Ein einleitendes Vorwort
»Wenn ich weiter in einer freiheitlichen Demokratie und einem halbwegs sicheren Europa leben möchte, kann ich nicht am Rand stehen, sondern sollte versuchen, mich mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln dafür einzusetzen«; die Zeit, »in der man als politisch-historisch interessierter Beobachter mit einigermaßen gutem Gewissen abseits stehen konnte, ist wohl vorbei.« So der Autor Henning Ahrens in seiner Dankesrede zum Bremer Literaturpreis 2016. Und was er artikuliert, teilen viele seiner Kolleginnen und Kollegen: das Bewusstsein, dass die (scheinbaren) Selbstverständlichkeiten westlicher Demokratien wie nie zuvor nach 1945 gefährdet sind und auch die Literatur sich zu dieser neuen Gefährdungslage verhalten muss.
Die Frage aber ist, wie man sich als Schriftsteller »einsetzen« soll und was die »zur Verfügung stehenden Mittel« denn sind. Bei einem Schriftsteller sind es naheliegenderweise vor allem sprachliche. Aber ist die Vorstellung, die Sprache als Mittel zu benutzen, nicht absolut unvereinbar mit einem emphatischen Begriff von Literatur? Besteht nicht die Errungenschaft der Moderne gerade darin, die Literatur aus allen ihr äußerlichen, also moralischen, religiösen oder politischen Funktionszusammenhängen zu befreien? Was ist dann aber mit all den großartigen Texten, die durchaus einen Zweck verfolgen und rhetorisch auf politische Wirkung zielen: mit Büchners ›Hessischem Landboten‹ etwa, dem ›Kommunistischen Manifest‹ oder den Briefen der Weißen Rose? Was ist, um ein aktuelleres Beispiel zu nennen, mit den Interview-Büchern von Swetlana Alexijewitsch? Gehören nicht auch solche Texte zur Literatur und stellen sie nicht sehr wichtige, in den Kämpfen der Öffentlichkeit durch nichts zu ersetzende Mittel dar, sich für Freiheit und Demokratie, für Menschlichkeit und Solidarität zu engagieren?
Warum aber sich als Autor, also mit den Mitteln der eigenen Profession, einsetzen? Reicht es nicht, sich in einer Demokratie einfach als Bürger, als Citoyen, zu engagieren, mit den Mitteln, die dafür allgemein zur Verfügung stehen bzw. mit zivilgesellschaftlicher Kreativität immer wieder neu erfunden werden müssen – von der politischen Wahl über die Demonstration bis hin zu Boykott und zivilem Ungehorsam? Wenn sich Autorinnen und Autoren politisch engagieren, d.h. sich auch publizistisch und literarisch zum neuen gesellschaftlichen Hass, zu Ausgrenzung und Rassismus, zu Terror und Gewalt, aber auch zum schleichenden Abbau von Grundrechten verhalten, hat das vor allem zwei Gründe: Erstens ist die »Autonomie« der Literatur, der sich die unterschiedlichsten, verrücktesten Texte verdanken, so autonom nie gewesen. Sie ist angewiesen auf (politisch erkämpfte) Freiheitsrechte und auf Lebenswelten, die diesen Rechten entgegenkommen. Die Verteidigung politischer und gesellschaftlicher Freiheiten dient also auch der Verteidigung eigener, nur scheinbar völlig individueller künstlerischer Freiheiten. Zweitens kann die Literatur seit Beginn der Moderne gar nicht mehr anders, als sich immer wieder neu zu fragen, wie sie sich zur eigenen Zeit verhält. Die Antworten mögen noch so plural ausfallen, der Frage nach der Gegenwärtigkeit aber entkommt kein literarischer Text.
