Eines der Bücher, auf das ich von meinem eigenen Buch gestoßen wurde, beim Nachdenken und Nachforschen über die Phänomene, die es behandelt, war Das Nachleben der Bilder – Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg von George Didi-Huberman. Didi-Huberman beschreibt darin Warburgs Theorie vom Nachleben der antiken Kunst in der Renaissance und den nachfolgenden Epochen - das Fortbestehen bestimmter Gesten und Bewegungen zum Ausdruck von Emotionen, die sich durch die Kunstgeschichte hindurch vererben und oft lange Zeit unter der Oberfläche bleiben, bevor sie in einem Kunstwerk wieder auftauchen. Anhand dieser Bewegungen (der Pathosformel) sollen Kunstwerke nicht mehr nach ihrem ästhetischen Wert beurteilt werden, sondern befragt danach befragt, was sie uns erzählen über die Psychologie der Kulturen, die sie hervorgebracht haben - unserer eigenen Kultur und der Vorgängerkulturen, aus denen sie hervorgegangen ist. Alles ist immer gleichzeitig vorhanden in einer nicht-linearen Geschichte der Gesten und des Ausdrucks, ein ständiges Wiederkehren und wieder Versinken, in jeder kulturellen Äußerung, und zeigt sich dem, der fragend schaut oder schauend fragt.
Nach dem Tod seines Vaters schlug Aby Warburg den ihm zustehenden Teil des Erbes aus. Sein Bruder sollte alles haben, sich um die Verwaltung und Vermehrung des Kapitals kümmern, wenn Aby nur gestattet sei, vom Vermögen des Vaters die Bücher zu erwerben, die er zum Aufbau seiner persönlichen Bibliothek benötigte. Diese Bibliothek, die zuerst in Hamburg ansässig war und schließlich 1933 vor den Nazis in Sicherheit gebracht und nach London verlegt werden musste, ist nach dem »Gesetz der guten Nachbarschaft« sortiert. Es gibt grobe Themenfelder, wo die Bücher nebeneinander standen, von denen Warburg glaubte, sie hätten sich etwas zu erzählen. Eine Person, die nach einem bestimmten Buch in einem Regal in dieser Bibliothek greift, findet neben, unter- und oberhalb dieses Buches also auch andere Bücher, die sie interessieren werden, wenn sie sich für dieses eine Buch interessiert.
Das ist es, denke ich, was mir passiert ist und weshalb ich die Recherche zu meinem abgeschlossenen Roman wiederaufgenommen habe: erst als Buch verweist der Roman auf seine Nachbarschaft in meiner eigenen, imaginären warburgschen Bibliothek. Ich kann sehen, was drum herum im Regal steht und beginne zu begreifen, in welchem Themengebiet, in welchem phänomenologischen Areal dieser Bibliothek mein Buch und seine Verwandten einsortiert sind und warum. Welche Gesten und Bewegungen in ihm wiederkehren, als zeitlose und ewig unzeitgemäße Ausdrucksformen der Kunst, des Erzählens und der Geschichte.

[1] Was interessiert was mich interessiert?
