Der ganze Habitus des Mannes war der eines smarten, mit allen Wassern gewaschenen Humanisten, der unter dem Druck der realen Verhältnisse handelt und dafür einfach den richtigen Job hat. Ein pragmatischer Humanist, der seinen Gästen alles bieten wollte und dabei irgendwie vergessen hat, dass es auch ein Markt ist, auf dem er sich bewegt. Und auf diesem Flüchtlingsmarkt gibt es ebenfalls unique selling points, nicht direkt gegenüber den Gästen, wohl aber vermittelt an sie durch die Geldgeber. Im Gebäude drinnen zeigten sich in dem großen Ballsaal des obersten Stockwerks Ilya Kabakov- oder Bert Neumannartige Bauten, die ein Minimum an Privatsphäre bieten sollten. Die Rigips-Bauten waren oben offen, nachts schlafen die Gäste also unter elektrischem Dämmerlicht, es stimmt insofern: diese Teilöffentlichkeit summt.
Ein paar Monate zuvor saß ich in einem Künstleratelier unter sozusagen anderem elektrischen Licht in der aufgeregten Stimmung eines Frauennetzwerkes, das an dem Abend gerade eine mobile Rechtsberatung für Flüchtlinge auf den Weg brachte. Es ging um die richtigen und die falschen Busse, um die richtige und falsche Entlohnung der Rechtsanwältinnen, man feierte sich ein wenig ob der eigenen Geschwindigkeit, der rasanten Netzwerkarbeit und der großen Erfolgschancen, etwas auf den Weg zu bringen. Die Diskussionen liefen an den Fragestellungen des Brandings entlang, das eigene Logo und die eigene Erkennbarkeit als Verein mussten besprochen werden, der Webauftritt und die öffentliche Kommunikation spielten nicht nur eine große Rolle, sie bewegten sich immer einen Zentimeter, so schien es mir, vor den konkreten Flüchtlingsprojekten, die danach schon noch auftauchen würden, wenn man dann noch Zeit dafür haben würde. Als Koksstimmung bezeichnete das jemand, eine Konfettilaune, die mich noch lange irritierte, und zugleich mochte ich nicht als Miesmacherin auftreten – es ist doch gut, wenn man Machbarkeit gegen das Versagen der offiziellen Politik setzen kann, sagte ich mir immer wieder.
Sehr institutionell ging es hingegen auf einer Tagung der Bundeszentrale für politische Bildung in einem riesigen Konferenzhotel mit Kreuzschifffahrtsambiente in Kassel zu. Das Thema war Rechtspopulismus, Islamophobie und Postdemokratie. Die Irritation hier speiste sich aus dieser als Mövenpickartig bekannt gewordenen Privatwirtschaftsatmosphäre, die zentimeterdick über die Bundeszentrale für politische Bildung gegossen wurde. Aber welchen Ort kann man sich auch vorstellen, der auf andere Weise knapp 400 Leute heute zwei Tage lang in ein Gespräch miteinander zu bringen vermag (jenseits der Akademie?)? Welches Bild habe ich von Räumlichkeiten für so eine Agora, so ein Riesengespräch? Vielleicht nicht in Form von Mittagstischen mit Wackelpudding, die die engagierten Basisarbeiter aus den Sportvereinen und Schulen begleiteten, die Sozialpädagogen und Journalisten, die sich teilweise alleine auf weiter Flur in der Provinz befinden und nun froh waren um den Austausch und die Information in einem endlich unbesetzten Raum, wie es ein Tagungsteilnehmer formulierte. Unbesetzt, weil dieser privatwirtschaftliche Zuckerguss anscheinend bereits als zweite Natur erlebt wird.
