Die eigentliche Bedeutung dieses Schritts, der die Lage im Ostchinesischen Meer weiter verschärft hat, liegt meiner Ansicht nach nicht darin, die japanische Regierung zu warnen, sondern der eigenen Bevölkerung eine patriotische Haltung zu demonstrieren. Denn ein Teil der Öffentlichkeit hatte die Regierung seit Langem für ihre Schwäche in dieser Frage kritisiert. Die Einrichtung einer Luftüberwachungszone ist eine Antwort auf die patriotische Stimmung im Volk.
In diesem Zusammenhang kommen mir zwei Gewalttaten in den Sinn, die sich im Juli dieses Jahres in China und den USA ereignet haben.
In der Kreisstadt Linwu in der südchinesischen Provinz Hunan geriet am 17. Juli der Melonenbauer Deng Zhengjia, der mit seiner Frau an der Straße Wassermelonen verkaufte, in einen Konflikt mit der Stadtverwaltung. Mehrere öffentliche Bedienstete prügelten auf Deng ein, bis er zu Boden sackte und starb. Augenzeugen erklärten, die Täter hätten Deng mit einem Laufgewicht auf den Kopf geschlagen.
In einem Apartmenthaus in der Nähe von Miami tötete am 27. Juli ein mit einer Schusswaffe bewaffneter Amokläufer sechs Menschen, ehe er von der Polizei erschossen wurde.
Diese grundverschiedenen Gewalttaten hatten eigentlich nicht das Geringste miteinander zu tun. Aber nachdem am 28. Juli der stellvertretende Gouverneur der südchinesischen Provinz Guizhou, Chen Mingming, in seinem Mikroblog die Nachricht vom Amoklauf in den USA gepostet hatte, ergab sich zwischen den beiden Taten eine überraschende Verbindung.
Chen Mingming schrieb: »Wie kann es sein, dass es in Amerika schon wieder zu einem Amoklauf gekommen ist?«
Daraufhin brachte ein Blogger den Zwischenfall von Linwu zur Sprache: »Wie kann es sein, dass es in China schon wieder zu einem gewalttätigen Übergriff durch Mitarbeiter einer Stadtverwaltung gekommen ist?«
Chen erwiderte: »Manche Leute lechzen nach immer neuen Unglücksfällen in unserem Vaterland, die sie dann groß aufbauschen. Diese vaterlandslosen Gesellen sind Gesindel und Abschaum.«
Der Blogger hatte nicht mehr getan, als im Anschluss an den von Chen erwähnten Amoklauf in Florida auf den Tod des Melonenbauern in Hunan hinzuweisen, aber das hatte genügt, um den hohen kommunistischen Kader in Rage zu versetzen. »Warum machen sich diese Leute, die jeden Tag auf ihr Vaterland schimpfen, überhaupt hier breit?«, wetterte Chen weiter. »Warum verschwinden sie nicht nach Amerika? Nur zu! Sie haben meine volle Unterstützung. Aber vorher sollten sie sich noch einer Gesichtsoperation unterziehen, damit niemand bemerkt, dass sie Chinesen sind. Diese Leute, die ihr Land nicht lieben, leiden darunter, dass sie Chinesen sind. Sollen sie doch nach Amerika verschwinden, je schneller, desto besser! Dieses Gesindel, dieser Abschaum!«
Chens Ansicht »Diese vaterlandslosen Gesellen sind Gesindel und Abschaum« löste im Internet eine gewaltige Kontroverse aus. Das Netz spaltete sich in zwei Lager: Kritiker und Unterstützer.
Manche Kritiker wiesen darauf hin, dass es zweierlei Dinge seien, ob einer auf die Regierung schimpft oder aufs Vaterland. Obendrein richtete einer die Frage an Chen: »Wenn bei Ihnen zu Hause ein Fenster kaputt ist, reparieren Sie es dann? Oder ziehen Sie lieber zu Ihrem Nachbarn oder singen ein Loblied darauf, was für eine prächtige Tür Sie haben? Wer sein Land liebt, zeigt seine Unzulänglichkeiten auf, um es noch besser zu machen.« Die meisten Kritiker jedoch monierten, Chen habe sich im Ton vergriffen: Ein hochrangiger Beamter, stellvertretender Gouverneur einer Provinz, solle sich nicht öffentlich in wüsten Beschimpfungen ergehen – das verrate einen Mangel an Kultiviertheit.
