Die Idee der Gruppe 47 weiterführend, lädt die in seinem Namen errichtete Stiftung jedes Jahr Anfang November junge Autoren nach Greifswald ein, um drei Tage lang aus entstehenden Texten zu lesen und miteinander zu diskutieren.
Die Frage nach der fremden Sprache eröffnet das Gespräch. Streng kontrolliert sie im Schreiben die deutsche Sprache, die nicht ihre Muttersprache ist, antwortet die aus Argentinien stammende María Cecilia Barbetta. Grammatik, Syntax, idiomatische Wendungen, alle Bedeutungsvarianten der Wörter werden mit unnachgiebiger Leidenschaft befragt. Über diese Erkundungen der sprachlichen Formen entwickelt sich der Text, die Sprache treibt die Geschichte voran, über Wendungen, semantische Felder, Assoziationen und Wortsprünge. Die Figuren allerdings entziehen sich der Kontrolle, sie machen sich selbständig. Schwindelerrengende, präzise konstruierte Satzbögen liest María Cecilia Barbetta: ihre Figuren, junge Mädchen, spielen auf einem Platz, in dessen Mitte ein Baum steht, den der Volksmund Vampirbaum nennt – eine harmlose, freundliche Nachmittagsszene, eine spürbar unberechenbare Situation, in die sich die Figuren hineinbegeben haben. Eine Spannung entsteht zwischen den auf eigene Rechnung agierenden Figuren und dem kontrollierenden Zugriff der Autorin. Könnten die Sätze nicht weniger sinnenverwirrend, sondern einfach strukturiert, klar und transparent sein?, fragt sich María Cecilia Barbetta. Nicht nur das Wiederspiegeln des Undurchschaubaren in der Satzstruktur ist wichtig, sondern die Atemlosigkeit des Satzbögen, sagt sie. Der hastende Atem. Erzeugt wird ein Unbehagen, die Atmosphäre ist angespannt, eine Bedrohung durchzieht den Roman. Er spielt in Argentinien, in den Jahren 1974-1975. Es ist die Zeit vor dem Militärputsch. Die Präsidentin ist eine Spiritistin. Aberglaube und Gewalt vermischen sich. Die ersten Menschen verschwinden. Darum geht es in ›Bloody Mary‹, das ist der Arbeitstitel des Romans.
Seit ihm Eigentümlichkeiten seiner Sprache aufgefallen sind, greift er ganz bewusst auf Bilder und Strukturen des Spanischen zurück, sagt Juan Guse, der ebenfalls argentinische Wurzeln hat, das Spanische ist seine zweite Muttersprache. Sein erster Roman „Lärm und Wälder“ spielt in Argentinien, in den Anden und in einer Gated Community, „Nordelta“, und erzählt von einer Zeit angehaltenen Atems, von Unruhen und ersten Toten. Auf unvorhergesehene Weise korrespondieren plötzlich die beiden Geschichten miteinander, ›Bloody Mary‹ und ›Lärm und Wälder‹. Auch bei Juan Guse geht es um den Wahn des Glaubens und Gewalt, Menschen flüchten sich zu den Worten einer Predigerin, in die Wildnis oder suchen Rettung in der sicherheitstechnischen Aufrüstung. Überlebenstechniken werden zum Fetisch. Survival Games.
Beide Romane erzählen von der Zeit vor der Katastrophe, davon, wie Menschen sich zu wehren versuchen gegen die Angst, mit Beschwörungen, Formeln, Ritualen und Objekten – sei es eine kleine Madonna, sei es ein Gewehr –, und wie genau diese abergläubische Panik in Gewalt und Terror kippt.
Und ein weiterer Faden wird gespannt, zu Argentinien und zu einer Geschichte von Religion und Terror. Aus Argentinien sei sie gerade zurückgekehrt, sagt die finnische Autorin Riikka Pelo, dort habe man verstanden, worum es ihr mit ihrem ersten Roman ›Taivaankantaja‹ gehe. Dort habe sie die besseren Leser für ihren Roman gefunden, denn sie hätten nicht nur das Magische ihres Erzählens gesehen – das sei ihnen recht selbstverständlich erschienen –, sondern sie hätten jenseits des Magischen die Unterdrückung erkannt, von der der Roman handelt. Ein junges Mädchen, die Heldin des Romans, wächst in einer repressiven Welt, in einer fundamentalreligiösen Umgebung auf.