Hätte man mich vor ein paar Jahren noch nach der Definition von öffentlichem Raum gefragt, hätte ich gesagt, dass es das sei, was nie ganz auf die Fotografien draufgeht, ob Spielplatz oder Hauptplatz, immer fehlt irgendwie ein Eck, es fehlt eine Stelle. Inzwischen ist das Verlangen, die Plätze aufs Foto zu bringen, Vergangenheit geworden, der Antrieb alternder, sehr schnell alternder Generationen. Heute werden ohnehin nur noch Selfies gemacht, auf denen sich kein Raum mehr zeigt, bzw. der Raum nur die Dekoration der eigenen Person für ihr social media sein kann. Als Neuanrainerin des Pariser Platzes mit nervösem Frequenzblick aufs Brandenburger Tor durch die Glasfassade dieses Hauses kann ich bestätigen: Es gibt nur noch touristische Kasperliaden auf diesem Platz. Bierbikes, Selfiemädels, Hochzeitsgesellschaften, die sich von den Staatsbesuchen nur durch die Entourage unterscheiden. Clowns, Kostümierte, seltsame Minidemonstrationen und Breakdance-Shootings finden da statt, der politische Platz von ehemals ist nun die Bühne der Selbstdarsteller und der reinen Symbolpolitik geworden. Ein Ornament, eine Art Nicht-Ort, der immer schon im Postkartenformat verschwunden ist, da sich Politik heute in reiner Symbolpolitik zu verlaufen scheint. Den Rest besorgt die Wirtschaft, könnte man sagen. Am Pariser Platz finden sich jedoch nur wenige privatwirtschaftliche Zeichen, schon mal nicht diese für Berlin üblich gewordenen neuen grassrootartigen Graffitis, die in Wirklichkeit nur noch Werbung für Großkonzerne sind. Und doch ist jeden Moment klar, dass die politische Emphase des öffentlichen Raumes in der Stadt an diesem Ort kaum noch „wirklich“ vertreten sein kann und vor allem niemals von seiner Marktgängigkeit getrennt.
Aber wie ist heute eigentlich öffentlicher Raum zu beschreiben? Symbolhaft begrenzt wird er von zwei architektonischen Extremformen: Auf der einen Seite das Flüchtlingslager, auf der anderen Seite das Bugouthouse, jener Privatbunker, der für das individuelle Überleben nach der Apokalypse zuständig ist. Das eine stellt die absolute Öffentlichkeit jenseits jeder Privatsphäre dar, das andere radikale Privatsphäre, deren Ziel es ist, jegliche Öffentlichkeit zu negieren. Dazwischen irgendwo situiert das Tempelhofer Feld, die chinesischen Undergroundsupermärkte auf dem Balkan, diese Vorhölle der Privatwirtschaft, die neighbourhood gardens in NYC, die Kanalböschungen am Landwehrkanal, das Dach einer Kreuzberger Schule, die Turnhallen online oder offline, der public space im Netz, die Internetseiten des Berliner Senats, aber auch die Diskursverwerfungen in den Medien, die gedachte Agora der Demokratie.
Lese ich heute jenes bereits erwähnte Buch des amerikanischen Politologen Colin Crouch von 2008, das Rancières Begriff der Postdemokratie erfolgreich unters Theorievolk brachte, sieht es mich bereits fremd an. Damals deklinierte Crouch in seinem Buch die Trias Politik – Wirtschaft – Bürgertum durch, ihn interessierte die Bändigung des Kapitalismus, die Zähmung der Bestie, und er suchte die Instanzen ab, die einen Widerstand zu versprechen schienen – Wahlen, Demonstrationen, Protestkultur. Heute ist diese Engführung des politischen Feldes so nicht mehr gegeben, d.h. die Erosion der sogenannten Altparteien ist weiter fortgeschritten, und der neoliberale Siegeszug stößt hierzulande vermutlich nur auf einen einzigen Widersacher, den Terrorismus. Sicher ist es nicht die als unkontrollierbar ausgerufene Migration, die neue Märkte generiert, in denen das zivilgesellschaftliche Engagement ein entscheidender Faktor ist. Die politische Klasse rechnet längst mit ihm. Das schweiße doch die Bevölkerung zusammen – so zumindest rechtfertigt das Land Berlin zynisch sein eigenes Versagen.
Legitimationskrise, Repräsentationskrise, Kommunikationskrise geben sich längst die Hand, derweil lokalisieren sich Lobbyisten in Brüssel neben die politischen Vertreter, Lufthansa neben das Land Hessen etc.