Der Roman, in dessen Zentrum die Arbeit an einem Horrorfilmprojekt steht, umkreist in verschiedenen Bewegungen das Phänomen des Untotseins und der Wiederkehr, auch am naheliegenden Beispiel des Zombies, vielmehr aber in den alltäglicheren Formen der Träume, des Glaubens, der Ideologie, der Sehnsucht, der Schuld und der Verletzung. Eine mir unmittelbar einleuchtende und im Roman angeführte Darstellung des von den Toten ins Leben Zurückgeholten liefert der Film The Last Temptation of Christ von Martin Scorsese aus dem Jahr 1988. Obwohl der Film (bzw. der Roman von Nikos Kazantzakis, der dem Film vorausgegangen ist) den Handlungsverlauf der Evangelien des Neuen Testaments in vielfacher Weise modifiziert hat, finden sich in ihm die wesentlichen Figuren und Stationen wieder. Jesus von Nazareth, der im Film von Willem Dafoe verkörpert wird, vollbringt einige Wunder vor den Augen seiner Jünger. Das größte von allen ist auch hier die Wiedererweckung des Lazarus von den Toten: Jesus rollt einen Stein vor dem Eingang der Gruft beiseite, die Umstehenden halten sich ihre Ärmel vors Gesicht wegen des Leichengestanks, ein paar beschwörende Worte werden gesprochen und schließlich streckt sich aus dem Dunkel der Grabkammer eine teilweise bandagierte und schon bläulich grau verweste Hand dem Erwecker entgegen. Der Jesus im Film zögert kurz, wie in Entsetzen über seine eigene Tat, bevor er die Hand des Auferweckten ergreift und ihm auf die Beine hilft, ihn stützt und nach draußen vor die Gruft führt, wo sich Lazarus langsam das Leichentuch vom Kopf wickelt.

Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen: die Hand des Untoten ergreifen
Der Auftritt der Figur des Lazarus im Film dauert insgesamt nicht viel länger als zwei Minuten. Man sieht ihn in der Folge seiner Erweckung auf einer Bank vor dem Haus sitzen, eine Schale in der Hand, vor sich hin starrend, melancholisch, verkatert, kaputt und unlustig, wie einer eben aussehen muss, den man von den Toten, vom Frieden des Totseins ins Leben zurückgeholt hat, was mir an dieser Erzählung immer schon extrem gewaltvoll vorgekommen ist (gerade die Erlösung durch den Tod ist doch ein Grundstein der christlichen Lehre). Und als hätten die Autoren des Films ein Einsehen in diese fundamentale Ungerechtigkeit, wird Lazarus schon in der nächsten Szene nach seiner Auferweckung nach kurzer Unterredung von Saulus erstochen und erneut umgebracht.
Was bleibt ist der Eindruck, dass das Wunder, der Beweis und die Legitimation des Messias, den menschlichen Körper braucht – nicht nur seinen eigenen, durch den Gott unter die Menschen geraten konnte, sondern auch den des bereits toten Lazarus, der durch Übelkeit, Tod und Verwesung hindurch zurückkommen muss, um das Wunder zu repräsentieren, ihm seinen Körper zu leihen, sein Gesicht und seine Gesten, damit es den Menschen sichtbar werde. Natürlich provoziert das Wunder augenblicklich auch Unwillen, Hass und Ablehnung, weshalb sich Lazarus gar nicht erst vom Trauma seiner Wiedererweckung erholen kann, bevor ihm ein Messer in den Bauch gestoßen wird. Das Dasein des Toten unter uns darf unter keinen Umständen in Normalität übergehen.
Bevor er aufbricht, um seine Wunder zu vollbringen, hadert der Jesus im Film selbst noch mit seinem Schicksal. Er will, dass die Stimmen in seinem Kopf aufhören, ihm zu erzählen, dass er der Messias sei, baut Kreuze zur Vollstreckung der römischen Todesurteile, damit Gott ihn hassen lernt und er eben nicht die Verantwortung übernehmen muss, Gottes Sohn und damit Gott selbst zu sein (»You want to know who my God is? Fear. You look inside me and that’s all you find.«) Und so ist es am Ende, als er selbst schon gekreuzigt seinem Tod entgegensieht, die letzte und größte Versuchung durch den Satan, der ihm in Form eines jungen Mädchens erscheint, das vorgibt, sein Schutzengel zu sein, vom Kreuz hinabsteigen zu dürfen und ein ganz normales Leben zu führen, zu heiraten, Kinder zu kriegen und alt zu werden, sich dem Menschsein hinzugeben, nicht zum Zeichen zu werden und nicht den eigenen Körper Tod, Wiederauferstehung und Unsterblichkeit zu überantworten. Der wiederauferstandene Lazarus: abermals ungefragt
Der sein gesamtes Potenzial früh schon zugunsten eines unterirdischen Versöhnungs- und Liebesfilmplots verschlampende und daher zurecht vielfach verrissene Science-Fiction-Film Passengers aus dem Jahr 2016 bietet an seinem interessantesten Punkt eine Szene der Auferweckung, die ebenfalls von großem Unwillen und einem riesigen, übermenschlichen Moralproblem überschattet ist. Leider gelten alle Anstrengungen des Films in der Folge nicht der Befragung und Beobachtung dieses Problems, was ihn zu einem interessanten Film hätte machen können, sondern der Relativierung, der Überführung in Normativität und Ideologie, was nur noch als Phänomen interessant ist, in der Filmhandlung aber nie explizit thematisiert wird.
