Als Flake erschien, stockte das Geplapper in der Lobby, zog er die Blicke aller auf sich: Ein Zwei-Meter-Mann mit einem hinreißend kühnen Wikingerkopf. Er blieb stehen, schaute sich um, und mit ihm bleibt der Film stehen: In dieser einen Szene tritt old man auf, ein Mann von Welt, ein Mann aus der Welt von gestern. Während ich über ihn schreibe, an ihn denke, hält noch immer der Film an, und ich bin sicher, er wusste damals, wie er wirkte. Dann hatte er uns entdeckt, das stehende Bild geriet in Bewegung, er kam auf uns, Rolf Hochhuth und mich, zu.
Hochhuth stellte mich vor. Flake nickte, sagte kein Wort. Ein Fahrer des Verlags kam, um ihn zur Stadthalle zu bringen. Diese beiden haben noch Platz, deklarierte er. Hochhuth und ich durften mit. Unterwegs, er hatte den Platz neben dem Fahrer, kommentierte er, was er sah, amüsierte sich über die Spießigkeit der Stadt, die auf den Verlag einwirke. Nicht abzustreiten, sagte er. Hochhuth wagte, soweit ich mich erinnere, freundlich zu widersprechen.
Das Jubiläum hatte ein Programm. Eine Andeutung von Musik, eine Fülle von Reden. Ich saß neben Flake und schrieb seinen Jubiläumsschlaf den Rednern zu: Doch als Bischof Lilje zum Rednerpult eilte, wurde der alte Dichter wach und rief mit einer überraschend hellen und kräftigen Stimme: »Aha, jetzt werden die Waffen des Bertelsmann Verlags gesegnet.« Lilje nahm heiter diesen durchaus weltlichen Zuruf zur Kenntnis — und segnete.
Danach sahen wir uns nicht mehr. Lesend aber blieb ich Flake auf der Spur. ›Nein und Ja‹, sein früher, 1920 erschienener Roman, überraschte mich, indem er Dada auf eine Weise, die ich aus den späteren Erzählungen nicht kannte, pries. Und er führte mich zu dem Flake, der in die Literatur aufbrach und in ein unruhiges Leben. Ein Elsässer, 1880 zwischen den Sprachen geboren. In Colmar wuchs er auf, ging zur Schule, brach ab, suchte das Weite, wollte über Genua nach Südamerika, aber er machte kehrt und kam reumütig nach Hause. Frankreich und Deutschland verbündeten sich in seinen Gedanken. Er stellte »die elsässische Frage«. Sie wird ihn ein Leben lang beschäftigen. Nach dem Abitur studierte er in Straßburg Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie. Nietzsche beschäftigte ihn sehr. Er war 26, als er der in ihm unbändigen Lust auf Welt nachgab, Hauslehrer in Petersburg wurde, sich an die befreundeten Poeten Schickele und Stadler erinnerte, mit denen er Zeitschriften gründete, die nie lang bestanden. 1912 zog er weiter nach Konstantinopel, nahm zum ersten Mal mit seinem Verlag S. Fischer Kontakt auf, wurde Korrespondent der Neuen Rundschau. Ihr war er über Jahre verbunden, ein exzellenter Essayist, der die Gegenwart an der Vergangenheit prüfte, außergewöhnlich empfindlich auf politische Tendenzen reagierte. Und denkend, räsonierend die Sprache seiner späteren Romane fand: Schlank und genau, die rasch alternden Adjektive meidend. Es ist dieser unverkennbare Flake-Sound.
Den ersten Weltkrieg begleitete er nicht, wie viele seiner Kollegen, mit Fanfarenversen. Er schlüpfte unter in der politischen Abteilung des Heeres in Brüssel und traf dort auf Herrn Dr. Benn. Von ihm verabschiedete er sich 1918 und zog nach Zürich. Ins Ursprungsgebiet von Dada. Er reiste viel, der Mann von Welt, nach England, Frankreich, nach Russland. ›Zum guten Europäer‹ heißt eine Sammlung seiner frühen Essays — gerade jetzt lesenswert in ihrer Anschaulichkeit und Entschiedenheit.