Die amerikanische Soziologin Saskia Sassen hat vor rund zwanzig Jahren schon geschrieben, dass es ein Irrtum sei zu glauben, die Macht brauche nicht ihre Zentren. Frankfurt, London und auch Berlin erzählen diese Geschichte immer wieder, Berlin allerdings nur sechs-geschossig. Vor zwanzig Jahren war allerdings mehr die Rede von den fake cities, den Camouflage-Architekturen und Fassadenkulturen, den versteckten Sicherheitssystemen – Poller auf der Straße vor Botschaften, die in die Erde versenkt werden können, kommt ein Berechtigter durch, versteckte Kameraüberwachung im öffentlichen Raum. Heute haben wir weniger fake cities als fiction cities, und der öffentliche Raum ist weniger verhübscht, verniedlicht oder falsch, sondern eventbezogen, Erlebnisraum, eingespannt in eine Dramaturgie, geplant von Stadtmarketingagenturen, auch wenn diese Planung nie ganz aufgeht. Wir leben eben in einem Zeitalter, in dem nicht nur jegliche politische Agenda ein strong narrative braucht, eine starke Geschichte, auch unsere europäischen fiction cities befinden sich in einem steten Wettbewerb um Touristen und müssen mit Dramaturgien arbeiten, um die Stadt erfahrbar zu machen, als würde ansonsten nur architektonische Ödnis walten. Die Imagekampagne unter dem ehemaligen Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit „Be Berlin“ hat sich immerhin durchgesetzt. Design- und Flow-Märkte, Partystimmung auf den Grünflächen längs des Landwehrkanals, ermöglicht durch den Easyjettourismus, Berlin als präsentisches Lebensgefühl, ganz gegenwärtig, ganz JETZT. Der öffentliche Raum ist dabei das Konsumangebot für Touristen.
Man kann ja insgesamt sagen, dass die Fiktion, ursprünglich mal die Domäne der Schriftsteller, ins politische Feld gewandert ist, und diese in die Marketingabteilungen, die Lobbyorganisationen, die die symbolische Arbeit der Politik in zahlreiche narratives übersetzen oder Gegenerzählungen kreieren (um in neuer Symbolpolitik zu landen). Im öffentlichen Raum wird diese Fiktionalisierung unterstützt von der Tatsache, dass er vermeintlich immer zweifach da ist: real und digital. Er ist per se mediatisiert. Wie in den medialen Netzwerken macht sich daher auch im öffentlichen Raum die Struktur des Gerüchts breit, in die wir alle in der What’s-app- und Twittergesellschaft eingeübt werden. Es ist aufklärungstechnisch gesehen eine ambivalente Form der öffentlichen Kommunikation, die nicht nur die Individuen ermächtigt, sondern auch ständig überschreibt, fiktionalisiert, phantasmatisch hinzudirigiert, deren Vielstimmigkeit nicht umsonst in sämtlichen Allegorien in das Gesicht eines Ungeheuers übersetzt wird, und nicht in das eines Rettungsankers oder einer Freiheitsstatue – zumindest hierzulande. Flashmobs und spontane Events sind der räumliche Ausdruck der Facebookgesellschaft. Guerillaclowns und privater Wachdienst das neue Personal.
Diese Form der Fiktionalisierung ist auch deswegen heikel, weil sie sich nicht leicht lösen lässt von ihrer marktwirtschaftlichen Funktionalisierung, die in den letzten Jahrzehnten sich rasch umgesetzt hat. Von der Einschreibung des Marktmodells in den öffentlichen Raum, der Privatisierung nicht nur der Verkehrsbetriebe und Stadtwerke, der Umwandlung von Behörden zu Agenturen mit ihrer Branding-Logik, war es nur ein kleiner Schritt zur großen Zeit der Verantwortungsdelegation, der Auftragsketten und Subunternehmen, die entscheidende Grundlage für die neuen Sicherheitsarchitektur, denn Deregulierung schafft die Löcher, die ständig gestopft werden müssen durch Bürgerbeteiligung. Die große Zeit der Bauskandale brach an, aber auch die zahlreicher Zwischennutzungen und Bürger-Besetzungen, die schon die Stadt in der zweiten Hochphase der Urbanismusdiskussion Mitte der Neunziger zu einer Kenntlichmachungsmaschine für postdemokratische Verhältnisse umgebaut hat. Parteifilz, Interessensgetriebenheit und vor allem Verantwortungsdelegation.
