Eine eigentümliche Zweigleisigkeit kennzeichnet seit Langem die chinesische Gesellschaft: das Nebeneinander von Rechtssystem und Petitionswesen.
Schon im Jahr 2004 hat die offizielle Zahl der Beschwerdeschriften die Zehn-Millionen-Marke überschritten. Seitdem ist keine neue Zahl mehr bekanntgegeben worden. All diese Opfer von Korruption und Justizwillkür haben ihr Vertrauen in das Rechtssystem verloren. Stattdessen träumen sie von einem aufrechten Beamten, der sich ihrer Sache annimmt. Auch wenn die Regierung auf allen Ebenen Beschwerdemechanismen installiert hat, ist in den Augen der Beschwerdeführer doch die politische Zentrale am wenigsten der Korruption verdächtig. Also ist Peking das Ziel ihrer Bittgesuche. Doch die dortige Nationale Petitionsstelle nimmt die Beschwerden nur der Form halber auf, ehe sie die jeweilige Lokalregierung dazu veranlasst, den Beschwerdeführer zurückzulotsen. Auf die Dauer allerdings wird ein hartnäckiger Petitionssteller zur Bedrohung für die Karriere der betroffenen lokalen Beamten. Vor allem, wenn in Peking der Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas stattfindet oder wenn der Nationale Volkskongress oder die Politische Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes tagt, duldet das Regime keine Petitionssteller. Also wird die jeweilige Lokalregierung kein Mittel scheuen, um einen Beschwerdeführer auf seinem Weg nach Peking zu stoppen. Die Fälle, in denen solche Querulanten einfach abgefangen und vorübergehend in illegale Gefängnisse gesperrt wurden, sind Legion.
Nun, da China zumindest auf dem Papier ein funktionierendes Rechtssystem etabliert hat, fordern nicht wenige die Abschaffung des Petitionswesens. Wenn die Regierung in einem fort behauptet, China sei ein Rechtsstaat, dann sollte sie nicht länger ein Petitionswesen aufrechterhalten, das mit dem Rechtssystem in Konflikt steht. Dass sie dennoch am Petitionswesen festhält, liegt womöglich daran, dass es ihr selbst an Glauben in das eigene Recht mangelt. Ein anderer Grund – und zwar von einigem Gewicht – besteht darin, dass die Regierung den Beschwerdeführern einen Rest Hoffnung lassen will. Diese Opfer der unterschiedlichsten Formen von Unrecht sollen sich an eine Illusion von Gerechtigkeit klammern können. Denn wenn man ihnen auch diese Hoffnung, diese Illusion noch nähme, würden sie unweigerlich zu radikaleren Formen des Handelns übergehen.
Die Niederlagen, die sie Jahr für Jahr erleiden, ernüchtern die Bittsteller. Ihnen dämmert, dass sie nur durch beharrlich wiederholte Beschwerden echten Druck auf die lokalen Beamten aufbauen können. Und sie begreifen, dass kollektiv vorgetragene Beschwerden eine größere Wirkung entfalten. Angesichts der Tatsache, dass die Regierung Demonstrationen streng kontrolliert, nutzt die breite Bevölkerung kollektive Beschwerden zunehmend als Mittel, um unter dem Deckmantel des Petitionswesens zu demonstrieren und so öffentlichen Druck auf die Regierung auszuüben. Gleichzeitig legen immer mehr Petitionssteller ihr Augenmerk nicht auf das Ergebnis ihrer Beschwerden, sondern auf deren Verlauf. Denn die Justiz ist in ihren Augen ohnehin korrupt und das Petitionswesen eine Farce. Deshalb sind schon die ersten Beschwerdeprofis auf den Plan getreten, die mit den lokalen Beamten bewusst ihr Spiel treiben.
Eine Geschichte mag dies illustrieren. Im Herbst 2007, während des 17. Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas, rief ein Dorfbewohner den Vorsteher seines Dorfes an: Er sei jetzt in Tianjin, unweit der Hauptstadt, und werde gleich in den Zug nach Peking steigen, um eine Beschwerde einzureichen. Der Dorfvorsteher erschrak: Wenn der Beschwerdeführer während des Parteitags auf dem Platz des Himmlischen Friedens auftauchen würde, wäre nicht nur er selbst sein Amt los, sondern auch seine Vorgesetzten, der Gemeinde- und der Kreisvorsteher, würden in Ungnade fallen. Also flehte er den Mann an, er möge nicht nach Peking fahren. »In Ordnung«, antwortete der andere, knüpfte sein Entgegenkommen aber an eine Bedingung: Der Dorfvorsteher müsse seiner Frau unverzüglich 20.000 Yuan überbringen. Kaum hatte der Dorfvorsteher aufgelegt, entwendete er aus öffentlichen Geldern die geforderte Summe, suchte damit die Frau des Mannes auf und ließ sich den Erhalt des Geldes von ihr quittieren, ehe er mit einem breiten Grinsen wieder wegspazierte.
Mit der Verschärfung der sozialen Gegensätze und der stetigen Zunahme von Massenunruhen ist ein neues Leitprinzip aufgekommen: die Wahrung der Stabilität. Aus dem ursprünglich zweiseitigen Nebeneinander von Petitionswesen und Recht ist eine Dreierbeziehung geworden, die da lautet: Petitionswesen, Recht und Stabilität. Während sich das Petitionswesen gegenüber dem Recht in vornehmer Zurückhaltung übt, tritt das Stabilitätsprinzip denkbar harsch auf. Wenn das Recht ein Blatt Papier ist, dann schreibt das Petitionswesen bloß ein paar abweichende Paragrafen auf die Rückseite, das Stabilitätsprinzip aber zerreißt das Blatt oft genug in Fetzen.
