Die Rede ist fantastisch, sage ich mir – da hat sich jemand richtig Zeit genommen, seine Rhetorik überlegt, sie geerdet, den nötigen Respekt erwiesen und uns wachgerüttelt. Aber wie wach wollen wir werden? Das ist ja heute immer die Frage, und daran liegt es wohl, dass ich am Ende das Gefühl habe, mir wurden faule Eier gelegt. Da gibt es Weichzeichnungen, die ich nicht so recht verdauen kann, neben den klaren, wichtigen und wertvollen Worten.
Aber von Anfang an: Ein Moment, den Lanier ansteuert, betrifft etwas, das er nicht wirklich ausspricht und was mich eigentlich gründlicher beschäftigen sollte. Und das ist die gewaltige Wissensvernichtung, die wir heute erleben. Die Fähigkeit, disparat zu denken und gleichzeitig systemisch. Heute steht alles, und da gebe ich Jaron Lanier recht, im Banne der Netzwerkeffekte. Es gibt nur noch die eine Enzyklopädie Wikipedia, es gibt nur noch Google und Microsoft, es gibt nur noch Facebook mit seinen Tochterfirmen. Es gibt keine Zeit für die Entwicklung von Argumenten. Dafür gibt es die Sirenenserver, die Riesencomputer und Big Data, die Algorithmen und die Statistiken. Die statistische Häufung, es gibt den Verlust des Versteckes in der Masse, denn wir verschwinden nicht mehr, wir tauchen nur noch auf in unseren schwindelerregenden Postdemokratien. Aber wie steht es um die Konzentration? Die Beschäftigung mit einem Thema, einem Gegenstand. Können wir das noch? (Wer ist wir? Ach, ja, wir gibt es nur noch in einem sehr entfernten Sinn. Verallgemeinert.) Werden meine Kinder später (wenn sie einmal durch die üblichen immer-noch-staatlichen Institutionen durch sind) noch Bücher lesen und in Argumenten denken? Wird es dann nur noch um eine vage Meinung und Stimmung gehen, oder wird man diese Meinung noch belegen können? Wie wird ästhetisch argumentiert werden? Gibt es sowas wie Ästhetik dann noch? Ich treffe derzeit jede Menge junger Menschen, die hasten, weil sie sonst überhaupt nicht weiterkämen. Die gerade mal Zusammenfassungen lesen können, die andauernd die Dinge, um die es gehen sollte, in ihrem Studium überspringen, und manchmal werde ich selbst zu so einem jungen Menschen, morphe mich zumindest in ihre Hektik hinein, drucke Wikipediaartikel aus und lese Bücher quer. Das ist auch meine Realität – ich nenne sie dann: pragmatisches Vorgehen. Sie nennen sich die prekär Beschäftigten, die Generation Praktikum, und nesteln andauernd an ihren Handies, wie ich selbst allzuoft an meinem Handy nestle, als wäre ich eine Figur aus Gary Shteyngarts Roman ›Super Sad True Love Story‹, den er als Dystopie verfasste, als könnte man das noch. Wir leben in einer Zeit, in der Dystopien sich dann immer schon als Gegenwart irgendwoanders herausstellen.