Interessant ist auch die Verbindung dieser Fiktionalisierung zu dem neuen Sicherheitsregime. Wollte man eine diesbezüglich ein Negativ-narrative für Städte entwerfen, wäre sicher London die Hauptstadt des CCTVs, Washington die der Abhörwahnsinnigkeiten, in Paris, und immer mehr in Frankfurt, Wien und München entsteht räumlicher Stillstand über den Immobilienmarkt, während die Hauptstadt der Hausmeister und Frickler flugs zur Hauptstadt des Burnouts avanciert, für die Filme wie ›Berlin Calling‹ (2008) harmlose Vorboten waren, die die Stadt als unendliche Partyzone mit Direktanschluss an die Psychiatrie darstellten. Berlin erledigt sich quasi selbst. Der Drogenhotspot im Görlitzer Park ist nur noch ein Verantwortungshickhack der Behörden, die den Verkehr der an die Hundert Dealer mit ihrer Kundschaft aus den Hostels zu ignorieren scheinen. In vielen Bereichen zerfällt die Stadt längst in eine Tagsüberstadt der Werktätigen, der Familien und in eine Nachtstadt der Feiernden. Die Realität von Nordneukölln, Kreuzberg und Prenzlauer Berg mit ihren Immobilienblasen, die von dieser Imagepolitik angetrieben werden, kann getrost mit reiner Gentrifizierung überschrieben werden, vermeintlich solides Investment für das internationale Bürgertum, das sich längst in Immobilienfonds zusammengeschlossen hat. Anscheinend ist es Gold, auf dem wir sitzen, auch wenn es oft nicht das unsrige ist.
Doch wohin driftet das asymmetrische Hin und Her zwischen Bürgerinitiativen und Immobilienblasen? Zwischen Image-Bauprojekten der klassischen bürgerlichen Parteien – Flughäfen, Bahnhöfe etc. und Geschädigten, die unter der Flagge des St.Florian-Prinzips sich formieren, um sich gegen Enteignen und sogenannte Sonderopfer gegenüber der Öffentlichkeit zu wehren, die sie zu leisten haben, Pegidademonstranten und Aktivistinnen der sogenannten Willkommenskultur? Wie gestaltet diese den Raum, und welche Verwerfungen erzeugen dagegen die Grenzziehungen? Inwieweit steht die Verantwortungsdelegation bei den großen Bauprojekten der Psychologie der Märkte, der emoji-geleiteten Politik gegenüber?
In dieser Aufspannung zwischen dereguliertem Sicherheitsregime, privatwirtschaftlicher Immobilienspekulation und zivilgesellschaftlichem Engagement inmitten einer zusehends von Touristisierung und unfreiwilliger Migration gleichermaßen bestimmten Stadt, ist der Traum von Partizipation und Teilhabe noch nicht ausgeträumt. Prinzessinnengärten, Clubzwischennutzung unter der Elsenbrücke, Tempelhofer Feld, guerilla gardening mit Flüchtlingsküchen, mobile Rechtsanwaltsbüros, Stadtteilmütter und lange Tische, bewegen sich an der Grenze zwischen Kapital- und Lebens-Aufwertung. Es wird immer noch weitergeträumt und umgesetzt. Auch in der Kunst. Das Theater eines Matthias Lilienthal mit seinen X Wohnungen machte aus Privaträumen öffentliche, die shabbyshabby Apartments des raumlabors aus öffentlichen Orten neue avanciertere Privataneignungen, selbst die Junge Akademie der Künste konnte mit Brunnenspielen das Hansaviertel aufmischen. Doch gerade das Theater bewegt sich auf einer sehr engen Grenze zwischen Demokratisierung und Eventisierung (und somit Touristisierung!) des Raumes, es gilt genau hinzusehen, wem das Spektakel dient, das den öffentlichen Raum miteinbezieht, und wer es wie erzählt.
Die Träume werden aber mitunter auch von Alpträumen des Sicherheitsregimes unterbrochen. Einmal konnten wir am Pariser Platz die Sprengung eines verdächtigen Gegenstandes durch Polizeikräfte beobachten, nein, wir wohnten ihr von der Akademie aus bei. Ein Spektakel für die Besucher des Hauses. ›Homeland‹ wurde also nicht umsonst bei uns gedreht! Aber eigentlich ist das Sicherheitsdispositiv rund um uns befestigt, mit den üblichen Lücken mit viel Platz für unsere Phantasie, die nicht nur von der commercial fiction kolonisiert ist, sondern auch von der political fiction der fictitious times, in deren Überkreuzung sich nicht nur die Attentate des elften September abspielten, sondern auch die Legenden der geheimen Waffenlager im Irak. In diesen Alpträumen zeigt sich die Zukunft der Städte, wie sie zu reinen Fallen werden können: Wie oft am Tag denke ich auf offener Straße an die Möglichkeit eines Übergriffs, scanne mein Gegenüber bereits ab nach verdächtigen Indizien, und wie selten am Tag widme ich mich weitaus realeren politischen Gefahren? Versuche ich etwa bereits, gewisse städtische Situationen zu meiden?