Auf einer 120 Jahre dauernden Reise durch den Weltraum, auf dem Weg zu einer neuen Menschheitskolonie, wacht ein einzelner Passagier aufgrund einer Fehlfunktion seiner Tiefschlafkapsel 90 Jahre zu früh aus dem künstlichen Koma auf, als einziger der vielhundertköpfigen Besatzung, und sieht sich mit dem Problem konfrontiert, allein und einsam auf dem Raumschiff sterben zu müssen, bevor es sein Ziel erreicht, weil es keinen Weg gibt, in den Tiefschlaf zurückzufinden. Nach einem Jahr der seelischen Zerrüttung und Zermürbung verliebt sich der einsame Passagier beim Anblick einer schlafenden Reisenden, deren Kapsel einwandfrei funktioniert, und verbringt Monate in innerer Unruhe, mit sich selbst ringend und zweifelnd, bevor er beschließt, sie aufzuwecken, um doch auf der langen Reise in den Tod Gesellschaft zu haben (der Einsame ist Mechaniker und daher in der Lage, durch eingehendes Studium der Funktionsweise der Kapseln einen sicheren Weg zu finden, die Passagierin zu wecken). Die Aktion erzeugt sofort eine ungeheure Spannung: der Einsame hat nun Gesellschaft, der von ihm Aufgeweckten bleibt gar nichts anderes übrig, als seine Nähe zu suchen und schließlich in eine romantische Beziehung zu ihm zu treten, wobei er die ganze Zeit das Geheimnis seiner willentlichen Entscheidung für sich behält und sie im Glauben lässt, auch sie wäre durch eine Fehlfunktion ihrer Kapsel frühzeitig aus dem Tiefschlaf geweckt worden. Der durch eigene Hand am sicheren Tod der Passagierin auf dem Raumschiff im Weltall (und der Nichterfüllung ihrer Pläne und Träume für das Leben in der Kolonie) schuldig gewordene Mechaniker lebt mit seiner Entscheidung und dem Geheimnis ohne Reue. Erst ein technischer Fehler (ein Kommunikationsproblem mit einem Roboter) bringt das Geheimnis schließlich ans Licht und führt zur Einsicht der Passagierin in den vollen Umfang ihrer Situation und der Rolle des Mechanikers. In der Zeit ihrer romantischen Zweisamkeit zuvor macht sie jede Erfahrung in Gesellschaft des Mechanikers, der das Raumschiff ja schon kennt, überall schon war, jeden Ort in seiner Einsamkeit schon einmal besucht hat und die Passagierin nun buchstäblich beim Entdecken der begrenzten Welt ihres restlichen Lebens an der Hand nimmt. In der traurigsten dieser Szenen darf die Passagierin die Erfahrung, im Raumanzug an einem Sicherungsseil vom Rand des Raumschiffs ins All zu treten, nicht alleine machen, wie zuvor der Mechaniker, sondern an beiden Händen vom Mechaniker gehalten, ihn vor Augen, beim Treiben durchs All in sein Gesicht schauend.
