Zhang erinnert sich noch heute, wie seine Mutter mit einem Strick so fest gefesselt wurde, dass ihre Schultergelenke knackten. Zwei Monate später wurde sie erschossen.
Erst 1980, vier Jahre nach dem Ende der Kulturrevolution, wurde Fang rehabilitiert. Ein lokales Gericht erklärte ihre Hinrichtung für unrecht und sprach sie von jeder Schuld frei.
In den folgenden Jahren vermieden Zhang und sein Vater jede Erwähnung ihres unverzeihlichen Fehlers. Erst nachdem der Vater in den Ruhestand getreten war, sprach er sich mit seinem Sohn aus: Er übernehme die Verantwortung, schließlich sei Zhang damals noch ein Kind gewesen.
Im Jahr 2013 berichteten die Medien über die Gewissensbisse, die den inzwischen neunundfünfzigjährigen Zhang quälten: Seit Jahren, so gestand er, müsse er immer wieder weinen, ja, hemmungslos heulen. Oft erscheine ihm seine Mutter im Traum. »In meinen Träumen ist sie so jung wie bei ihrer Hinrichtung. Dann knie ich vor ihr nieder und umklammere ihre Hände voller Angst, sie könnte im nächsten Moment wieder verschwinden. ›Mama‹, sage ich, ›ich bitte dich auf Knien um Vergebung.‹ Aber sie antwortet mir nicht. Ich bin überzeugt: Mit ihrem Schweigen bestraft sie mich.«
Warum spricht die Mutter in seinen Träumen nie ein Wort zu ihm? Ich glaube nicht, dass sie ihn bestrafen will. Sie weiß, wer die Schuld trägt: nicht ihr Sohn oder ihr Mann, sondern das Regime. Von ihm erwartet sie eine aufrichtige Entschuldigung. Seit viereinhalb Jahrzehnten wartet sie nun schon – wie all die anderen Toten, die der Kulturrevolution zum Opfer fielen.
In den letzten Jahren haben manche, die während der Kulturrevolution im Namen der revolutionären Sache anderen Leid zugefügt haben, sich über die Medien oder über das Internet bei ihren Opfern entschuldigt. All diese reuigen Sünder sind bereits im Ruhestand. Sie bekennen ihre Schuld nicht nur, weil sie sich die Fehler, die sie in einer unmenschlichen Zeit begangen haben, nicht verzeihen können – sie sind auch beunruhigt darüber, dass die Kulturrevolution seit einigen Jahren zunehmend in einem positiven Licht gesehen wird. Deshalb erheben sie ihre Stimmen und berichten von ihren Untaten – in der Hoffnung, dass die heutige Jugend aus diesen Gräueln lernt. Aber ihre Stimmen sind schwach und verhallen in einer Flut von innen- und außenpolitischen Ereignissen, Boulevardmeldungen und Sportnachrichten, die im Internet kursieren.
Anders als diese von ihrem Gewissen geplagten Einzeltäter vergibt sich die Kommunistische Partei bedenkenlos alle Fehler, die sie während der rund sechseinhalb Jahrzehnte ihrer Herrschaft begangen hat. Mehr noch: sie bemüht sich nach Kräften, die historischen Spuren dieser Fehler zu verwischen. In den ersten Jahren nach Mao wurde in der chinesischen Gesellschaft massive Kritik an der Kulturrevolution laut. Als das Regime erkannte, dass damit auch seine eigene Autorität untergraben wurde, unterband es die Kritik kurzerhand. Es schien, als hätte es die kritischen Stimmen nie gegeben. Im offiziellen Diskurs hat eine aufrichtige Auseinandersetzung mit diesem dunklen Kapitel keinen Platz; nur in der Bevölkerung nimmt eine solche Auseinandersetzung vereinzelt Gestalt an.
Angesichts all der hässlichen Auswüchse unserer Gegenwart – man denke nur an die Umweltzerstörung, die Kluft zwischen Arm und Reich, die wuchernde Korruption, den Menschenhandel, die illegale Landnahme und den erzwungenen Abriss von Häusern – sehnen sich heute viele, die die Kulturrevolution noch am eigenen Leib erlebt haben, aus einem ohnmächtigen Zorn heraus nach der Vergangenheit zurück. Denn unter Mao übte das diktatorische Regime eine derart strikte Kontrolle aus, dass es keine so verbreiteten gesellschaftlichen Probleme und keine so scharfen Gegensätze gab.