Als Michael Moore seine legendär gewordene Rede über diese Zeiten des Fingierens, in denen wir leben, 2003 hielt, war der Irakkrieg der Sündenfall eines von drastischen Medienkriegen begleiteten von nun an stattfindenden Dauereinsatzes im Nahen und Mittleren Osten, an dem embedded journalism und Kriegsspiele, Hollywood fiction und Handyzeugenschaft gleichermaßen arbeiten. Die gesellschaftliche Fiktion bewegt sich heute allzu nahe am Fingierten, auch sie verhilft imaginäre Vorstellungen zu bündeln und in eine Richtung zu bewegen. Es ist eine Tektonik des Imaginären, Phantasierten und Narrativen, die es genau zu untersuchen gilt.
Städtische Fiktion ist nicht nur stets auf ein Ensemble bezogen, nicht nur auf ein einzelnes Gebäude, sie lebt vor allem von der möglichen Nutzung des Raumes, und wie wir gestern von Eyal Weizman gehört haben, steht hinter ihr auch das Konzept eines beweglichen, sich stets verändernden städtischen Raums. Sein Satz, ein Zitat: „You never drive on the same road“, ist sehr nahe an die Narration gebaut, denn es führt ein zeitliches Modell in den Raum ein. Es gibt enge Verbindung von diesem Konzept des beweglichen, nicht definierten, sondern immer neu auszuhandelnden öffentlichen Raums, den ägyptischen sidewalks, von denen wir gestern von Omar Nagati erfahren haben, und der Fiktion.
Möchte man diese also aus ihrer Touristisierungs- und Sicherheitsfuchtel befreien, muss man logischerweise mit einem sozial bewussten und flexiblen Raummodell arbeiten – Vielleicht bräuchten wir aber auch ein wenig mehr gezielte Nichtfiktion, vielleicht aber geht es wieder darum, genau hinzusehen, wer welche Geschichten wann erzählt, und diesen Hintergrund sichtbarer zu machen? Dabei wird sich heute immer mehr die Frage stellen, welche Räume sich wie überlagern können. Wie fiktive Räume sich in reale schieben, oder sich Fiktion in Gegenfiktion schiebt, konkurrierende Raummodelle entstehen, konfligierende. Es reicht jedenfalls nicht aus zu sagen, wie es immer wieder erstaunlich ist, dass jeder dritte Berliner ein Ehrenamt bekleidet. Schließlich kann es Neighbourhoodwatch sein oder ein offener Tisch. Es reicht auch nicht aus zu sagen, es müssen die vielen sein, die sie erzählen, denn Marketing nutzt bereits die vielen. Unsere urban fiction darf sich deswegen auch nicht abschließen, aber ihre Öffnungen müssen präzise gesetzt werden. Ich habe einmal das Bild der umgekehrten Reparaturwerkstatt gebracht, frei nach Richard Sennetts Buch ›Zusammenarbeit‹, ein Modell, das für die Kunst wie für den öffentlichen Raum stehen könnte. Wir entwickeln als Künstler zu Reparierendes und schicken es gen Publik um. Eines ist sicher, der öffentliche Raum muss stets zu Reparierendes bleiben, nur dann taugt er was.

Politisches Denken und radikales Sprechen – Kathrin Rögglas Essays und Theaterstücke.
Unsere Realität gleicht einem Katastrophenfilm, einem worst-case-Szenario, einem Shakespeare’schen Königsdrama: Wirtschaftskrisen, Medien-Hysterie, private Paranoia. Kathrin Röggla setzt ihre kritische Phantasie und ihre kluge Sprachkunst dagegen. Sie analysiert und seziert den Zustand unserer Zeit: fiktive Alarmierungen, reale Ängste und falsche Sehnsüchte. Lustvoll und konsequent, geistreich und spielerisch durchleuchten ihre Essays und Theaterstücke unsere Gegenwart.