Die Ursache dafür sehen viele in einer überhöhten Geldausgabe durch die chinesische Zentralbank. Laut den Zahlen, die die Zentralbank bekanntgegeben hat, betrug die umlaufende Geldmenge Ende 2013 110,65 Billionen Yuan, während sie zehn Jahre zuvor nur bei 22,1 Billionen Yuan gelegen hatte. In einem Jahrzehnt hat sich die Geldmenge also mehr als vervierfacht. Eines der Grundprinzipien der Geldlehre besagt: Mit jedem Yuan, den eine Volkswirtschaft an Wert wächst, sollte die Zentralbank als die Geld ausgebende Institution auch einen Yuan mehr in Umlauf bringen. Jede darüber hinausgehende Emission bedeutet einen Überschuss. Doch das Verhältnis zwischen der Geldmenge und dem Bruttoinlandsprodukt beläuft sich in China auf fast 2 zu 1 – das Bruttoinlandsprodukt lag 2013 bei 56,88 Billionen Yuan.
Das chinesische Wirtschaftswachstum stützt sich vor allem auf Investitionen. Deshalb ist es auf einen breiten Zuwachs an Krediten angewiesen. „In den letzten dreißig Jahren“, so der Ökonom Wu Xiaoling, „haben wir mit übermäßigen Geldemissionen das rasche Wirtschaftswachstum angekurbelt.“
In den meisten Volkswirtschaften hätte dies eine massive Inflation heraufbeschworen. Aber der chinesische Verbraucherpreisindex ist in den letzten zwei Jahren bloß um etwa zwei bis drei Prozent gestiegen und hat nur vereinzelt die Drei-Prozent-Marke durchbrochen. Nur zweimal in den letzten zehn Jahren schnellten die Preise deutlich nach oben: 2007 in der Spitze um über acht Prozent, 2011 teilweise um über sechs Prozent. Warum also hat der Geldüberschuss keine Inflation nach sich gezogen?
Offizielle Stimmen streiten eine übermäßige Geldausgabe ab. Der Leiter der Abteilung für Analyse und Statistik der chinesischen Zentralbank, Sheng Songcheng, erklärte in einer Pressekonferenz am 1. Januar 2014, die umlaufende Geldmenge sei deshalb so groß, weil die Sparquote und der Anteil an indirekten Finanzierungen (also Finanzierungen in Form von Bankkrediten) so hoch seien. Mit einer Sparquote von über 50 Prozent liege China weltweit an der Spitze.
Und was sagen inoffizielle Stimmen? Die Ökonomen sind sich uneins. Statt auf ihre Ansichten näher einzugehen, möchte ich lieber die ebenso phantasievolle wie originelle Erklärung eines befreundeten Literaturprofessors wiedergeben. Man dürfe – so besagt die von ihm erfundene „Ökonomie der korrupten Beamtenschaft“ – die Rolle einer gewaltigen gesellschaftlichen Gruppe nicht vernachlässigen: der Beamten.
Korrupte Beamte geben die riesigen Summen an Bestechungsgeldern, die sie kassieren, gewöhnlich nicht aus, und in der Bank bewahren sie sie aus Angst vor Entdeckung auch nicht auf. Stattdessen verstecken sie ihr Geld auf alle erdenklichen Weisen. Die kühne Behauptung des Literaturprofessors lautet: Fünfzig Prozent der gesamten Geldmenge seien in den Händen korrupter Beamter – und eben darum auch nicht im Umlauf.
Bei der Suche nach Geldverstecken entwickeln korrupte Beamte einen erstaunlichen Einfallsreichtum. Im chinesischen Internet spricht man scherzhaft von „Aktionskunst“ und unterscheidet die folgenden Arten von Verstecken:
Erstens: Geldkoffer. So versteckte der ehemalige Parteisekretär der Stadt Wenchang in der südchinesischen Provinz Hainan, Xie Mingzhong, über 25 Millionen Yuan Bargeld in neunzehn Geldkoffern.
Zweitens: Toiletten. Yan Dabin, der ehemalige Leiter des Verkehrsamts des Kreises Wushan im mittelchinesischen Chongqing, lagerte 9,39 Millionen Yuan in vier Kartons im Badezimmer einer neuen, noch nicht bezogenen Wohnung. Als Wasser aus dem Klo nach unten sickerte, flog das Versteck auf.
