wortgenau mitgeschrieben
Hannes Köhler und Sascha Reh
Hannes: Junge Autoren sprechen über europäische Gegenwartsliteratur in Greifswald, organisiert von der Hans-Werner-Richter-Stiftung. Meine Erwartung, die Veranstaltung ermögliche Werkstattgespräche zwischen den Autoren, hat sich so allerdings für mich nicht erfüllt. Hattest Du, der Du zum zweiten Mal eingeladen warst, andere Erwartungen?
Sascha: Naja, etwas runtergekocht, könnte man sagen. Dass Werkstattgespräche in diesem Format zustandekommen, habe ich schon beim ersten Mal als schwer umsetzbar erlebt. Ich habe mich aber auf das Wiedersehen mit Autoren gefreut, das Kennenlernen von neuen Kolleginnen und Kollegen, sei es auf der Veranstaltung oder im ganzen Drumherum. Es geht ja nicht nur um die Lesungen und Diskussionen, sondern auch um die Pausen, darum, gemeinsam den Tag zu verbringen, um das abendliche Biertrinken. Ich habe mich also auf eine Art Klassenfahrt gefreut.
Und weißt Du jetzt mehr über die europäische Literatur als vorher? Hannes:
Sascha: Ein geschlossenes Bild von europäischer Literatur kann sich natürlich eh nicht ergeben, nicht auf einer einzigen Veranstaltung. Ich habe gemerkt, dass meine Aufmerksamkeit immer dann besonders groß war, wenn der formale Rahmen – also Lesung und Gespräch mit einer Moderatorin oder einem Moderator – gesprengt wurde. Etwa als Sascha Macht und Dorothee Elmiger sich einfach selbst moderiert haben.
Hannes: Mir hat sich am meisten der Moment eingeprägt, in dem Katharina Hacker mit ihrer Frage nach der Dominanz des realistischen Erzählens die vorgegebene Form aufgelöst hat. Ihre Kritik galt ja der Verfasstheit der Gegenwartsliteratur überhaupt.
Sascha: Sehr interessant fand ich daran ihre Sichtweise auf die Literatur aus einer ganz klaren persönlichen Haltung heraus. Dabei hat ihr Exkurs, mit dem sie ja ebenfalls aus dem vorgegebenen Format ausgebrochen ist, ihre Forderung nach Kontroversität und Diversität gewissermaßen vorexerziert. In ihren Augen waren größtenteils nur realistisch erzählende Autorinnen und Autoren eingeladen, und das spiegele, sagt sie, einen allgemeinen Trend. Sie selbst dagegen findet Realismus, Psychologie, Schlüssigkeit uninteressant, sondern interessiert sich vielmehr für überzeugende Konstrukte oder Welten mit einer Eigengesetzlichkeit.
Hannes: Ich denke aber, dass sie zwei Dinge vermischt hat: den Wunsch nach mehr Streit, nach mehr Reibung, und die Frage nach anderen Texten, nach der Dominanz einer bestimmten Literaturform. Ich denke, dass der zweite Punkt nicht nur mit den Autoren, sondern auch viel mit den Lesern zu tun hat, damit, welche Literatur viel gekauft wird. Tatsächlich bin ich eher der Meinung, dass es eine sehr große Diversität in der deutschen Literatur gibt.
Sascha: Dafür gab es sogar Beispiele auf der Tagung. Den poetologischen Text von Dorothee Elmiger beispielsweise, aber auch den Text von Sascha Macht, ›Die Militanz in unseren Herzen‹, der vielleicht auf den ersten Blick realistisch wirken mochte, diesen Eindruck aber sehr schnell unterlief. Die Bilder aus dem Urlaubsparadies, in dem eine Revolution ausbricht, die Verfasstheit der Figuren, all das kippte und verließ schnell realistisches Terrain.
Hannes: Vielleicht gilt das auch für den Ausschnitt aus Anna Weidenholzers Roman ›Weshalb die Herren Seesterne tragen‹, der vordergründig realistisch vom Versuch der statistischen Erfassung des Glücks durch einen pensionierten Lehrer erzählt, aber immer mehr ins Absurde kippt. Der Romanauszug aus Svealena Kutschkes Stadt aus Rauch wiederum entspricht eher dem, was man als magischen Realismus bezeichnen würde. Und auch Dita Zipfels Auszug aus einem Kinderbuchprojekt war in meinen Augen schon von der betont aufschneiderischen Erzählhaltung her alles andere als realistisch.
Sascha: Letztlich ist auch nicht der Realismus das Problem, sondern die konforme Ausrichtung des Marktes und die Tatsache, dass Kritik und Rezipienten dabei mitspielen. Texte heutzutage brauchen eine bestimmte marktkompatible Form. Viele übernehmen in vorauseilendem Gehorsam diese Form, die dann gesetzt ist und kaum noch diskutiert wird. Das ist eine These, über die es sich zu sprechen lohnt. Markt erzeugt Druck nach Lesbarkeit und Vermarktungsaspekten. Unbestritten. Eigensinnigere Texte haben es schwerer. Die Zeiten, in denen Adorno einstündige Radiovorträge über Literatur halten konnte, sind vorbei.
Hannes: Hackers weiteres Argument war ja, dass eine bestimmte Literatur auch eine bestimmte Art des Sprechens über Literatur nach sich zieht. Ich denke aber, dass das Reden über Literatur immer von den Fragestellungen abhängt, die an den Text herangetragen werden. Oder anders: auch über realistische Texte kann man streiten.
Sascha: Vielleicht muss man hier der Tagungsrunde den Vorwurf machen, dass Katharinas Einwurf stärker hätte widersprochen werden können.