Als die von Jennifer Lawrence verkörperte Passagierin Aurora Lane vom wahren Grund ihres Aufwachens erfährt, bricht sie zusammen, zieht sich zurück und verwehrt sich so lange gegen die Entschuldigungen und Rückgewinnungsversuche des Mechanikers, bis eine schwere Fehlfunktion des gesamten Raumschiffs ihre Zusammenarbeit erfordert. Das Abwenden der technischen Katastrophe lässt die moralische Katastrophe in den Hintergrund treten und ermöglicht es den beiden, zu ihrer romantischen Beziehung zurückzufinden. Der Film vermeidet durch dieses Aufkommen technischer (akut lebensbedrohlicher) Schwierigkeiten die Auseinandersetzung mit seiner eigentlich interessanten Problemstellung: Die Ungerechtigkeit, dass der lebendigen Liebe des Mechanikers kein atmendes Wesen zur Seite steht, an dem sie sich verwirklichen kann (nur seine Phantasie, seine Sehnsucht nach Gesellschaft), wiegt schwerer als der Mord an Aurora Lanes selbstbestimmtem Leben und genügt schließlich, diesen zu rechtfertigen.
Der Akt des Aufweckens erscheint hier ebenso brutal und gewaltvoll wie in der Grabkammerszene aus The Last Temptation of Christ – beide demonstrieren, dass ein Erwecken, wenn es ungewollt durch einen anderen und zugunsten dieses anderen vorgenommen wird, eine traumatische Grenzverletzung darstellt, einen Kollaps der Ordnung aus Schlafen und Wachsein, Traum und Wirklichkeit, Tod und Leben, der einer moralischen Katastrophe gleichkommt.
Aufwecken als moralische Katastrophe
In dem dänischen Thriller Nattevagten von 1994 (drei Jahre später als Nightwatch mit Ewan McGregor in der Hauptrolle neu verfilmt) erscheint die Grenzverletzung, die das Aufwachen aus dem Totsein bedeutet, in Form eines Signals, das die dünne Wand zwischen Wirklichkeit und Welt der Vorstellung durchbricht und dadurch zu einer Auflösung der Realität führt:
Der Student Martin übernimmt den Job eines Nachtwächters in der Kopenhagener Pathologie, um sein Studium zu finanzieren. Er verrichtet die Arbeit alleine, ohne Gesellschaft anderer Sicherheitsleute, und muss dafür regelmäßig einen Kontrollgang durch alle Räume antreten, einen kleinen Schlüsselkasten am Gürtel, für den auf den Stationen seiner Tour an verschiedenen Stellen die passenden Schlüssel angebracht sind. Das Einstecken und das Drehen der Schlüssel in dem Kasten an seinem Gürtel dokumentiert und beglaubigt, dass der Nachtwächter tatsächlich im jeweiligen Raum war und nicht einfach in seinem Nachtwächterhäuschen geschlafen hat. Der für den Nachtwächter Martin mit der größten Angst und Überwindung verbundene Ort auf seinem Kontrollgang ist ein gekachelter Leichenschauraum, in dem der Weg zum Schlüssel für den Kontrollkasten durch einen Korridor aus aufgebahrten Leichen führt. Die Toten sind mit weißen Tüchern bedeckt, nur die Füße und die an den Zehen angebrachten Zettel zur Identifikation ragen heraus. Bei seiner Einführung, als ihm jeder Raum und jeder Schlüssel auf der Tour gezeigt wird, wird Martin auch auf die schmalen Kordeln hingewiesen, die über den Leichen an der Decke hängen. Es handelt sich dabei um ein Alarmsystem, das mit einem Lichtsignal in Martins Nachtwächterhäuschen verbunden ist. Ein irrationalerweise aus dem Tod Wiederauferstandener kann an dieser Kordel über seiner Bahre ziehen, um so auf sich aufmerksam zu machen. Die rote Lampe hängt dem Nachtwächter in seinem Häuschen im Rücken, als bizarre Installation in seiner Wirklichkeit, die die Festigkeit dieser Wirklichkeit in Frage stellt. Der Alarm, vor dem sich der Nachtwächter beim Sitzen und Warten schrecklich zu fürchten beginnt, ist das Signal des Zusammenbruchs der Welt, auf die er vertraut: eine Welt, in der niemand von den Toten zurückkehrt und das Leben den Lebenden gehört.