Was bedeutet der Tod, wenn man tausende Male gestorben ist, ohne Konsequenzen? Wie bewegt man sich in einer Welt, die nicht aus Problemen und passenden Lösungen besteht? Wer Jahre seines Lebens mit Computerspielen verbracht hat, für den ist es eine verstörende Erfahrung, dass sie Welt so wirr ist, sagt Juan Guse. Wann rechtfertigt der Tod eines Dorfbewohners das Sterben von drei Milizen und einem Späher? Eine Frage der Kriegsführung, eines Frage des Überlebens, im Spiel, AoE2. Existentielle, aber auch ästhetische Fragen wirft die Lebenswelt der Computerspiele auf. Einen Spiel-Charakter zu programmieren lasse sich mit dem Gestalten einer literarischen Figur vergleichen. Zu seinem neuen Roman hat Juan Guse eine Studie geschrieben, in der er die Erzählstimme für seinen neuen Roman erprobt. „Kamelreiter präsentieren genaugenommen Schiffe“. Zwei Figuren treffen sich zum Computerspielen, im Spiel werden Reiche erbaut und bedroht, vor dem Haus finden Aufstände statt. Eine Frage, die programmatisch klingt: »Quixen, was kann ich dagegen tun u. woher soll ich wissen, ob das alles jemals aufhören wird?«
Das alles hat aufgehört. Davon erzählt Heinz Helles zweiter Roman, ›Eigentlich müssten wir tanzen.‹ Was bei Juan Guse drohte, ist hier eingetreten. Das Buch ist eine Art Endzeitroman, unternimmt eine existentielle und anthropologische Neuvermessung: In welcher Welt leben wir? Was ist der Mensch? Dieses Genre ist auffällig präsent in der Literatur der jüngsten Zeit. Diese grundsätzliche Befragung scheint aktuell notwendig und drängend. Er sei ausgegangen von dem täglichen Jammern vieler Leute, sagt Heinz Helle. Er stellte sich vor, es wäre alles weg. Dann würden die Menschen schon einen glücklichen Blick zurückwerfen auf das Verlorene, das Leben, die Dinge. Aber genau das geschah nicht. Zum Erstaunen des Autors. Die Figuren wollten nicht wertschätzen, was sie zuvor hatten. Ein Experiment mit verblüffendem Ausgang. Sie wünschen sich Stille, »ich stelle mir vor, wenn nach uns jemand die Welt wieder aufbaut, wird es eine schweigsame Welt sein«, kein Gerede mehr. Ist die Sprache unheimlich, eine Vergangenheits-, vielleicht Totensprache – »die Sprache, ein Meer von Gespenstern«?
Wenn er sich eine Zeit für seine Jugend hätte aussuchen dürfen, sagt Jakob Nolte, dann wären es genau die Neunziger gewesen, in denen er jung war: eine Pause zwischen Tschernobyl und 9/11, geprägt von New Economy, Fortschritt, Unschuld, man hatte keine Angst mehr, und die größte Katastrophe war der Oralsex des Präsidenten mit seiner Praktikantin. In dieser Zeit spielt sein erster Roman, eine Art irrwitziger College-Murder-Mystery-Roman – eine Leiche wird in einen Zaun geflochten gefunden –›Alff‹. (Und verblüffenderweise ergibt sich sofort ein Bezug zu María Cecilia Barbettas Roman, in dem Kinder sich zu einer Detektiv-Bande zusammenschließen, um hinter das Geheimnis der ›Bloody Mary‹ zu kommen. In ›Alff‹ tut sich ebenfalls eine Clique zusammen, um den Mordfall aufzuklären. Und in beiden Fällen sind hinter dem verspielten Erzählen der wirkliche, existentielle Horror und die bodenlose Angst spürbar). Wieso spielt ›Alff‹ an der amerikanischen Ostküste, wenn Jakob Nolte dort nie war? Weil er genau so sozialisiert wurde, sagt Jakob Nolte. Er habe alle Folgen der Simpsons gesehen. Wie Comics ohne Bilder sei seine Sprache, beschreibt Jan Brandt, wie Graffiti, Regieanweisungen. »Iselin und Edvard Honik wuchsen in einem Haus auf.« Der erste Satz des neuen Romans. Mehr müsse man nicht sagen, erklärt Jakob Nolte. Als er jung war, dauerten Filme neunzig Minuten und wurden mindestens dreimal von Werbung unterbrochen, in der zehn verschiedene Mini-Geschichten erzählt wurden. Die Mini-Story, die Unterbrechung, das Hyperaktive sind Strukturprinzipien. Kein konventionelles, chronologisch, psychologisch-realistisches Erzählen. Sondern wie ein Stein, der durch alle Bedeutungsschichten fällt, so stellt er sich seinen Text vor, sagt Jakob Nolte, zu dem Anfang seines zweiten Romans, der sich, ähnlich wie jener von María Cecilia Barbetta, über Variationen von Bedeutungen entwickelt. Es geht um den Wolf, den Werwolf, Lupus erythematodes, die Schmetterlingskrankheit. Die Autoimmunkrankheit. Gruselgeschichten. Selbstzerstörungsprogamme laufen ab – vielleicht wie bei Juan Guses Prepper, vielleicht wie bei Heinz Helles letzten Menschen.