Drittens: Jauchegruben. Xu Qiyao, der ehemalige Leiter des Bauamts der ostchinesischen Provinz Jiangsu, verbarg einen Teil der über 20 Millionen Yuan, die er unterschlagen oder an Bestechungsgeldern kassiert hatte, säuberlich in Plastiktüten verpackt in einem hohlen Baum, einem Aschehaufen, einem Reisefeld, unter Dachziegeln und in einer Jauchegrube.
Viertens: Gasflaschen. Der ehemalige Leiter des Straßenamts der Stadt Ganzhou in der südchinesischen Provinz Jiangxi, Li Guowei, versteckte Millionen von illegal erworbenem Geld bei sich zu Hause in einer speziell angefertigten Gasflasche. Weitere 2,8 Millionen Yuan lagerte er in einem Geldkoffer, den er unter einem Müllhaufen neben dem Haus eines seiner Brüder auf dem Land vergrub.
Fünftens: Mietwohnungen. Luo Yaoxing, der ehemalige Leiter der Abteilung für Immunisierungsprogramme im Zentrum für Krankheitsbekämpfung der südchinesischen Provinz Guangdong, mietete eigens ein Luxusapartment, um das Geld, das er auf krummen Wegen erworben hatte, zu lagern. Er verpackte die Scheine bündelweise in schwarzen Plastiktütchen, aber obwohl er die Wohnung mit wasserundurchlässigem Papier ausgelegt und mit Trockenmitteln ausgestattet hatte, begannen die 12 Millionen Yuan zu schimmeln.
Sechstens: unter der Erde. Li Xiaolin, der ehemalige Leiter der Kohleprüfstelle der Stadt Qinhuangdao in der nordchinesischen Provinz Hebei, vergrub über 15 Millionen Yuan im Hof eines aufgegebenen Häuschens im nahen Lulong, das vormals seine Eltern bewohnt hatten.
Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Trotz einer Vielzahl von Prozessen gegen korrupte Beamte hat sich die Situation in den letzten zehn Jahren nicht wesentlich verbessert. So wurde Ende Dezember 2013 der ehemalige Vizedirektor der Bahndirektion von Hohhot in der Inneren Mongolei, Ma Junfei, wegen der Annahme von Bestechungsgeldern und der Verschleierung enormer Geldsummen zu einer auf Bewährung ausgesetzten Todesstrafe verurteilt. In seinen zwei Häusern hatte Ma Geld und Gold im Wert von über 130 Millionen Yuan gelagert. Vor Gericht erklärte er, er habe die Bestechungsgelder nicht angerührt. Am meisten Kopfzerbrechen habe ihm die Frage bereitet, wie er sein Geld verstecken solle.
Dass fünfzig Prozent der umlaufenden Geldmenge in den Händen korrupter Beamter sei, ist keine statistische Tatsache, sondern die kühne Behauptung eines Literaturprofessors, der ich allenfalls bedingt Glauben schenke. Trotzdem bin ich überzeugt: Die korrupte Beamtenschaft Chinas hat eine so frappierende Menge an Geld aus dem Umlauf gezogen, dass sie damit dazu beigetragen hat, die Inflationsgefahr einzudämmen. Aus gutem Grund glauben die meisten Chinesen, dass die aufgedeckten Fälle von Korruption bloß die Spitze des Eisbergs darstellen.
Natürlich kann die „Ökonomie der korrupten Beamtenschaft“ den anhaltenden Preisanstieg nicht stoppen. In den letzten Jahren haben die Chinesen eines deutlich zu spüren bekommen: Alles wird teurer, nur das Geld wird billiger.
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

Yu Hua ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Chinas. Seine Bücher haben sich in China Millionen Mal verkauft. Dass sein neues Buch ›China in zehn Wörtern‹ von den Chinesen verboten wurde, liegt weniger an seiner Kritik am heutigen China als an den Parallelen, die er zwischen der Kulturrevolution und dem neuen kapitalistischen System zieht. Wie zu Zeiten Mao Zedongs, sieht Yu auch heute Unmenschlichkeit und Gewalt. Der Großteil der chinesischen Gesellschaft profitiert nicht vom Wohlstand, sondern wird auf brutale Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die persönlichen Essays lassen aber auch Yus Verbundenheit zu seinem Heimatland erkennen. ›China in zehn Wörtern‹ wirft einen ganz anderen, einen neuen Blick auf ein Land, von dem noch viel zu erwarten ist.