Vorkehrungen an der Schwelle des Undenkbaren
Der Angst vor der tatsächlichen Begegnung mit einer untoten Gestalt, einem Wiedergänger aus dem Reich der Toten, geht in diesem Fall eine noch tiefere Angst voraus: Die Angst vor der Verletzung der Grenzen, in denen sich die Wirklichkeitserfahrung des Nachtwächters bewegt und die mit dem Alarmsystem der Pathologie nur scheinbar abgesichert sind. Tatsächlich kommt ja erst durch das Vorhandensein des Alarms die Möglichkeit des Zusammenbruchs der Ordnung ins Spiel. Die Lampe an der Wand des Nachtwächterhäuschens weiß um die Verletzbarkeit der Welt, der wir vertrauen – sie wird zum Symbol dieser Verletzbarkeit. Das Bedürfnis nach Sicherheit (ein Gewappnetsein vor dem an sich unmöglichen Ernstfall) erzeugt, wenn es bis an die äußersten Grenzen des Denkbaren vorgestoßen ist, durch die Imagination des Abzuwehrenden, dessen, was sich auf der anderen Seite dieser äußersten Grenzen befindet (die alptraumhafte Welt der Fiktion: unendliche Möglichkeiten), die Auflösung der Gewissheit, Unsicherheit und Angst. Mit dem Aufleuchten der Lampe wird die dünne Haut durchstoßen, die das Wirkliche und das Unwirkliche voneinander trennen. Die Realität des Nachtwächters löst sich auf und die Unfassbarkeit übernimmt den Raum seiner Wahrnehmung. Auch in diesem Fall entscheidet sich der Film – zugunsten eines Plots, an dessen Ende geheiratet werden kann – für einen anderen Verlauf, der seiner Grundspannung misstraut. Die Spannung der Thrillerhandlung, in die der Nachtwächter Martin verwickelt wird, lässt die äußersten Grenzen der Wirklichkeit unberührt.
Eine banale Feststellung in diesem Zusammenhang ist, dass in die Welt der Träume und Fiktionen verbannt werden muss, was wir im Leben nicht verarbeiten können, damit dieses Leben überhaupt bestreitbar ist. Im Roman Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens verweist der Regisseur Christoph Raub, verantwortlich für den Horrorfilm als Initiator und Anführer, auf David Lynchs Mulholland Drive (2001), als er gefragt wird, ob es nicht naheliegender wäre, den Film in der Kälte und Dunkelheit des Winters zu drehen, anstatt im Frühling und Sommer, wie es der Plan vorsieht. Er bezieht sich auf die berühmte Szene im Hinterhof des Winkie’s Restaurants, mit der Begründung, dass der Anspruch sei, dass man sich in Zukunft auch in Hochsommer und Tageslicht, »unter blühenden Bäumen«, nicht mehr sicher fühlen kann.
