswerte Multimedia-Ausstellung zum 4. Juni 1989.

Am frühen Morgen des 4. Juni 1989 mobilisierte die chinesische Regierung die Volksbefreiungsarmee, um die friedlichen Demonstrationen Zehntausender Studenten niederzuschlagen, die mehr Freiheit und Demokratie forderten. Am Platz des Himmlischen Friedens richteten sie ein Massaker an, das die Welt schockierte. Wie viele Menschen die Panzer niederrollten, wie viele Studenten von Soldaten erschossen oder zu Tode geprügelt wurden, gab die chinesische Regierung nie bekannt.
Liao Yiwu, der über das Massaker ein Gedicht verfasste und dafür vier Jahre inhaftiert wurde, führte über Jahre hinweg heimlich Interviews mit Augenzeugen und Angehörigen der Opfer. Entstanden ist ein ebenso schockierendes wie bewegendes Zeugnis der unfassbaren Ereignisse vom 4. Juni und eine Verneigung vor den mutigen Menschen, die für ihre Überzeugungen mit ihrem Leben einstanden.