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Hundertvierzehn | Bericht
Der Biograph als Reiseleiter

Wenn man in Prag eine Franz-Kafka-Stadtführung unternimmt, kann es passieren, dass einem allerhand Unsinn erzählt wird. Literaturwissenschaftler und Biograph Reiner Stach hat deshalb eine eigene konzipiert.

 
Reiner Stach

Reiner Stach, geb. 1951 in Rochlitz (Sachsen), arbeitete nach dem Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Mathematik und anschließender Promotion zunächst als Wissenschaftslektor und Herausgeber von Sachbüchern. 1987 erschien seine Monographie ›Kafkas erotischer Mythos‹. 1999 gestaltete Stach die Ausstellung ›Kafkas Braut‹ (Frankfurt, Wien, Prag), in der er den Nachlass Felice Bauers präsentierte, den er in den USA entdeckt hatte. 2002 und 2008 erschienen die ersten beiden Bände der hochgelobten dreiteiligen Kafka-Biographie. 2008 wurde Reiner Stach für ›Kafka: Die Jahre der Erkenntnis‹ mit dem Sonderpreis zum Heimito-von-Doderer-Literaturpreis ausgezeichnet.

Franz Kafkas bester Freund hieß Albert Einstein. Und seine guten Kenntnisse über das Judentum verdankte er einer Tora-Schule, einer Jeschiwa, die unmittelbar am Altstädter Ring gelegen war, dem Schaufenster des alten Prag.

Das sind erstaunliche Neuigkeiten auch für den Kafka-Biographen. Er erfährt sie aus dem Mund eines englisch sprechenden Reiseführers unbekannter Nationalität, der gegen Gebühr ahnungslose Touristen durch die Prager Altstadt schleust. Niemand widerspricht ihm; auch der Biograph, der unauffällig und in sicherer Entfernung der Gruppe folgt, hält sich zurück, um den Leuten nicht den Urlaub zu verderben.

Solche Führungen gibt es jetzt täglich Dutzende in Prag; »Auf den Spuren Kafkas« lautet der Standard-Titel. Seit vorigem Jahr benötigt man keine städtische Lizenz mehr, um damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und seit ich derartiges live erlebt habe, kann ich die Verbitterung der lizensierten Stadtführer verstehen. Ihnen geht es keineswegs, wie den berüchtigten Prager Taxifahrern, bloß um ihre Pfründe. Es sind viele studierte Leute unter ihnen, mit Examina in Kunst- oder Architekturgeschichte, denen die dreisten Nonsens-Vorträge seelische Schmerzen bereiten.

Kafka ist in Prag ein touristisches Emblem, sein Porträt findet sich auf T-Shirts und Kaffeetassen, und sein Geburtshaus (von dem in Wahrheit nur das Portal übrig blieb) liegt jetzt am Namesty Franze Kafky und beherbergt selbstverständlich ein Café Kafka. Die Touristen, die hier einkehren, kennen den Namen überwiegend aus dem Deutschunterricht, und sie verbinden damit die Vorstellung eines Sonderlings. Nur ein kleiner Prozentsatz von ihnen möchte es genauer wissen und geht ins Kafka-Museum, drüben auf der Kleinseite. Das Bild, das dort vermittelt wird, stützt sich auf zahlreiche originale Quellen und bleibt doch recht konventionell: Kafka, der Meister des Albtraums, der Mann mit dem ewigen Vater-Problem. Aus den Lautsprechern dringen Geräusche wie in einer Geisterbahn.

Wie könnte man es besser machen? Ein wohlwollender Freund vermittelte mich an den Geschäftsführer der »Reisehochschule Zürich« und schlug ihm vor, mich als Reiseleiter in Sachen Kafka zu beschäftigen. Erfahrung in dieser Branche habe ich bislang nicht, doch der Gedanke war äußerst verlockend, einer Gruppe von Wissbegierigen Kafkas Lebenswelt zu zeigen und zu erklären, unter Vermeidung sämtlicher Klischees. Ich reiste für eine Woche nach Prag, fand ein geeignetes Hotel und eine kompetente tschechische Stadtführerin, die uns begleiten und alles Organisatorische vor Ort erledigen würde. Kafka-Kenntnisse allein genügen ja nicht. Man muss auch wissen, wo es in der Stadt Toiletten gibt, wie man einen zuverlässigen Busfahrer findet und ein Moldau-Schiff mit Buffet bekommt.

