Dieser Prozess kulminierte während der Kulturrevolution (1966–1976) in der Kampagne zur »Zerstörung der vier Alten«, nämlich der alten Denkweisen, der alten Kultur, der alten Bräuche und der alten Gewohnheiten. Kulturdenkmäler und Tempel waren genauso ›feudalistisch‹ wie manche traditionellen Feste – das Drachenbootfest, das Totenfest und das Mondfest.
Auch die Namen traditionsreicher Pekinger Restaurants wie »Donglaishun« (»Glückliche Ankunft aus dem Osten«) und »Quanjude« (»Vollendete Tugend«) waren nun als ›feudalistisch‹ verpönt. Das Tongren-Krankenhaus (»Gemeinsame Güte«) wurde umbenannt in »Krankenhaus der Arbeiter, Bauern und Soldaten«, das Xiehe-Krankenhaus (»Harmonie und Frieden«) in »Antiimperialistisches Krankenhaus« und in meiner Heimatstadt, einer Kreisstadt in der Provinz Zhejiang, hieß die Straße, in der ich als Kind wohnte, nicht länger »Familie-Yang-Gasse«, sondern »Sonnengasse«.
Nach Maos Tod 1976 und dem Ende der Kulturrevolution hat Deng Xiaopings Reform- und Öffnungspolitik eine neue Zeit eingeleitet. Vorher als ›feudalistisch‹ gebrandmarkte Relikte sind unversehens zu traditionellen Kulturschätzen geworden. Althergebrachte Gerichte wie das Hammelfondue im »Donglaishun« und die geröstete Ente im »Quanjude« sind nun kulinarische Aushängeschilder Pekings. Überall wurden die Kulturdenkmäler unter Schutz gestellt und restauriert, in den Tempeln drängen sich wieder die Pilger, und Drachenbootfest, Totenfest und Mondfest sind gesetzliche Feiertage geworden. Die einst so sang- und klanglos verschwundenen Fengshui-Meister und Wahrsager sind heute allgegenwärtig, und die »Sonnengasse« meiner Kindheit ist wieder in »Familie-Yang-Gasse« umbenannt worden. Und was besonders bemerkenswert ist: Dieselben Gepflogenheiten, die vormals von der Kommunistischen Partei als ›feudalistisch‹ gegeißelt wurden, mutieren nun in den Händen so manch eines gewieften lokalen Kaders zu Herrschaftstechniken.
Die Probleme, die mit der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung der letzten über dreißig Jahre einhergehen – die Korruption, die Kluft zwischen Arm und Reich und die Umweltverschmutzung –, erschüttern die gesellschaftliche Stabilität. Im Jahr 2010 war die Zahl der Massenunruhen mehr als viermal so hoch wie zehn Jahre zuvor. Längst hat die Kommunistische Partei erkannt, dass die zu Zeiten Maos und in der Anfangsphase der Reform- und Öffnungspolitik so bewährten Herrschaftsmethoden ihre Wirksamkeit verloren haben. Also justieren die Parteistrategen ihre politischen Leitlinien und Instrumente unaufhörlich neu und suchen nach neuen Herrschaftstechniken, die der veränderten Lage gerecht werden. Auch die kommunistischen Kaderschmieden – die Zentrale Parteischule und ihre Ableger in den Provinzen – überarbeiten zu diesem Ziel ihre Lehrpläne und schicken zugleich jedes Jahr hohe Beamte zum Studium westlicher Verwaltungs- und Führungstechniken nach Harvard.
Aber angesichts der sich verschärfenden gesellschaftlichen Widersprüche und Konflikte erweisen sich die konventionellen Strategien – gleich, ob sie nun aus der eigenen Parteischule oder aus Harvard stammen – oft genug als wenig praxistauglich. Dagegen erzielt ausgerechnet der Rückgriff auf die von Mao so innig verabscheuten ›feudalistischen‹ Traditionen bemerkenswerte Erfolge. Dass so mancher lokale kommunistische Kader diese Traditionen geschickt zu instrumentalisieren weiß, ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Macht der Partei allen Bedrohungen zum Trotz nach wie vor gesichert ist.