In der beschriebenen Szene sitzen zwei Männer an einem Tisch in besagtem Winkie’s – der eine hat den anderen dorthin bestellt und erklärt ihm nun weshalb: Er habe schon mehrfach einen Traum gehabt, der dort in dem Restaurant begonnen habe und in dem auch der Mann vorgekommen sei, der ihm nun gegenübersitzt. Es gebe in seinem Traum eine fürchterliche Gestalt, die sich auf dem Hinterhof hinter dem Restaurant befindet. Er sagt: »I hope that I never see that face ever outside of a dream.« Der andere Mann versteht: er wurde hergebeten, um dem Träumer Beistand zu leisten dabei, sich mit dem Ort seines schrecklichen Traumes zu konfrontieren, Gewissheit zu erlangen, dass die Gestalt und ihr fürchterliches Gesicht dem Reich der Träume angehören. Sie bezahlen ihre Rechnung und gehen raus in die Nachmittagssonne, um das Restaurantgebäude herum auf die Rückseite, ein paar Stufen hinunter in den Hinterhof. Der Film suggeriert, dass dem Träumer verschiedene Dinge auffallen, die er so schon in seinem Alptraum gesehen hat: ein Schild mit einem Pfeil in Richtung Eingang, die Treppe, eine Nische, in der Müll abgeladen wurde. Die beiden nähern sich einer Mauerecke, der Träumer geht voran, schwitzend, durch den offenen Mund atmend und voller Angst. Dann schiebt sich mit einem Mal tatsächlich die schreckliche Gestalt aus dem Traum hinter dieser Mauerecke hervor, nur für einen kurzen Augenblick, man sieht in ihr seltsam vogelhaftes und doch menschliches Gesicht, das schwarz beschmiert ist und aus dem ein Paar gelbe Augen herausschauen. Der vorangehende Träumer wird sofort ohnmächtig, als er die Gestalt erblickt, er reißt halb noch die Arme hoch, fällt nach hinten um und kann von seinem Begleiter gerade noch aufgefangen werden. Als er schließlich auf dem Asphalt des Hinterhofs liegt, ist er für die Ansprachen des Begleiters nicht mehr zugänglich, die Worte verhallen in der Tonspur des Films unter einem tiefen und für die Filme David Lynchs so typischen, düster drohenden Rauschen.
Was hier in aller Deutlichkeit dargestellt ist, ist die Antwort auf die Frage, was passiert, wenn unsere Träume die gewohnten Grenzen durchbrechen und in unsere Realität übertreten. Mit der Aufhebung der einfachen Trennung zwischen Traum und Wirklichkeit kollabiert gleichsam das gesamte Konzept der Realität, das zur Aufrechterhaltung des Lebens notwendig ist. Der Träumer, der seinem Traumbild in der Wirklichkeit begegnet, bricht sofort zusammen. Seine Muskeln versagen und sein Gehirn scheint aus einem Überforderungskurzschluss oder einem Fluchtimpuls heraus das Bewusstsein in den Notzustand zu versetzen: die Bewusstlosigkeit.
Verwirklichung des Traums = Kollaps der Ordnung
Der Zusammenbruch der uns umgebenden Ordnung, der Parameter, die unsere Realität konstituieren, Gewissheiten, Vertrauen, Plan- und Erwartbarkeit ermöglichen, der Festigkeit des Bodens, der uns trägt, ist in der zugrundeliegenden Ideologie der Horrorfilmproduktion in Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens der notwendige erste Schritt für den kreativen Umbau der Welt. Nur der, dem die Gemachtheit der Wirklichkeit vor Augen steht (und also auch die Gemachtheit ihrer Grenzen), ist in der Lage, diese Wirklichkeit kreativ, formend und mitgestaltend zu verändern. Wer nicht bereit ist, die Durchlässigkeit der Grenzen anzuerkennen, die die in Traum und Fiktion verdrängten Elemente von der als real empfundenen Wirklichkeit fernhalten sollen, kann auch nicht teilhaben an der Weiterentwicklung dieser Träume und Fiktionen – für ihn oder sie werden diese Elemente, wie für den Nachtwächter Martin, immer eine diffuse Bedrohung bleiben, das Fremde, die rote Lampe, die einem im Rücken hängt, die aber nicht aufleuchten darf, weil sie nicht aufleuchten kann, ohne die Ordnung zu zersetzen, der man vertraut.