Die Frage nach dem Utopischen. »Ich liebe dich.« – »Ich dich auch.«– »Lass uns Kinder haben.« Wenn er einen solchen Dialog auf die Bühne bringt, denkt sofort jeder an die größte Katastrophe, sagt Jakob Nolte. Also keine Utopie?
Romane erzählten entweder von Utopien, oder sie entwerfen selber eine, sagt Nora Bossong. In Italien habe sie niemandem erklären müssen, wer Gramsci sei. Hier müsse sie erstmal Grundsätzliches referieren. ›36,9°‹, ein historischer Roman. Wie auch der Roman von Riika Pelo, ›Jokapäiväinen elämämme‹, über Marina Zwetajewa, Boris Pasternak und Zwetajewas Tochter. In beiden geht es um die Utopie des Kommunismus. Die Utopien werden in historischen Romanen verhandelt, während die Frage nach der Gegenwart in ein Endzeitszenario führt?
À propos Utopie: Wie kann man heute noch von der Liebe erzählen? Radikal autobiographisch, so macht es der estnische Autor Peeter Helme in seinem Roman ›Am Ende der gestohlenen Zeit‹ und begibt sich gleichzeitig unter den Schutz von Proust, ergänzt seine Erzählung um ausführliche Zitate über die Zeit, beginnend mit den antiken Griechen bis zur modernen Astrophysik. Seine Sprache der Liebe ist barock, überschwänglich, wobei das Estnische nicht so viele Register habe wie das Deutsche, sagt er. Ihm scheint, dass es auch im Deutschen richtig klinge. Aber kann man diese Liebesgeschichte denn glauben? Geht es nicht vielmehr um eine Illusion, die der Held im Erzählen erzeugt? Sind nicht alle Sätze falsch? Beschwörungen? Sich selbst entlarvender Kitsch und ein grandioses Scheitern?
Nein, er habe keinen Liebesroman schreiben wollen. Sondern einen Roman über ein Bewusstsein, ein sich selbst beobachtendes Bewusstsein, sagt Heinz Helle. Eigentlich hatte er an einer Dissertation im Fachbereich Philosophie gearbeitet. Aber die Sprache der aktuellen analytischen Philosophie schien ihm ungeeignet, das Problem zu beschreiben. Für den Roman brauchte es dann ein Gegenüber für das Bewusstsein, theoretisch und erzählerisch. Eine zerbrechende Beziehung. So wurde es auch ein Liebesroman. ›Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin‹. Während die Freundin sich die gemeinsame Zeit in den USA ausmalt, als sie dem Protagonisten folgt, hatte er sich, als er einige Zeit zuvor im Flugzeug saß, Katastrophenszenarien ausgedacht. Ein Endzeitroman.
Ein anderer Bewusstseinsroman: Daniel Grohn, der selber als Psychiater arbeitet, denkt über einen Roman nach, in dem ein Neurologe an einem Hirndefekt erkrankt und den Verlauf, mit all seinem medizinischen Wissen, beobachtet. Um das Auflösen klarer Beobachtungsverhältnisse geht es auch in dem Textauszug, den er vorliest, ein Romanprojekt, das er vielleicht wieder aufnehmen wird. Eine Stewardess, die den Arm des Passagiers berührt – ist das eine Erinnerung, ein Rollenspiel, eine Videoaufzeichnung? Wessen Erinnerung? Die Szenen werden überblendet, sind nicht eindeutig voneinander zu trennen. Eine Irritation entsteht, eine Verunsicherung. Die Bilder wie ein Meer von Gespenstern.
