Mir kam dabei in den Sinn, welch großes Aufsehen der Feinstaub im Juni 2012 in China erregt hatte. Die Messwerte, die die amerikanische Botschaft in Peking und die diversen amerikanischen Konsulate in China veröffentlichten, sorgten damals in der Bevölkerung für Unmut. Daraufhin beschuldigte der stellvertretende Umweltminister Wu Xiaoqing die amerikanische Botschaft, ihre Messungen hätten internationale Übereinkommen und chinesisches Recht verletzt.
Nachdem der Sprecher des Außenministeriums den gleichen Vorwurf geäußert hatte, veralberte ihn jemand im Internet wie folgt: »Gemäß internationalen Übereinkommen sind die Botschaft und die Konsulate der USA bekanntlich Teil des amerikanischen Territoriums. Die dort erhobenen Messwerte belegen also lediglich die schlechte Luftqualität der USA.«
Vorher hatte, abgesehen von einigen Fachleuten auf dem Gebiet von Umweltschutz und Klima, kaum jemand in China gewusst, was PM 2,5 ist: nämlich Feinstaubpartikel in der Luft mit einem Durchmesser von höchstens 2,5 Mikrometern, die, wenn sie eingeatmet werden, direkt in die Bronchien gelangen. Dort beeinträchtigen sie den Gasaustausch in der Lunge und sind genauso krebserregend wie Tabak.
Im Internet kritisierten zahllose Stimmen aus der Bevölkerung die Regierung dafür, dass sie den USA den Schwarzen Peter zuschob und die gesundheitlichen Gefahren des Feinstaubs nach Kräften verharmloste. Mundschutze waren im Handumdrehen ausverkauft, und auf den Straßen verhökerten fliegende Händler frische Luft in Dosen.
Der Smog hüllt inzwischen viele Gebiete in China ein. Im Januar dieses Jahres machte in den Medien die folgende Nachricht die Runde: Ein Brand, der im Kreis Anji in der Provinz Zhejiang im Süden von Shanghai wütete, wurde erst nach drei Stunden von den Anwohnern entdeckt – vorher hatte der Smog den Rauch und das Feuer verschleiert. Am 21. Oktober sank die Sicht in der im Smog versunkenen nordchinesischen Stadt Harbin auf unter zehn Meter; für einen Tag schlossen sämtliche Kindergärten, Grund- und Mittelschulen der Stadt.
Peking erlebte im Januar 24 Smogtage; in den hundert Tagen davor waren es 46 Tage gewesen. Ausgerechnet in diese Zeit fielen zwei wichtige Kongresse, und die beiden ersten Männer des Staates, der Staatspräsident und der Ministerpräsident, wurden gewählt. Der Politik müsse sich alles unterordnen, so lautet das Credo der Kommunistischen Partei. Aber der Smog wollte einfach nicht gehorchen, und so wurde die Luftverschmutzung zu einem viel diskutierten Thema, während die Kongresse tagten.
Vielleicht litt auch unsere Staatsführung unter der schlechten Luft, oder der gesellschaftliche Druck wurde zu groß, jedenfalls vollzog die Regierung eine abrupte Kehrtwende: Sie suchte nicht länger die Schuld bei den Messverfahren der Amerikaner und verharmloste auch nicht mehr die Gefahren des Feinstaubs. Zur Bekämpfung der Luftverschmutzung, so erklärte der Umweltminister Zhou Shengxian am 27. Juli, werde man in den nächsten fünf Jahren an die 1,7 Billionen Yuan bereitstellen. Konkrete Angaben, wie dieses Geld verwendet werden soll, machte er nicht, er kündigte nur die Einrichtung von jährlich fünftausend neuen Messstationen an.
Die Weltgesundheitsorganisation hat als gesundheitlich unbedenklichen Grenzwert für Feinstaub zehn Mikrogramm pro Kubikmeter im Jahresmittel festgelegt. Der Grenzwert der chinesischen Regierung liegt bei fünfundsiebzig Mikrogramm.