Ein Bezirksvorsteher einer Stadt in Südchina erzählte mir einmal die folgende Geschichte: In dem Stadtbezirk, für den er zuständig ist, lösten heftige Regenfälle eine Überschwemmung aus, die über tausend Ahnengräber fortspülte. Die Chinesen hegen einen tief verwurzelten Glauben: Der Zustand der Ahnengräber wirkt sich auf das Schicksal der nachfolgenden Generationen aus. Ursprünglich waren diese über tausend Gräber an unterschiedlichen Orten zerstreut gewesen. Erst die fortschreitende Urbanisierung hatte ihre Zusammenlegung notwendig gemacht – ein konfliktträchtiges Vorgehen, denn traditionell ist die Verlegung von Gräbern tabu, es sei denn, die Nachfahren werden von wiederholten Schicksalsschlägen heimgesucht.
Wären die Gräber an ihren ursprünglichen Stätten geblieben und von den Regengüssen fortgespült worden, dann hätten die Leute dies als eine Naturkatastrophe hingenommen. Aufgrund der Umsiedlung der Gräber machten sie aber automatisch die Regierung für das Unglück verantwortlich. Über zehntausend Angehörige waren davon betroffen, und sie waren erzürnt.
Der tüchtige Bezirksvorsteher wusste, dass sich eine Massenunruhe zusammenbraute. Aber anstatt die Polizei zu mobilisieren, entsandte er ein gutes Dutzend Fengshui-Meister. Diese Meister in Diensten der Regierung nutzten ihre Lehre, um die Angehörigen zu überzeugen: Nun, da ihre Ahnengräber vom Wasser fortgeschwemmt seien, würden sie reich werden. Im chinesischen Volksglauben symbolisiert Wasser Wohlstand, und eine Begegnung mit dem nassen Element verheißt Reichtum. Der Regierung vertrauten die Angehörigen nicht, wohl aber den Fengshui-Meistern. Und so wandte ein gutes Dutzend von der Regierung entsandte Fengshui-Kundige eine drohende Massenunruhe ab.
Eine andere wahre Geschichte hat mir ein Beamter in der Provinz Hunan erzählt. Während seiner Zeit als Kreisvorsteher wollte er ein großes Bürogebäude für die Regierung bauen. Auf einem offenen Platz stapelten sich das Bauholz, die Stahlstäbe und der Zement. Aber die Anwohner ließen davon jeden Abend etwas mitgehen für die Häuser, die sie selbst bauen wollten. Die Leute dort waren der Meinung, Regierungseigentum zu entwenden, zähle nicht als Diebstahl – anders als wenn sie etwa ihre Nachbarn bestohlen hätten. Die zuständigen Stellen des Kreises kamen auf einer Sitzung überein, rund um die Baustelle einen Zaun zu errichten, ihn mit elektrischem Stacheldraht zu bewehren und obendrein Polizisten zur Bewachung abzustellen.
»Einen Zaun? Stacheldraht? Polizisten? Das brauchen wir alles nicht«, sagte der Kreisvorsteher, als er von diesen Plänen erfuhr. »Wir müssen nur ringsum ein paar hölzerne Schilder aufstellen mit der Aufschrift ›Zum Tempelbau‹, mehr nicht.« Dieser Schachzug zeigte Wirkung. Sobald die Leute lasen, dass Holz, Stahl und Zement zum Bau eines buddhistischen Tempels bestimmt seien, hörten sie nicht nur auf zu stehlen, sie brachten sogar das schon Gestohlene im Schutz der Nacht wieder zurück. Denn in ihrem Aberglauben trieb sie die Angst um, ihr Tempeldiebstahl könnte eine furchtbare Vergeltung nach sich ziehen.
Ein kanadischer Journalist fragte mich einmal: »Wie lange wird das Mao-Bildnis noch auf dem Tian’anmen-Platz hängen?«
Ich antwortete: »Wenn Mao wüsste, was aus seinem China geworden ist, dann würde er vor lauter Zorn selbst verlangen, dass man sein Bild abnimmt.«
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

Yu Hua ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Chinas. Seine Bücher haben sich in China Millionen Mal verkauft. Dass sein neues Buch ›China in zehn Wörtern‹ von den Chinesen verboten wurde, liegt weniger an seiner Kritik am heutigen China als an den Parallelen, die er zwischen der Kulturrevolution und dem neuen kapitalistischen System zieht. Wie zu Zeiten Mao Zedongs, sieht Yu auch heute Unmenschlichkeit und Gewalt. Der Großteil der chinesischen Gesellschaft profitiert nicht vom Wohlstand, sondern wird auf brutale Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die persönlichen Essays lassen aber auch Yus Verbundenheit zu seinem Heimatland erkennen. ›China in zehn Wörtern‹ wirft einen ganz anderen, einen neuen Blick auf ein Land, von dem noch viel zu erwarten ist.