Weil die Behörden eine kritische Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution seit Langem unterdrücken, haben die Nachgeborenen keine Vorstellung davon, was damals geschah. Als Rotgardisten uniformiert, versammelten sich im Juni 2013 Absolventen der Pädagogischen Universität Zentralchinas in Wuhan zu einem Gruppenfoto auf dem Campus. In den Augen dieser jungen Leute war die Kulturrevolution nichts als eine gigantische Party. Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf nutzen clevere Geschäftsleute die Kulturrevolution, um Werbung für ihre Produkte zu machen. Im August 2013 sah ich an der Autobahn zum Flughafen von Hangzhou eine riesige Leuchtreklame, auf der eine Rotgardistin mit dem Ausruf »Genossen, hier bin ich!« dem Betrachter beide Arme entgegenstreckte.
Der Streit zwischen China und Japan um die Diaoyu-Inseln (japanisch: Senkaku-Inseln) entfachte in der chinesischen Bevölkerung eine immer hitzigere japanfeindliche Stimmung. Im September 2012 kam es in über fünfzig chinesischen Städten zu antijapanischen Demonstrationen. Die Teilnehmer begnügten sich nicht mit allerlei Parolen, sondern demolierten japanische Autos und Restaurants und setzten japanische Geschäfte in Brand. Gleichzeitig wurden in Chinas größtem Filmstudio – Hengdian in der ostchinesischen Provinz Zhejiang – zahlreiche Filme und Fernsehproduktionen gedreht, die den Zweiten Chinesisch-Japanischen Krieg von 1937 bis 1945 zum Thema hatten. Dazu kursiert ein Witz: Das größte Schlachtfeld dieses Krieges liegt nicht etwa in Shanghai oder dem jahrelang umkämpften Changsha, sondern auf dem Studiogelände von Hengdian; dort haben mehr Japaner den Tod gefunden, als Menschen in Japan leben.
Der Umgang der japanischen Regierung mit der eigenen Geschichte erzürnt die Chinesen, aber auch die chinesische Regierung lässt einen anderen, kritischen Umgang mit ihrer Vergangenheit vermissen. Wir ermahnen Japan: Wenn es sich nicht ernsthaft seiner Geschichte als Invasionsmacht stelle, drohe es die Fehler von einst zu wiederholen. Genauso müssen wir uns aber auch selbst ermahnen und unsere Lehren aus der Vergangenheit ziehen.
Immer mehr Chinesen heißen die Kulturrevolution gut und hoffen auf ihr Wiederaufleben. Die meisten von ihnen wollen meiner Meinung nach nicht wirklich das Rad der Geschichte zurückdrehen, aber der Verdruss über die Gegenwart weckt in ihnen die Sehnsucht nach einer Revolution. Freilich entzündet sich ihr Missmut an unterschiedlichen Dingen: Manche sind aufgebracht über die wachsende Profitgier der chinesischen Gesellschaft, andere über die Interessengemeinschaft, die sich in den letzten dreißig Jahren zwischen Kadern und Geschäftsleuten gebildet hat.
Selbst unter denen, die die Kulturrevolution eigentlich ablehnen, hat der Unmut über die Gegenwart zu dem verbreiteten Glauben geführt, die Revolution sei bloß zum falschen Zeitpunkt gekommen: Heute, nicht damals bräuchten wir eine Kulturrevolution.
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

Yu Hua ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Chinas. Seine Bücher haben sich in China Millionen Mal verkauft. Dass sein neues Buch ›China in zehn Wörtern‹ von den Chinesen verboten wurde, liegt weniger an seiner Kritik am heutigen China als an den Parallelen, die er zwischen der Kulturrevolution und dem neuen kapitalistischen System zieht. Wie zu Zeiten Mao Zedongs, sieht Yu auch heute Unmenschlichkeit und Gewalt. Der Großteil der chinesischen Gesellschaft profitiert nicht vom Wohlstand, sondern wird auf brutale Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die persönlichen Essays lassen aber auch Yus Verbundenheit zu seinem Heimatland erkennen. ›China in zehn Wörtern‹ wirft einen ganz anderen, einen neuen Blick auf ein Land, von dem noch viel zu erwarten ist.