»Von zentraler Bedeutung ist die rasch fortschreitende Erosion der nie hinreichend verankerten wissenschaftlichen Infrastruktur. Das Problem ist das Fehlen institutioneller Bedingungen in Deutschland, die die Holocaust-Forschung auf Dauer zum festen Bestandteil des Wissenschaftslebens machen. Wer heute in der Bundesrepublik zum Holocaust forscht, tut dies mehr als in den letzten zwanzig Jahren in thematischer Isolation, ohne feste universitäre Anbindung und mit geringer Aussicht auf beruflichen Erfolg.«
Die Kernaussagen des Papiers entsprachen auch meinen eigenen Erfahrungen: Fast alle Konferenzen über den Holocaust, auf denen ich Vorträge hielt, fanden im Ausland statt. Förderprogramme für Gastwissenschaftler, wie in Washington oder in Yad Vashem/Jerusalem, existierten in Deutschland lange Zeit nicht. Zudem gibt es bislang – anders als in den USA, Israel und Großbritannien – an deutschen Universitäten keinen einzigen Lehrstuhl, der sich exklusiv der Forschung über den Holocaust widmet. Auch wenn die mangelnde Institutionalisierung der Holocaust-Forschung in Deutschland nicht auf bösen Willen zurückzuführen ist, sondern viel mit dem föderalen Aufbau des bundesdeutschen Wissenschaftsbetriebs zu tun hat, vor allem auch der Tradition, Lehrstühle nicht thematisch eng, sondern möglichst weitgespannt zu konzipieren, wirkt es doch insgesamt eher peinlich, dass die Bundesrepublik lange Zeit so wenig in die Holocaust-Forschung investierte. Deutsche Kolleginnen und Kollegen, die zu den entsprechenden Themen arbeiteten, traf ich deshalb vor allem im Ausland.
Als das traditionsreiche Institut für Zeitgeschichte in München dann Anfang 2013 unerwartet eine Leitungsposition für ein noch zu gründendes »Zentrum für Holocaust-Studien« ausschrieb, stand es für mich außer Frage, mich darauf zu bewerben. Schließlich eröffnete dies die einzigartige Möglichkeit, an der notwendigen Institutionalisierung der Holocaust-Forschung in Deutschland entscheidend mitzuwirken. Zugleich bot das Institut mit seiner langjährigen Expertise in der NS-Forschung beste Voraussetzungen, die Holocaust-Forschung in einen breiten zeitgeschichtlichen Kontext einzubetten und dadurch eine isolierte Spezialforschung zu vermeiden.
Was sind nun die wesentlichen und vordringlichen Aufgaben eines deutschen Zentrums für Holocaust-Studien? Seit meinem Amtsantritt im Sommer 2013, mit dem eine bis Ende 2016 andauernde, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte Vorlaufphase begonnen hat, verfolgt das Zentrum vor allem drei Arbeitsschwerpunkte: Der wichtigste Tätigkeitsschwerpunkt betrifft den Aufbau einer Forschungs-Infrastruktur: Wie in Washington und Jerusalem wurden Fellowships für ausländische und deutsche Gastwissenschaftler eingerichtet, wobei bislang junge osteuropäische Forscher besonders häufig vertreten waren. Das Zentrum nimmt auf diese Weise eine wichtige Brückenfunktion in dieser Schlüsselregion der Holocaust-Forschung ein, in welcher die Forschung oft mit problematischen politischen Rahmenbedingungen zu kämpfen hat, wenn man an das Beispiel Ungarns und anderer Länder denkt. Mit Workshops und internationalen Konferenzen ist das Zentrum zugleich darum bemüht, die deutsche mit der internationalen Forschung zu vernetzen. An einer Konferenz im Oktober 2014 über die europäischen Gesellschaften im Holocaust nahmen Referenten aus fünfzehn Ländern teil. Im Februar 2016 wird dies nicht anders sein, wenn das Zentrum zusammen mit seinen polnischen und österreichischen Partnern den Aufschwung des Antisemitismus in Europa 1935-1941 vergleichend in den Blick nimmt.