Und ja, mir gefällt gut, was Lanier über die Bücher sagt, natürlich, da bin ich erstmal als Verfasserin von Büchern quasi geschmeichelt. »… ein Buch greift viel tiefer. Es ist die Feststellung eines bestimmten Verhältnisses zwischen einem Individuum und der menschlichen Kontinuität.« Ich weiß nichts über die menschliche Kontinuität. Das müsste man mir mal mehr erklären. Es klingt erstmal eben so unglaublich sympathisch, genauso wie der Satz »Autor zu sein zwingt uns zu einer vermenschlichenden Form der Verwundbarkeit«. Es ist die Anti-Foucault-Ecke seines Denkens, aber in meiner Lebens- und Schreibpraxis vermeine ich, ihn zu verstehen. Ich finde es richtig, dass er seine Rede erdet, eine Art rhetorischer Trick, mag man sagen, die emotionale Schiene, das Gerede von Würde, von Humanismus, die allerdings auf eine unglaubliche und für unsere Zeit typisch gewordene Vagheit im Nachdenken über Wirtschaft und Finanzkapitalismus trifft. »Die Glockenkurve statt des Starsystems« – ist sein Mantra, dahin sollen wir uns zurückbewegen. Ein verlockender Gedanke zur Aufrechterhaltung einer Fiktion der Mittelschicht wie sie vielleicht auch von so manchem CDUler geträumt wird, aber was sind schon diese alten politischen Positionen heute im Zeitalter von Expertokratien, Technokratien, neoliberaler Hegemonie, Finanzkapitalismus – you name it! Die Glockenkurve unterlag bestimmten historischen Voraussetzungen, die jetzt nicht mehr gegeben sind. Und doch – wer will nicht daran festhalten? Auch die Strategie, dass man keiner Horde angehören soll, sondern immer unterschiedlichen Gruppen angehören, sodass eine Art identitäre Vielfalt entstehen soll, die friedenstiftend wäre. Sorry, die Welt besteht nicht aus Leuten, die sich für das eine oder das andere Baseballteam zu entscheiden haben. Und warum nochmal lieben Sie Konzerne, Herr Lanier?
Was mich beschäftigen sollte, denke ich mir an dieser Stelle noch einmal, ist die gewaltige Wissensvernichtung, die wir erleben. Es ist in vielerlei Hinsicht die Form des Wissens, die verlorengeht. Da mag Google noch so viele Bücher scannen, es braucht ja doch das Bewusstsein des Lesers oder der Leserin. Die Fähigkeit sich zu erinnern, die Fähigkeit zu erkennen, was wesentlich ist. »Gleichzeitig aber haben viele digitale Aktivisten eine scheinbar unendliche Toleranz gegenüber der gigantischen Ungleichheit, wer von dem allsehenden Auge profitiert.« Diese unendliche Toleranz gegenüber der aufklaffenden Schere zwischen Arm und Reich, die in den letzten Jahren entstanden ist – woher speist sie sich? Vielleicht sollte ich doch lieber Ulrike Hermann lesen? »Sieg des Kapitalismus« oder »Hurra, wir dürfen zahlen« – Die Lektüre würde es zumindest erleichtern, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum all die Computer nicht mehr funktionieren, die in der Sekundarstufe der Neuköllner Schule meines Sohnes stehen. Ulrike Hermann scheint die Deutlichkeit zu lieben. Und die Zusammenhänge. Vielleicht sollte ich mich dabei fragen: War es zuerst die Schere zwischen Bewusstsein und Handeln? Aber nein, ich mochte die Rede mit ihren manchmal auftretenden klaren Worten –
Ja, wird aber jetzt ein Fuzzi in mir mich unterbrechen, man steigt leicht ein in einen Kulturpessimismus, dem bloß der fade Technologieoptimismus gegenübersteht, was ihn aber auch nicht aufregender macht. Stopp, sage ich dann, das ist jetzt aber doch sehr ungenau. Eine Diskussion, die wir uns nicht mehr ganz leisten können, da andere das Mantra verfolgen: »Wir machen Milliarden, bevor wir den Karren an die Wand fahren.« Ich bestehe auf meinem Urheberrecht, so viel ist klar. Ein klägliches Detail nur, gewiss, aber mal sehen, wie viele ich bin und was uns sonst noch so einfällt.

Politisches Denken und radikales Sprechen – Kathrin Rögglas Essays und Theaterstücke.
Unsere Realität gleicht einem Katastrophenfilm, einem worst-case-Szenario, einem Shakespeare’schen Königsdrama: Wirtschaftskrisen, Medien-Hysterie, private Paranoia. Kathrin Röggla setzt ihre kritische Phantasie und ihre kluge Sprachkunst dagegen. Sie analysiert und seziert den Zustand unserer Zeit: fiktive Alarmierungen, reale Ängste und falsche Sehnsüchte. Lustvoll und konsequent, geistreich und spielerisch durchleuchten ihre Essays und Theaterstücke unsere Gegenwart.