Schon 1913 hatte er mit den Romanen um Ruland begonnen. Er eröffnete die Serie mit ›Das Freitagskind‹ und beendete sie 1928 mit ›Freund aller Welt‹. Nüchtern und beteiligt breitete er die Möglichkeiten des Nachkriegsbürgertums aus. Die fatalen Möglichkeiten. Inzwischen lebte er wechselnd in Berlin und Bozen. Diese Erfahrungen und Sprünge sind nachzulesen in seiner 1960 erschienenen Autobiografie ›Es wird Abend — Bericht aus einem langen Leben‹. Ein Buch, das ich immer von neuem lese, mitgenommen, provoziert, erheitert und voller Bewunderung. Diesen souverän einsammelnden Rückblick. Das Treiben Hitlers und seiner Anhänger verfolgte er kritisch und voller Verachtung. Das faschistische Italien wies ihn aus Südtirol aus. Er zog nach Baden-Baden und sagte sich (zu spät): »...ob es doch nicht besser gewesen wäre, in den Tessin, nach Capri, nach Portugal zu ziehen«. Er ahnte das Verhängnis, das ihn erwartete. Er musste sich verloren geben, um nicht verloren zu gehen. Mit einem neuen Roman war er in Baden-Baden eingezogen. ›Hortense oder die Rückkehr nach Baden-Baden‹. Er erschien noch bei S.Fischer. Der jüdische Verlag wurde von den Nazis beobachtet, gegängelt und hatte ihm »das Formular für eine an den Reichskanzler (nicht an den Führer) zu richtende Loyalitätserklärung mit seinen eigenen Erläuterungen geschickt: In den Papierkorb damit.« Die Erläuterungen stimmten ihn um. »Es sei im Interesse des Verlags, wenn möglichst viele Autoren unterschrieben. Es sei auch mein Interesse und das meiner Frau.« Er hatte in Baden-Baden geheiratet. Marianne, deren Vater Jude war. Also unterschrieb er, gemeinsam mit seinem Lektor Oskar Loerke. Er unterschrieb einen Vertrag über Einsamkeit und Erfolglosigkeit über Jahrzehnte. Die Kollegen und Freunde aus dem Haus, längst in der Emigration, Thomas und Heinrich Mann, Döblin, ließen ihn ihre Verachtung spüren. Im Oktober 1934 starb sein Verleger, S. Fischer. Er fuhr als einer der wenigen Autoren zum Begräbnis und schrieb in aufgebrachter Trauer einen Nachruf in der »Frankfurter Zeitung«.
Peter Suhrkamp übernahm als Treuhänder den Verlag. Flake plante, schlug vor. Sie wechselten Briefe, durchaus mit Respekt. Bis Suhrkamp, politisch bedrängt, Flake bat, die ständige Mitarbeit an der »Neuen Rundschau« aufzugeben. Das traf, tat weh. »Also das Ende der Referate ist auch da. Mit dem famosen neuen Erlaß weiß ich mich kaum abzufinden.« Eine Wendung, nein: eine Abwendung, die einem Herrn von Welt entspricht. Er zählte sich auch nicht nach dem Krieg, als die Reinwäscher das Wort führten, zu den »inneren Emigranten«. Er bot an und wurde zurückgewiesen. Die Kriegszeit beschloss er mit einem großen historischen Roman ›Fortunat‹, der Biografie eines Mannes von Welt, eines bedeutenden Arztes auf der Bühne Paris, die Flake Gelegenheit gab, im Personal Vorgefundene und Erfundene zu mischen. Das Buch, ein wahrer Wälzer, passte nicht: Peter Suhrkamp wies es zurück. Es erschien in einem kleinen Verlag, wie auch danach die grandiosen ›Monthiver-Mädchen‹.
In der Stadtbibliothek in Nürtingen entdeckte ich die Bände, sie boten mir die Gelegenheit, lesend für eine Weile zu verschwinden. Von da an begleitete mich Flake. Wie er erzählte, hielt ich, noch frei vom literarischen Schwadronieren, für unvergleichlich und für gegenwärtig. Er wurde mir wichtiger als die Heroen der wiederentdeckten Literatur, Thomas Mann und Hermann Hesse. Noch kannte ich den Briefwechsel zwischen Peter Suhrkamp und Otto Flake nicht — ich wäre, jung und auf der Spur in die Zukunft, empört gewesen, hätte die Verletzungen nicht ermessen können, unter denen beide litten. Im Juni 1954 schrieb Suhrkamp an den einstigen Fischer-Autor Flake: »Besten Dank für Ihren vertrauensvollen Brief. Wenn meine Antwort darauf negativ ausfällt, darf das nicht bedeuten, Sie hätten ihn doch besser nicht geschrieben. Mein persönliches Verhältnis zu Ihnen ist in keiner Weise gestört. Ihr Brief selbst eröffnet mir im Gegenständlichen eine erschütternd Situation. Ich kann diese Situation aber nicht ändern. «
Flake ging es »im Gegenständlichen« sehr übel. Er verarmte, seine Romane wurden wenig gelesen und verramscht. Bis ihn Karl Ludwig Leonhardt, der Leiter des Bertelsmann-Leserings für sich entdeckte und begriff, welcher Reichtum an Welt sich da ausbreitete. Ein Lektor im Haus, Rolf Hochhuth, verbündete sich mit dem alten Dichter, begleitete ihn, seinen Ruhm mehrend, bis zu seinem Tod im November 1963. Und zum wiederholten Male hörte ich die helle, auf Vernunft gebettete Erzählstimme, als Rolf Hochhuth mich überredete, mit ihm ›Gesammelte Werke in Einzelausgaben‹ bei S. Fischer herauszugeben. So wurde Flake in seinen alten Verlag heimgeholt. Nicht zuletzt mit der ›Hortense‹, die mir ins »Fischernetz« geriet, eine Reihe, in der ich vergessene Bücher sammelte.
Von Peter Härtling

Erzählungen
Diese Sammlung beinhaltet folgende Erzählungen: Der Pianist/Doktor Haller war in Zürich/Amadeus/Der Gepard/Die Arglose/Angst um Lily/Sechzig Jahre später/Die Söhne/Verlorene Tochter/Die Reise übers Meer/Bruder/Was tun?/Der Reisegefährte/Die Versuchung des Richters/Finnische Nächte/Die Entfremdung/Der Brief/Ballade in Dur/Der Handelsherr.
Herausgegeben von Rolf Hochhuth und Peter Härtling.
(Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)