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Hundertvierzehn | Bericht
Die Arroganz der Macht in China

Eine iPad-Steuer, symmetrische Brüste als Einstellungskriterium für weibliche Beschäftigte, Heiratsverbot für Schulabbrecher – Yu Hua erzählt, welche skurrilen Blüten die Arroganz der chinesischen Führungselite trägt.

 
Yu Hua

Yu Hua hat fünf Jahre als Zahnarzt praktiziert, bevor er Schriftsteller wurde. Auf Deutsch sind von ihm erschienen ›Leben‹ (1998), der von Zhang Yimou verfilmt wurde, ›Der Mann, der sein Blut verkaufte‹ (2000) und zuletzt ›Brüder‹ (2009). ›China in zehn Wörtern‹ durfte in China nicht erscheinen, in Frankreich und den USA erhielt das Buch hymnische Kritiken. Yu Hua wurde 1960 in der ostchinesischen Provinz Zhejiang geboren und lebt in Peking.

Im Oktober 2010 belegte der chinesische Zoll aus heiterem Himmel jedes ins Land mitgebrachte iPad mit einer Gebühr von 1000 Yuan. Die Unterschiede in Ausstattung und Preis ignorierte er und legte für seine zwanzigprozentige Gebühr einen Einheitskaufpreis von 5000 Yuan zugrunde. Wer in Hongkong, wo Smartphones und andere elektronische Geräte deutlich billiger als in Festlandchina sind, ein iPad für gut 3000 Yuan gekauft hatte, wurde in derselben Höhe zur Kasse gebeten. Selbst wer mit seinem iPad auf Reisen gegangen war und nun zurückkehrte, musste 1000 Yuan zahlen. Diese ohne Vorwarnung erlassene Vorschrift erregte einen Sturm des Protests. Selbst das Handelsministerium äußerte offen Kritik: Schließlich war eines der wesentlichen Versprechen Chinas bei seinem WTO-Beitritt 2001 die Zusage gewesen, keine Zollgebühren auf alle Arten von Computern zu erheben; der nun auf iPads erhobene Einfuhrzoll verstieß gegen die WTO-Regeln.

Extra
Kolumne von Yu Hua – Lesen Sie mehr

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Als ich im Januar 2011 mit meinem iPad außer Landes reisen wollte, erkundigte ich mich am Pekinger Flughafen, wo ich mein Gerät deklarieren könnte, damit ich später bei der Wiedereinreise keine Steuern dafür zahlen müsste. Die ersten vier Angestellten, die ich fragte, sagten, sie hätten keine Ahnung. Erst der Fünfte wusste endlich Bescheid: Die auf iPads erhobene Zollgebühr sei abgeschafft. (In Wahrheit freilich war sie nur halbiert worden.)

Ich fragte ihn: »Warum hat man diese Änderung denn nicht öffentlich gemacht?«

»Warum sollte man?«, fragte er zurück. »Die alte Vorschrift hat man ja vorher auch nicht bekanntgegeben.«

Auf lokaler Ebene übertreffen manche Vorschriften die der nationalen Behörden sogar noch an Absurdität. Die südchinesische Provinz Hunan legte im Jahr 2004 ein neues Einstellungskriterium im Rahmen der medizinischen Eingangsuntersuchung für angehende weibliche Beschäftigte im öffentlichen Dienst fest: symmetrische Brüste. Das Amt für öffentliche Sicherheit der nordchinesischen Stadt Harbin erließ im selben Jahr eine Verordnung, derzufolge Streifenpolizisten mit einer Bundweite von mehr als neunzig Zentimetern den Dienst quittieren mussten. Das Verkehrsamt der Provinz Zhejiang im Süden von Shanghai verbot seinen männlichen Mitarbeitern im Jahr 2006 das Tragen eines Bartes. Als Benimmregel für Krankenschwestern forderte die südchinesische Stadt Shenzhen 2001 ein professionelles Dauerlächeln, »das acht Zähne entblößt«. Um die neunjährige allgemeine Schulpflicht zu stärken und die Zahl der Schulabbrecher zu senken, erklärte der Kreis Pinghe in der südchinesischen Provinz Fujian per Dekret, wer ohne Abschluss von der Mittelschule abgehe, dürfe nicht heiraten.

In diesen Erlassen, bei denen man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll, spiegelt sich die Arroganz der Macht in China. Man kann sich die Beamten bildlich vorstellen, wie sie ihre lachhaften Verordnungen erörtern: Während sie, in ihre behaglichen Sessel geschmiegt, ihren edlen Tee trinken und ihre feinen Zigaretten rauchen, fällen sie von einer logischen Warte aus ihr Urteil über gesellschaftliche Probleme. Die Problemlage mag noch so komplex und unberechenbar sein – Hauptsache, die vermeintliche Lösung gehorcht einer simplen Logik. Ob die Gesellschaft die Lösung akzeptieren kann, schert diese Bürokraten nicht. Sie wissen, dass sie auf Protest stoßen werden, aber das ist ihnen gleich – schließlich trampelt die chinesische Staatsgewalt schon seit Langem auf den Rechten des Individuums herum. Ihre Vorschriften nehmen sie nur dann still und leise wieder zurück, wenn der gesellschaftliche Widerstand so erbittert ausfällt, dass ihre Vorgesetzten unmutig werden und sie für Unruhestifter halten, die der gesellschaftlichen Stabilität schaden.

