Im Jahr 2013 hatte Taobao bereits fünfhundert Millionen registrierte Benutzer und täglich über sechzig Millionen Besucher. Die Zahl der Produkte, die von Taobao zum Verkauf angeboten werden, liegt bei über achthundert Millionen. Jede Minute werden durchschnittlich 4,8 Millionen Produkte verkauft – das entspricht einem Marktanteil von über achtzig Prozent am chinesischen E-Commerce zwischen Privatkunden.
Jack Mas Geschäftsimperium verändert den chinesischen Lebensstil: Ohne aus dem Haus zu gehen, kann man nun alles kaufen, was man braucht – und das zu einem Preis, der weit unter dem Preisniveau traditioneller Läden liegt. Die Paketzusteller, die in den Wohnsiedlungen ein und aus huschen, sind in den chinesischen Städten schon ein vertrautes Bild.
Einen besonders eindrucksvollen Anblick bieten dabei die Sportplätze unserer Universitäten: Jeden Mittag türmen sich dort die Waren, die die Studenten bei Taobao gekauft haben. Schweißgebadete Paketboten sehen sich Horden von Studenten gegenüber. Die Boten haben keine Zeit, die Identität all dieser Käufer genau zu überprüfen. Sie fordern ihre Kunden bloß lauthals auf, ihnen die letzten vier Ziffern ihrer Handynummer zu nennen, ehe sie ihnen die Ware aushändigen.
Taobao verwandelt viele konventionelle Läden in Ausstellungshallen. Modebewusste junge Frauen gehen noch immer in die Kaufhäuser, um stundenlang Kleidung anzuprobieren – aber sie kaufen dort nichts mehr. Stattdessen merken sie sich den Schnitt, die Größe und die Marke der Kleidungsstücke, die ihnen gefallen, um sie später daheim bei Taobao zu kaufen, wo dieselben Modelle wesentlich billiger zu haben sind.
Bei allem Erfolg ist Taobao stets auch mit Vorwürfen konfrontiert gewesen, es leiste der Produktpiraterie Vorschub. Jack Ma hat diese Kritik mit den Worten gekontert: »Wenn wir die Produktpiraterie ausrotten können, indem wir Taobao schließen, dann machen wir unseren Laden noch heute Abend dicht.«
In einem Land wie China, das von Produktfälschungen und Billigkopien überschwemmt wird, wäre es weltfremd zu erwarten, Taobao könnte von Produktpiraterie verschont bleiben. Schließlich sind auch in traditionellen Läden gefälschte Produkte allgegenwärtig. Deshalb konnte auch eine ganze Reihe von Fällen von Produktpiraterie auf Taobao den kometenhaften Anstieg seiner Verkaufszahlen nicht bremsen. So sehr die chinesischen Konsumenten Produktfälschungen verabscheuen, so sehr haben sie sich inzwischen daran gewöhnt.
Die boomende Produktpiraterie verweist auf ein ernstes gesellschaftliches Problem im heutigen China: den Mangel an Vertrauen. In einer Gesellschaft, der es an Vertrauen fehlt, konnte Taobao nur deshalb so rasant aufsteigen, weil Jack Ma 2004 Alipay gegründet hat.
Alipay ist eine separate Bezahlplattform. Wer bei Taobao ein Produkt kauft, überweist das Geld an Alipay. Der Verkäufer kann die erfolgte Zahlung einsehen, hat aber zunächst noch keinen Zugriff darauf. Erst wenn der Käufer die Ware erhalten, geprüft und den Erhalt quittiert hat, leitet Alipay das Geld auf das Konto des Verkäufers weiter. Entspricht die Ware nicht den Erwartungen des Käufers, kann er sie zurückgeben, und Alipay überweist das Geld zurück auf sein Konto.
Mit seinen etwa dreihundert Millionen Nutzern und einem Anteil von fast fünfzig Prozent am chinesischen Online-Bezahlmarkt hat Alipay auf wirkungsvolle Weise das Vertrauensproblem bei Online-Käufen gelöst. Zugleich hat es ein Schlaglicht auf eben dieses Problem geworfen.
Unser Regime ist stets darum bemüht, der Bevölkerung weiszumachen, sie und nicht das Regime sei an den gesellschaftlichen Problemen schuld. In Wahrheit jedoch liegt der Schlüssel zum allgemeinen Vertrauensverlust in der fehlenden Vertrauenswürdigkeit der Regierung.
Lange Zeit setzte das Regime blindlings auf wirtschaftliches Wachstum. Seit nun die Umweltverschmutzung immer gravierender geworden ist, geben die Machthaber den Unternehmen die Schuld, ohne ihre eigene Verantwortung mit einem Wort zu erwähnen.
Im Rückblick auf die Entwicklungen der letzten über dreißig Jahre wird deutlich, dass die Regierung in einem fort ihren Kurs gewechselt hat. Wozu sie eben noch angespornt hatte, das hat sie am nächsten Tag schon bekämpft – um tags darauf erneut dazu anzuspornen. Oder um es mit den Worten der Internetgemeinde zu sagen: Erst ruft die Regierung zur Prostitution auf, um dann dem Laster den Kampf anzusagen.
Deshalb möchte ich in Zukunft meine Steuern über Alipay zahlen. Wenn die Regierung ihre Versprechen hält und ihre Vertrauenswürdigkeit wiederherstellt, bin ich bereit, den Transfer zu bestätigen. Andernfalls will ich mein Geld zurück.
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

Yu Hua ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Chinas. Seine Bücher haben sich in China Millionen Mal verkauft. Dass sein neues Buch ›China in zehn Wörtern‹ von den Chinesen verboten wurde, liegt weniger an seiner Kritik am heutigen China als an den Parallelen, die er zwischen der Kulturrevolution und dem neuen kapitalistischen System zieht. Wie zu Zeiten Mao Zedongs, sieht Yu auch heute Unmenschlichkeit und Gewalt. Der Großteil der chinesischen Gesellschaft profitiert nicht vom Wohlstand, sondern wird auf brutale Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die persönlichen Essays lassen aber auch Yus Verbundenheit zu seinem Heimatland erkennen. ›China in zehn Wörtern‹ wirft einen ganz anderen, einen neuen Blick auf ein Land, von dem noch viel zu erwarten ist.