Zürau-Siřem © Reiner Stach / Im Vorder-, wie im Hintergrund das Dorf Siřem (Zürau), ca. 1920 und 2014Doch der Slogan »Kafkas Prag« ist selbst schon ein Klischee. Gewiss, Kafka hat hier den größten Teil seines Lebens verbracht. Doch vor allem in seinen späteren Jahren war er alles andere als ein Stadtmensch, und das ländliche Leben wurde ihm mehr und mehr zum utopischen Gegenbild. Das Glück will es, dass solche ländlichen Bilder fast unversehrt erhalten blieben. Zum Beispiel in dem Dörfchen Siřem (Zürau), in dem Kafka etwa acht Monate auf dem Hof seiner Schwester Ottla lebte und dort, trotz Tuberkulose, ein wenig mitarbeitete und daneben aphoristische Texte und Briefe voller Komik schrieb. Ich fragte die Kafka-Übersetzerin Věra Koubová, ob sie bereit sei, die erste Reisegruppe im kommenden Mai – und gewiss noch weitere – dorthin zu begleiten, und sie war dabei.

Wir fuhren nach Siřem, fanden erneut das vertraute, jetzt halb verlassene Idyll. Vor Ottlas ehemaligem Hof saß ein älterer Mann in einem Liegestuhl: ein Tscheche, der alle Briefe Kafkas kennt, die Namen aller Leute, die hier vor hundert Jahren lebten, und der auch genau weiß, welche Zürauer Gebäude sich im Schloss-Roman wiederfinden. Er trug ein selbst bedrucktes T-Shirt, auf dem Kafka in Ottlas Hof zu sehen war, eine Zeichnung von Robert Crumb.

Kafka-T-Shirt © Reiner StachJa, man ist hier ziemlich weit entfernt vom Prager Café Kafka, doch auf unheimliche Weise dem Schriftsteller weit näher als dort. Oder projiziere ich etwas ins Sichtbare, was ich allenfalls weiß? Noch niemals waren organisierte Reisegruppen in diesem Dorf, ich bin gespannt, wie sie es aufnehmen.

Katalogtexte für die »Reisehochschule Zürich« sind nun auch noch zu schreiben, es ist das erste Mal, dass ich so etwas mache. Es ist nicht so schwer, wie ich glaubte. Eine angenehme Beschäftigung in den Wochen der Erholung, nachdem das Manuskript des dritten und letzten Biographie-Bandes endlich abgeliefert ist.

Fortwährend will jemand wissen, was ich mir denn als nächstes Thema eines Buches vornehmen werde, und ich fürchte, diese Frage wird mir bald auch von Journalisten und Lesern gestellt. Aber muss ich das denn sofort entscheiden? Kann ich mich tatsächlich schon verabschieden von dieser böhmischen Welt, die ich achtzehn Jahre lang bewohnte? Nein. Ich werde den Mann im Liegestuhl fragen, er wird Rat wissen.

Kafka. Die frühen Jahre

Nach den fulminant gefeierten ersten zwei Bänden seiner Kafka-Biographie schließt Reiner Stach sein großes Werk mit Kafkas Kindheit und Jugend, Studium und ersten Berufsjahren ab. Die Entfaltung von Kafkas Sprachtalent, seine Bildungserlebnisse, die Reifung seiner Sexualität und nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit neuen Technologien und Medien sind die entscheidenden Wegmarken. Reiner Stachs Kafka-Biographie genießt schon jetzt den Ruf eines internationalen Standardwerks, das die Möglichkeiten der literarischen Biographie neu ausgelotet hat. Erneut bietet Reiner Stach ein erzählerisch dichtes und farbiges Panorama der Zeit und zugleich die einfühlsame Studie eines außergewöhnlichen Menschen.

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