In vielen Fällen stehen die Vorschriften, die von chinesischen Verwaltungsbehörden erlassen werden, in Widerspruch zum nationalen Recht. Ein Beispiel hierfür liefert die am ersten Januar in Kraft getretene revidierte Fassung der »Bestimmungen zur Beantragung und Nutzung einer Fahrerlaubnis«. Um die Unfallquote auf chinesischen Straßen zu senken, erließ die Verkehrsverwaltung des Amtes für öffentliche Sicherheit diese neuen Vorschriften, die als die strengsten Verkehrsregeln der chinesischen Geschichte bezeichnet wurden. Besonders die folgende Regelung löste breiten Protest aus: ein Sechs-Punkte-Abzug für das Überfahren einer gelben Ampel. Das jährliche Punktekonto für einen Führerschein beläuft sich in China bloß auf zwölf Punkte; sinkt der Punktestand auf Null, wird der Führerschein eingezogen. Das zweimalige Überfahren einer gelben Ampel genügt also, um den Führerschein zu verlieren.

Viele kritisierten, eine solche Strafe missachte Newtons erstes Gesetz, also das Trägheitsprinzip, und werde nur noch mehr Auffahrunfälle heraufbeschwören. Selbst die staatlichen Medien stellten die neue Regelung in Frage. Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua erklärte: »Paragraf 26 des ›Gesetzes zur Straßenverkehrssicherheit der Volksrepublik China‹ legt fest: Eine Verkehrsampel umfasst die Lichtzeichen Rot, Grün und Gelb. Das rote Licht signalisiert ein Verbot der Durchfahrt, das grüne Licht eine Erlaubnis zur Durchfahrt und das gelbe Licht eine Warnung. Jedes dieser drei Lichtzeichen erfüllt eine eigene Aufgabe. Wenn die Verkehrsverwaltung nun die Funktion des gelben Lichts mit der des roten Lichts gleichsetzt, stellt sie nicht nur die Fahrer vor technisch unlösbare Schwierigkeiten, sondern handelt auch in offenkundigem Widerspruch mit dem Gesetz.« Unter dem Druck der Öffentlichkeit sah sich die Verkehrsverwaltung schließlich zu einem Rückzieher gezwungen: Man wolle bei den Fahrern vor allem Aufklärungsarbeit leisten – von einer Bestrafung sehe man vorläufig ab.

In dieser Zeit machte der folgende Witz die Runde:

Ein Mann kommt in einer Winternacht nicht nach Hause. Als er am nächsten Morgen endlich heimkehrt, fragt ihn seine Frau, was los ist.

»Als ich gestern Abend an die Kreuzung kam«, erklärt er, »da hat die Ampel in einem fort gelb geflackert. Erst heute Morgen um sechs hat sie wieder normal funktioniert. Hätte ich die Ampel bei Gelb überfahren, so hätte mich das sechs Punkte gekostet, und das Wenden an der Kreuzung neun Punkte.«
»Warum hast du mich denn nicht angerufen?«, fragt seine Frau weiter.
»Telefonieren beim Fahren kostet drei Punkte.«
Der Mann schlottert vor Kälte, und seine Frau fragt ihn: »Und wieso bist du so verfroren? Du hast doch im Auto gesessen!«
»Es hat so stark geschneit, dass ich in einem fort das Nummernschild abwischen musste. Ein unleserliches Nummernschild kostet zwölf Punkte.«

 

Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

China in zehn Wörtern

Yu Hua ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Chinas. Seine Bücher haben sich in China Millionen Mal verkauft. Dass sein neues Buch ›China in zehn Wörtern‹ von den Chinesen verboten wurde, liegt weniger an seiner Kritik am heutigen China als an den Parallelen, die er zwischen der Kulturrevolution und dem neuen kapitalistischen System zieht. Wie zu Zeiten Mao Zedongs, sieht Yu auch heute Unmenschlichkeit und Gewalt. Der Großteil der chinesischen Gesellschaft profitiert nicht vom Wohlstand, sondern wird auf brutale Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die persönlichen Essays lassen aber auch Yus Verbundenheit zu seinem Heimatland erkennen. ›China in zehn Wörtern‹ wirft einen ganz anderen, einen neuen Blick auf ein Land, von dem noch viel zu erwarten ist.

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