Von einer irritierenden Liebe erzählt Lena Gorelik in einem Auszug ihres neuen Romanprojektes, von einer Liebe, in der Verachtung und Faszination sich die Waage halten. Und von einer Kinderfreundschaft, die von Macht geprägt ist. Ein Kind erniedrigt das andere, beschämt es, und für sie beide ist es Freundschaft. Im Zentrum steht ein Verschweigen: »Aber was hätten wir sagen sollen: Übrigens, du hast deinem ersten besten Freund die Augen ausgestochen, als du drei warst?« Die Frage, ob das plausibel ist, ein Kind sticht einem anderen beide Augen aus, ist hier nicht wichtig. Viel faszinierender ist die mythische Dimension, das antike Motiv.
»... und übrigens hat sich Soundso aufgehängt.« Aus solchen beiläufigen Sätzen sind Daniela Kriens Erzählungen „Muldental“ entstanden. Unerhörte Begebenheiten.
Die Geschichte eines neuen Romans hat sie bereits im Kopf. Es wäre einfacher, so sagt sie, wenn sie die Geschichte ihrer Familie verwenden könnte. Aber das geht nicht. Es gibt Tabu-Zonen. Schutz-Zonen. Wer zahlt den Preis, man selber oder die anderen?, das müsse sich der Schriftsteller fragen.
Und nochmal zur Utopie: Alle seine Romane, so sagt Patrick Findeis, erzählen davon, ob das Leben von Menschen, das sich festgefahren hat, noch einmal Fahrt aufnimmt. Im ersten Roman, ›Kein schöner Land‹, gibt es keinen Aufbruch. Im zweiten, ›Wo wir uns finden‹, gibt es erste Ansätze dazu. Und nun, im neuen Roman, könnte seine Figur es schaffen. Sich nicht einrichten in der behaglichen Nostalgie. Der winterliche Schneefall, das Glänzen der Kneipe, das heimelige Licht, durch all das geht ein Riss.
Die Frage, ob das »Augenspiel« real ist oder erfunden, sei irrelevant, sagt Fridolin Schley. Dennoch hat er für diesen Text, eine lange Erzählung, viel recherchiert. Fridolin Schley hat die Geschichte einer aus Somalia geflüchteten Frau aufgeschrieben. Und er hat eine Anthologie herausgegeben, ›Fremd‹, Geschichten, Gedichte, Satiren, Analysen, Selbsterforschungen, Bekenntnisse oder Utopien, Plädoyers für Weltoffenheit. Die Idee entstand aus einem Moment großer Befremdung, nach einem Abend, einer Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit. Auch hier in Greifswald, Texte zur Flüchtlingskrise. Die Frage der Anmaßung wird diskutiert. Fiktion dürfe alles. So weit sollten wir doch längst sein, nach der Postmoderne. Literatur dürfe sich einfühlen. Er habe deutliche Fiktionssignale gesetzt, sagt Fridolin Schley. Die Geflüchtete knipst mit den Augen, wenn etwas, das sie sieht, erschreckend ist, so, als wollte sie den Moment wie ein Foto festhalten.
Das Thema: Flüchtlinge. »Ich bin auf Dinge vorbereitet, von denen ich noch nichts weiß.« So endet Kristine Bilkaus Text, ein Beitrag zu einer Anthologie zum Thema Rassismus, Fremde, Heimat, zu der mehrere der Autoren beitragen. Sie sprechen davon, dass eine Absage keine Möglichkeit gewesen sei, dass sie nicht Nein sagen wollten, obwohl das einfacher gewesen wäre. Welche Perspektive ist möglich? Kann Literatur nicht erst mit Abstand reagieren? Könnte eine gute Reportage nicht dasselbe leisten? Schreiben aus der Komfortzone. Ich bekomme Herzrasen, wenn ich das höre, sagt Juan Guse. Geht doch hin zu den Flüchtlingen, sprecht mit ihnen, sie sind überall. Sonst bleibt es immer ein Diskurs, der die bestehenden Machtverhältnisse fortschreibt. Am Gorki-Theater gibt es Workshops mit Flüchtlingen. Scheinwelt. Was machen wir hier eigentlich?
Niemand hat das Meer gesehen.
Und ich frage mich, ob die tausendjährige Schildkröte, die durch den Auszug eines Textes von Günter Grass geht, den Fridolin Schley am Abend vorliest, Tut e wan duli aus Thomas von Steinaeckers Roman ›Die Verteidigung des Paradieses‹ ist.