Das Aufkommen des Stabilitätsprinzips hat nicht wenige lokale Beamte aus ihrer Bedrängnis angesichts von Beschwerden und Massenunruhen befreit und ihnen schlagartig die Handlungsmacht zurückgegeben. Illegale Vorgehensweisen wie das Abfangen und Einsperren von Petitionsstellern sind unter dem Vorwand der Stabilitätswahrung auf einmal legitim. Manch eine Lokalregierung verletzt nun mit bestem Gewissen die gesetzmäßigen Rechte und Interessen ihrer Bürger und weiß sich dabei obendrein der stillschweigenden Rückendeckung ihrer vorgesetzten Stellen sicher. Auf allen Ebenen wird die Regierung nicht müde zu betonen: »Stabilität geht über alles« – zweifellos auch über das Recht.
Nach dem schweren Eisenbahnunfall am 23. Juli 2011, bei dem zwei Hochgeschwindigkeitszüge in der südostchinesischen Stadt Wenzhou miteinander kollidierten, trafen die Angehörigen der Opfer nach und nach am Ort des Unglücks ein. Am 26. Juli ging bei allen Anwaltskanzleien der Stadt eine »Eilmitteilung« der hiesigen Justizbehörde und der Anwaltskammer ein: »Der Schnellzugunfall vom 23. Juli ist eine höchst sensible Angelegenheit, die die gesellschaftliche Stabilität berührt. Sämtliche Rechtsanwälte und Anwaltskanzleien, die um juristischen Beistand ersucht werden, haben dies unverzüglich der Anwaltsaufsicht der Justizbehörde und der Anwaltskammer zu melden und dürfen diese Ersuchen nicht eigenmächtig beantworten und handhaben.«
Nachdem die Medien diese interne Eilmitteilung zur Wahrung der Stabilität ans Licht gebracht hatten, brach in der Öffentlichkeit Empörung aus. Am 28. Juli entschuldigte sich die Anwaltskammer von Wenzhou öffentlich bei der lokalen Justizbehörde: »Indem wir eigenmächtig den Namen der Justizbehörde von Wenzhou unter unser Schreiben gesetzt haben, haben wir dem Ansehen der Behörde Schaden zugefügt. Dafür bitten wir hiermit um Entschuldigung.«
Die Justizbehörde ist eine staatliche Institution, die Anwaltskammer bloß eine nichtstaatliche Vereinigung, die der Behörde unterstellt ist. Die öffentliche Selbstbezichtigung der Anwaltskammer löste im Internet breites Gelächter aus. Als hätte die Anwaltskammer von Wenzhou es ohne Anweisung der Justizbehörde gewagt, den Namen der Behörde hinzuzufügen! Dazu fällt mir ein Sprichwort ein: Der einfache Soldat fürchtet seinen Offizier mehr als seinen Feind.
Der Widerstand der Bewohner des südostchinesischen Dorfes Wukan gegen lokale Behördenwillkür Ende 2011 illustriert die Schieflage von Petitionswesen, Recht und Stabilitätsprinzip. In Gestalt der Dorfbewohner und der Lokalregierung prallten das Petitionswesen und das Stabilitätsprinzip aufeinander. Dem Recht blieb dabei bloß die Rolle des ungeliebten Dritten.
Wenn außerhalb einer Ehe eine dritte Partei ins Spiel kommt – eine Geliebte –, so nennt man sie in China abschätzig »Kleine Drei«. Dazu gibt es einen Witz: Ein Junge und zwei Mädchen spielen in einem Kindergarten »Familie«. Der Junge sagt: »Ich bin der Papa.« Darauf das eine Mädchen: »Ich bin die Mama.« Darauf das andere Mädchen gekränkt: »Dann muss ich wohl die Kleine Drei sein.«
Wenn das chinesische Petitionswesen, das Recht und das Stabilitätsprinzip miteinander »Familie« spielen würden, dann würde sich wohl die folgende Szene abspielen:
»Ich bin der Papa«, sagt das Stabilitätsprinzip.
»Ich bin die Mama«, sagt das Petitionswesen.
Darauf das Recht gekränkt: »Dann muss ich wohl die Kleine Drei sein.«
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann
© Yu Hua, 2012

Yu Hua ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Chinas. Seine Bücher haben sich in China Millionen Mal verkauft. Dass sein neues Buch ›China in zehn Wörtern‹ von den Chinesen verboten wurde, liegt weniger an seiner Kritik am heutigen China als an den Parallelen, die er zwischen der Kulturrevolution und dem neuen kapitalistischen System zieht. Wie zu Zeiten Mao Zedongs, sieht Yu auch heute Unmenschlichkeit und Gewalt. Der Großteil der chinesischen Gesellschaft profitiert nicht vom Wohlstand, sondern wird auf brutale Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die persönlichen Essays lassen aber auch Yus Verbundenheit zu seinem Heimatland erkennen. ›China in zehn Wörtern‹ wirft einen ganz anderen, einen neuen Blick auf ein Land, von dem noch viel zu erwarten ist.