Andererseits: Literatur muss gar nichts. Auch Henning Ahrens versteht seine Rede nicht als »Aufruf an andere Autoren«: »Ich spreche für mich, und dieses Sprechen ist im Grunde nur der Versuch, zu begreifen, was vor sich geht, welche Wandlungen sich vollziehen.« Anders also als bei den großen Debatten über engagierte Literatur in den 60er und 70er Jahren gibt es zum Glück keine großen politischen Erzählungen mehr, in die sich die Literatur inhaltlich wie formal einzufügen hätte. Was in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu beobachten ist: dass zur Verteidigung der Freiheit absurderweise Freiheitsrechte eingeschränkt und die durch diese Rechte ermöglichten Lebensformen in Frage gestellt werden, gilt (noch) nicht für die Literatur: Je eigensinniger und verrückter, desto besser.
»Der politische Aspekt der Poesie muß ihr selber immanent sein«, schrieb Hans Magnus Enzensberger 1962 in seinem berühmten Essay über ›Poesie und Politik‹. Der politische Auftrag eines Gedichts bestehe, so Enzensberger, gerade darin, »sich jedem politischen Auftrag zu verweigern und für alle zu sprechen noch dort, wo es von keinem spricht, von einem Baum, von einem Stein, von dem was nicht ist.« Der Eigensinn der Literatur also bietet Raum für alles, und dies alles kann hochpolitisch sein – vom Gesellschaftsroman, der von Bankern und Machthabern erzählt, über den scheinbar abseitigen Essay zum Thema Stottern und Idiotie, bis hin zu Sprachspiel und Nonsens, zum Gespräch über Bäume und Engel und grüne Esel oder zur Erwähnung eines Kästchens, dessen Inhalt der Text partout nicht verrät.
»Freiheit gelingt am besten am Rand«, hat der experimentelle Autor Franz Mon in einem Interview für ›Hundertvierzehn‹ gesagt. Sich weiterhin am Rand zu bewegen, und zwar voller Lust an der Sprache und ohne schlechtes Gewissen, ist nicht nur möglich, sondern womöglich politischer, als man denkt – zumal vor dem Hintergrund des 20. Jahrhunderts mit seinen fatalen Zwängen zur Politisierung des Ästhetischen und seinen Ästhetisierungen totalitärer Politik. Denn eines tun Texte, die sich den unendlichen Möglichkeiten der Sprache öffnen, die spielen und assoziieren, die Raum lassen für Widerspruch und Unverständlichkeit, gewiss nicht: Sie lassen gesellschaftlich ausgerufenen Ausnahmezuständen eben nicht jenen fatalen performativen Selbstwiderspruch folgen, der darin besteht, die eigene Freiheit zu opfern, indem man sich für die Freiheit als nur noch verdinglichtem Wert einsetzt.
So gesehen führt die Frage nach dem Politischen der Literatur nicht hinaus in die Welt der Zwecke und Funktionen. Schon gar nicht in eine Welt zu verteidigender Werte. Literatur als dynamisches Gewebe von Zeichen, wie Roland Barthes das mal genannt hat, kann keine Werte dingfest machen und verteidigen, sondern allenfalls (etwa als Figuren- und Erzählerrede) in Anführungszeichen und in Beziehung zu anderen Stimmen und Kontexten setzen. Damit aber ist jeder Wert immer schon entwertet, jede scheinbar souveräne, scheinbar alternativlose Position relativiert. Der Beitrag der Literatur zur Verteidigung der Freiheit liegt in genau diesem Prozess der Entwertung. Der Satz der Schriftstellerin Teresa Präauer: »Ich bin eine absolute Anti-Inhaltistin« (Die ZEIT, 22.9.16), ist deshalb scheinbar paradoxerweise auch als politisches Statement zu verstehen: als Kritik nämlich an der Verdinglichung politischer, moralischer oder religiöser Inhalte, die notwendigerweise nicht nur der Sprache, sondern auch den adressierten Menschen Gewalt antut.
Im Grunde also geht es in der Reihe zum Thema ›Politik und Literatur‹ um etwas sehr Einfaches, bei aller Unterschiedlichkeit der Beiträge und Positionen. Es geht um die Notwendigkeit der Literatur – gerade in Zeiten wie diesen.