Die offizielle Erklärung lautet: China sei noch immer ein Entwicklungsland und könne deshalb derzeit die Richtwerte der Weltgesundheitsorganisation nicht erfüllen. Die volkstümliche Erklärung kommt in Gestalt eines Witzes daher: Ein Fisch fällt in einen Topf Sojasoße und jammert überall über die verschmutzte Umwelt. Da kriecht eine fette Made herbei und blafft den Fisch an: »Halt’s Maul! Du kannst einen Topf Sojasoße doch nicht mit dem Maßstab eines Aquariums messen!«
Aber die Luftverschmutzung in den Griff zu bekommen ist wesentlich schwerer, als mehr Messstationen einzurichten. Der Hauptverursacher der Luftverschmutzung ist bekannt – es sind die Stahlwerke und Chemiefabriken –, und die Regierung hat in den letzten Jahren auch einige kleine private Fabriken geschlossen, aber gegen die eigentlichen Schuldigen – die mittleren und großen staatlichen Fabriken – hat sie nichts unternommen. Sie hat lediglich die Zahl neuer Fabriken beschränkt. Denn hier geht es nicht nur um lokale Wirtschaftsinteressen, sondern auch um die Stabilität der Staatsmacht. Zu Zeiten Mao Zedongs hielt das Regime seine Macht mit einer erzwungenen ideologischen Gleichschaltung aufrecht. Heute ist das Wirtschaftswachstum zu einem wesentlichen Mittel des Machterhalts geworden. Deshalb erschöpft sich der Kampf gegen die Luftverschmutzung in einigen Städten weitgehend darin, das Autofahren einzuschränken: An manchen Tagen dürfen nur Autos mit einer ungeraden Zahl im Kennzeichen fahren, an anderen Tagen nur Autos mit einer geraden Zahl.
Eine andere dieser Alibimaßnahmen ist beispielsweise das in Peking erlassene Verbot von Grillständen im Freien. Die rings um die Hauptstadt gelegene Provinz Hebei ist das Zentrum von Chinas Stahlproduktion. Neben vielen kleinen Stahlwerken sind hier fast vierzig große und mittlere staatliche Stahlunternehmen beheimatet. Am 10. Juli berichtete die »Yanzhao Metropolis Daily«, ein offizielles Nachrichtenorgan der Provinz: Zur Bekämpfung der Luftverschmutzung habe Yunhe, ein Bezirk der Stadt Cangzhou in Hebei, eine Kampagne gegen das Rauchen initiiert. Auf einer Versammlung zur allgemeinen Mobilmachung verkündeten die lokalen Kader einmütig: »Der Kampf gegen die Luftverschmutzung beginnt bei mir!« Einer der Kader schnappte sich eine Zigarettenschachtel vom Tisch, zerknüllte sie und schleuderte sie demonstrativ in den Papierkorb.
Am 12. Oktober habe ich in meinem Mikroblog den folgenden Eintrag gepostet: »Seit meiner Ankunft in Hongkong vor drei Tagen wohne ich in einem Apartment am Meer. Seit gestern nun leide ich unter Kopfschmerzattacken, ohne dass ich erkältet wäre. Vermutlich habe ich zu lange in Peking gelebt und vertrage die frische Seeluft nicht mehr.« Viele Leser schlugen mir dieselbe Therapie vor: Ich solle rasch ein paar Autoabgase inhalieren.
Jahrelang hatte das Wort »Luftverschmutzung« vergeblich Aufnahme in meinen Gesundheitsbericht gesucht. Nun ist es endlich darin angekommen – und mir bleibt die traurige Gewissheit: Den Begriff wieder loszuwerden wird viel schwieriger, als ihn aufzunehmen.
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

Yu Hua ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Chinas. Seine Bücher haben sich in China Millionen Mal verkauft. Dass sein neues Buch ›China in zehn Wörtern‹ von den Chinesen verboten wurde, liegt weniger an seiner Kritik am heutigen China als an den Parallelen, die er zwischen der Kulturrevolution und dem neuen kapitalistischen System zieht. Wie zu Zeiten Mao Zedongs, sieht Yu auch heute Unmenschlichkeit und Gewalt. Der Großteil der chinesischen Gesellschaft profitiert nicht vom Wohlstand, sondern wird auf brutale Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die persönlichen Essays lassen aber auch Yus Verbundenheit zu seinem Heimatland erkennen. ›China in zehn Wörtern‹ wirft einen ganz anderen, einen neuen Blick auf ein Land, von dem noch viel zu erwarten ist.