Die psychoanalytische Theorie besagt, dass alles Verdrängte in Form von Ängsten wiederkehrt. Der Horror, nicht nur im Film, sondern auch in der Literatur und in den Gruselgeschichten, operiert mit diesem Phänomen der Wiederkehr vertrauter aber verdrängter Elemente in den Bereich der Wirklichkeit. Das Unheimliche ist also kein völlig fremder Inhalt, es könnte uns gar nicht gruseln oder ängstigen, wenn wir uns nicht schon einmal mit ihm befasst und es ins Reich des Unbewussten verdrängt hätten. Es muss sich außerhalb der Grenzen unserer Wirklichkeit befinden, uns aber einmal vertraut gewesen sein, beziehungsweise einmal innerhalb dieser Grenzen gelegen haben und nun als Wiedergänger zurückkehren. Als etwas, das uns das warburgsche Nachleben unserer verdrängten Bewusstseinsinhalte vor Augen führt und beweist, dass nichts ausgelöscht werden kann, was einmal den Raum der Erfahrung betreten hat.
Im Roman erklärt der Regisseur Christoph Raub, dass das Aufspüren und öffentliche Erzählen der eigenen Ängste der schnellste Weg sei, an den Ort der wahrhaftigen Kreativität zu kommen. Die individuelle Angst tritt hier ebenfalls als das Verdrängte, als untoter Wunsch oder unerfüllte Sehnsucht auf, und dem Erzählen kommt eine Art Transferfunktion zu, im Wissen, dass die Koordinaten der Wirklichkeit verschoben werden müssen, um den verdrängten Inhalten des Bewusstseins Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die sogenannten Angstsitzungen, in denen die Beteiligten an dem Horrorfilmprojekt angehalten sind, sich selbst auf den Grund zu gehen und diese untoten Anteile aufzuspüren, sind den Erzählungen von Lazarus und Aurora Lane eng verwandt: auch hier dient die Erweckung dem Erwecker und dessen Ziel, sich eine Anhängerschaft zu rekrutieren. Das Motiv wird verschlüsselt und nach außen hin als Versprechung dargestellt: gemeinsam, in der Gruppe, auf den Wesenskern des Daseins kommen zu können und dort unter spiritueller Führung die eigene Kreativität zu entfalten. Wie in jeder Ideologie ist dieser Kern, das Innere, das verdrängte Geheimnis (der Inhalt der Schatzkiste, die Weisen auf dem heiligen Berg) nur Motivation, um den Weg zu rechtfertigen, der beschritten werden muss, um zur Erleuchtung zu gelangen. Die Sehnsucht, die dabei kreiert wird, darf nicht erfüllt werden, sie ist Grundspannung und unerschöpflicher Energielieferant der Ideologie. Das Verlangen der Menschen, dass es ein Greifbares geben soll, das die Versprechung repräsentiert (Jesus Christus ist vielleicht das prominenteste Beispiel für dieses Verlangen), ist der Wunsch nach einer körperlichen Manifestation, nach Gesten, Mimik, Fleisch und Blut, nach dem wahrhaftigen Auftritt des Zombies, dessen tatsächliche Erscheinung (wie im Fall der schrecklichen Gestalt in Mulholland Drive) zum Kollaps der Ordnung und der Auflösung der Realität führt.
[1] Unbekannter Fotograf: Aby Warburgs Ovid-Ausstellung im Lesesaal der K.B.W. Hamburg (1927), Foto: The Warburg Institute.

Sie treffen sich Woche für Woche in einer Kneipe und erzählen sich ihre schlimmsten Ängste. Es ist ein außergewöhnliches Projekt, zu dem Christoph sie alle eingeladen hat. Er ist Regisseur und sie sind Schauspieler, Bühnenbildner, Cutter oder einfach nur Freunde. Sie haben Angst vor der Dunkelheit und der Liebe, vor Einsamkeit und Kriechtieren, vor dem Wahnsinn und vor vertauschten Krankenakten. Aus ihren Geschichten soll das Drehbuch für den Horrorfilm Das schreckliche Grauen entstehen. Nach Monaten der Vorbereitung beginnen schließlich die Dreharbeiten und ihnen wird klar, dass Christophs Ideen viel radikaler sind, als sie bisher dachten.