Den zweiten Arbeitsschwerpunkt des Zentrums bildet die Forschung selbst, die natürlich ebenfalls in enger internationaler Kooperation betrieben werden muss, um nationale Blickverengungen zu vermeiden. Eine besondere strategische Partnerschaft hat sich dabei mit dem Mandel Center for Advanced Holocaust Studies am US Holocaust Memorial Museum in Washington entwickelt. Das mit Jürgen Matthäus herausgegebene Tagebuch des NSDAP-Chefideologen Alfred Rosenberg zeugt von dieser fruchtbaren deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit. Im Rahmen des europäischen EHRI-Projektes (European Holocaust Research Infrastracture) wird das Zentrum in den nächsten Jahren ein komparatives Projekt über Berichte von Diplomaten unterschiedlicher Länder über den Holocaust durchführen, und in osteuropäischen Archiven lagern noch Tonnen von Quellen, die bislang immer noch nicht hinreichend ausgewertet worden sind und die eine zentrale Grundlage zukünftiger Forschungsarbeiten des Zentrums bilden werden.
Der dritte Arbeitsschwerpunkt des Zentrums ist schließlich die universitäre Lehre, mit der an der Ludwig-Maximilians-Universität München bereits begonnen wurde. Die LMU mit ihrem breiten historischen Profil, u.a. einem renommierten Lehrstuhl für jüdische Geschichte und Kultur, bietet für Lehre über den Holocaust einen idealen Rahmen und eröffnet dem Zentrum für Holocaust-Studien Kooperationsmöglichkeiten mit zahlreichen interessierten Kolleginnen und Kollegen. Wenn das Zentrum demnächst umfassende Lehr- und Prüfungsberechtigungen erhalten wird, dann werden die LMU, das Institut für Zeitgeschichte und das Zentrum für Holocaust-Studien einen institutionellen Rahmen bilden, der München zu einem der zentralen Standorte der Holocaust-Forschung in Deutschland macht. Gleichzeitig ist die Arbeit des Zentrums darauf ausgerichtet, Lehre über den Holocaust in ganz Deutschland institutionell zu sichern. Vom 20. bis 24. Juli 2015 veranstalten das Mandel Center for Holocaust Studies und das Zentrum deshalb in Washington, DC einen gemeinsamen »Teaching Summit« mit Wissenschaftlern, die an deutschen Hochschulen über den Holocaust unterrichten, um so einen breiten Erfahrungsaustausch in Gang zu bringen. Aufbauend auf den Ergebnissen eines Workshops in Tutzing 2014 haben Andrea Löw und ich kürzlich den Sammelband ›Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung‹ herausgegeben, der zahlreiche spannende Einführungen in unterschiedliche Forschungstrends und Forschungsansätze der Holocaust-Forschung versammelt, die in deutscher Sprache bislang noch nicht verfügbar waren.
Ende des Jahres 2016 soll schließlich die Vorlaufphase des Zentrums enden und dieses weiter ausgebaut werden, auf der Grundlage einer gemeinsamen Bund-Länder-Finanzierung. Spätestens dann wird man endgültig sagen können: Holocaust-Forschung in Deutschland hat eine institutionell gesicherte Zukunft.

Seit 1946 verschollen, wurden die Tagebücher des NSDAP-Reichsleiters Alfred Rosenberg erst 2013 aufgefunden. Hier liegen sie erstmals als Gesamtausgabe vor, ausführlich kommentiert von den renommierten Historikern Frank Bajohr(Zentrum für Holocaust-Studien, München) und Jürgen Matthäus (US Holocaust Memorial Museum, Washington). Rosenbergs Aufzeichnungen zeigen, dass seine Rolle bei der Vorbereitung und Umsetzung des Holocaust lange unterschätzt wurde. Schon früh einer der radikalsten Antisemiten, unterstützte er bis zuletzt die deutsche Vernichtungspolitik. Seine Notizen verdeutlichen neben seiner unbedingten Ergebenheit gegenüber Hitler die erbitterte Konkurrenz innerhalb der Funktionselite um den »Führer«, insbesondere die intime Feindschaft zwischen Rosenberg und Joseph Goebbels. Aus der Perspektive eines der Hauptverantwortlichen eröffnet dieses Schlüsseldokument neue, wichtige Einblicke in die vom NS-Regime erzeugte Gewaltdynamik.