Hannes: Dennoch: Obwohl ihr kleiner Impulsmonolog ja einer der lebendigsten Momente der Veranstaltung war, gab es nicht den von ihr geforderten Streit. In diesem Punkt, also der Nivellierung des Diskussionsspektrums und auch der Streitkultur, muss man ihr also Recht geben.
Sascha:Vielleicht gibt es da tatsächlich ein bestimmtes Klima derzeit. Das hat man auch bei Finn-Ole Heinrichs Text ›Freie im Tal‹ merken können, über einen rechtsradikalen Mikrokosmos, der am Freitagabend im Rahmen der Europa-Veranstaltung im Koeppen-Haus vorgetragen wurde. Ich glaube, dass der Text bei einigen Zuhörern für Irritation gesorgt hat, dass darüber aber nicht öffentlich diskutiert und gestritten wurde.
Hannes: Zumal Hans Dieter Zimmermann in einer Art improvisierter Einleitung zur der Tagung durchaus ja auch sehr anschaulich an die Gruppe 47 und die Tradition, die sie begründete, hingewiesen hat. Da herrschte, so ist es zumindest überliefert, eine ausgeprägte Streitkultur. Dieser Vergleich fällt schon auf. Wie hast du die Europa-Veranstaltung ansonsten wahrgenommen?
Sascha: Die Lyrik-Miniaturen von Radek Fridrich haben mich beeindruckt, zudem hat mich Lorenz Langenegger mit einem sehr politischen Essay über die Volksabstimmung in der Schweiz überrascht, den ich nach seinem Text, den ich fast als einen Schelmenroman empfand, so nicht erwartet hatte. Zudem hat der Enthusiasmus für Europa von Lina Neverbickienė eine neue Perspektive eröffnet, eine Hoffnung, die wir hier in Kerneuropa vielleicht schon etwas verloren haben. Was ist Dir besonders in Erinnerung geblieben?
Hannes: Mich hat der Text ›Taumeln‹ von Aleš Šteger aus dem ›Logbuch der Gegenwart‹ beeindruckt, ein Ausschnitt aus einer Reportage, 12 Stunden an einem Busbahnhof in Belgrad, an dem sich Flüchtlinge sammeln, um dann weiter in den Westen zu reisen – oder auch nicht. Der Mikrokosmos, der dort entstanden ist, wurde sehr greifbar. Zudem seine Aussage, dass es in Zeiten von Brexit, Trump und AfD für den Schriftsteller vielleicht wieder Zeit sein könnte, sich politisch zu positionieren.
Sascha: Wobei er sich ja in der Diskussion nach der Lesung zu der Behauptung verstiegen hat, dass Literatur eh nichts verändert.
Hannes: Das war für mich Teil eines Spiels, eine Provokation. Ich glaube, er wollte damit sagen, dass der Autor selbst sich politisch engagieren muss, wobei das dann eben auch mit dem Risiko verbunden ist, dass zum Beispiel all jene, die das im ehemaligen Jugoslawien getan haben, entweder verrückt oder zu Nationalisten geworden seien, oder im Gefängnis säßen.
Sascha: Diese Frage nach der Politik in der Literatur kam ja auch am Samstag, dem letzten Tag, in der Abschlussdiskussion noch einmal auf.
Hannes: Wo ja nicht wenige Autoren der Meinung waren, dass Politik grundsätzlich in Texten nichts verloren hat. Andere sahen das differenzierter. Die Frage ist dabei natürlich immer, was man unter einem politischen Text versteht. Dein dystopischer Text zum Beispiel lässt sich ja auch sehr politisch lesen.
Sascha: Ebenso wie dein Roman, der in den 40er Jahren in Kriegsgefangenenlagern in den USA spielt.
Hannes: Auch Anna Maria Mäkis kurze Texte haben einen ethnologischen Blick auf bestimmte soziale Realitäten geworfen. Ebenso wie Kai Aareleid, in deren Roman es um die Zeit der russischen Besatzung und die Rolle der russischen Minderheit in Estland ging.
Sascha: Also doch: Literatur und Politik sind zwei Seiten derselben Medaille?
Hannes: Ich erinnere mich daran, dass Gesa Olkusz, die am Freitag einen Auszug aus einem neuen Romanprojekt vorgelesen hatte, das in den USA spielt, sehr vehement die Haltung vertreten hat, Literatur dürfe auf keinen Fall didaktisch sein. Und ich glaube, dass sie da für die meisten von uns gesprochen hat. Aber ich habe den Eindruck, dass uns dieses Thema, also das von Politik und der Rolle des Autors darin, in nächster Zeit wieder viel beschäftigen könnte.
Sascha: Am letzten Tag waren die Rückmeldungen zur Veranstaltung ja durchaus auch kritisch. Wie hast Du das wahrgenommen?
Hannes: Ich denke, dass es vor allem um die Frage ging, wie man die Autoren besser ins Gespräch kommen lassen kann. Wie man einen Rahmen herstellt, in dem besser und mehr diskutiert und gestritten werden kann. Die Ideen waren vielfältig. Von einer anderen Sitzstruktur, dem Aufbrechen der klassischen Lesesituation mit Bühne und Moderator über die Frage nach einer sinnvollen Anzahl der Autorinnen und Autoren bis hin zu der Frage, wie wahrscheinlich das Diskutieren über zumeist ja noch unfertige Texte, also die oben erwähnte Werkstattsituation, in so einer Veranstaltung überhaupt sein kann.
Sascha: Es bleibt abzuwarten, ob und in welchem Rahmen die Veranstaltung die Anregungen aus diesem Jahr aufnehmen wird, sowohl von Seiten der Veranstalter als auch von Seiten der Autoren. Vielleicht werden wir das ja selbst erleben.