Chens Unterstützer dagegen machten offensichtlich keinen Unterschied zwischen der Regierung und dem Vaterland. Allerdings gab es auch unter ihnen Stimmen, die von einem stellvertretenden Provinzgouverneur eine besonnenere Wortwahl erwarteten. Auch Chen selbst erkannte, dass er über das Ziel hinausgeschossen war. Indirekt gab er sein Bedauern zu erkennen, indem er erklärte, er wolle in Zukunft »ruhig Blut bewahren«.
Doch die eigentliche Frage, die es zu erörtern gilt, lautet: Was ist Patriotismus? Kritisiert, wer die Regierung kritisiert, damit auch das eigene Land? Stattdessen endete die Kontroverse als Stildebatte: Sollte ein stellvertretender Provinzgouverneur nicht sprechen, wie es seinem Amt gebührt?
64 Jahre patriotischer Erziehung durch die Kommunistische Partei haben die Liebe zum Vaterland erfolgreich mit der Liebe zu Partei und Regierung vermengt. Der Patriotismus endet so in Geiselhaft und lässt sich nur zu leicht von einem engstirnigen Nationalismus manipulieren.
Im August und September 2012 entfesselte der Streit um die Diaoyu-Inseln in vielen chinesischen Städten zwei Wellen von antijapanischen Demonstrationen, in deren Verlauf ein gewalttätiger Mob schließlich seine Wut an japanischen Geschäften und Autos ausließ. Ein erschütterndes Video zeigt, wie einem Mann namens Li Jianli in der zentralchinesischen Stadt Xi’an beim Versuch, sein japanisches Auto zu beschützen, mit einem hufeisenförmigen Stahlschloss der Schädel zertrümmert wurde.
Das Beunruhigende ist, dass nicht nur einfache Leute, sondern auch manche Intellektuellen die Begriffe von Nation und Regierung miteinander verwechseln. Ein befreundeter Gelehrter hat einmal zu mir gesagt: »Daheim in China können wir unser Land kritisieren, aber wenn wir ins Ausland fahren, sollten wir es verteidigen. Das ist wie mit den eigenen Eltern: Zu Hause können wir mit ihnen streiten, aber woanders dürfen wir keinerlei Kritik an ihnen dulden.«
»Wir kritisieren die Regierung, nicht das Land«, sagte ich.
Dazu habe ich einen Mikroblog-Eintrag geschrieben: »Manche Leute machen anscheinend keinen klaren Unterschied zwischen Land und Regierung. Wer die Regierung kritisiert, den beschimpfen sie als Vaterlandsverräter. Um einen Vergleich zu benutzen: Wenn die eigenen Eltern das Land sind, dann ist die Haushälterin die Regierung. Die Liebe zu den Eltern und die Liebe zur Haushälterin sind zweierlei Dinge. Die Eltern kann man nicht wechseln, die Haushälterin schon.«
Ein Blogger kommentierte: »Mama und Papa, wo seid ihr? Ich will mich über die Haushälterin beschweren.«
Unsere Eltern können keine Beschwerde entgegennehmen, denn die Haushälterin hat ihren Platz eingenommen.
Aber es sind schwere Zeiten für die Haushälterin angebrochen. Im Zuge der antijapanischen Demonstrationen im letzten Jahr haben manche die Gelegenheit genutzt, ihrem Unmut über die Regierung Luft zu machen. Ein Spruchband, das den Japanern den Krieg erklärte, forderte hintersinnig: »Auf in den Kampf! Wenn wir gewinnen, bekommen wir die Diaoyu-Inseln. Wenn wir verlieren, bekommen wir ein neues China.«
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

Yu Hua ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Chinas. Seine Bücher haben sich in China Millionen Mal verkauft. Dass sein neues Buch ›China in zehn Wörtern‹ von den Chinesen verboten wurde, liegt weniger an seiner Kritik am heutigen China als an den Parallelen, die er zwischen der Kulturrevolution und dem neuen kapitalistischen System zieht. Wie zu Zeiten Mao Zedongs, sieht Yu auch heute Unmenschlichkeit und Gewalt. Der Großteil der chinesischen Gesellschaft profitiert nicht vom Wohlstand, sondern wird auf brutale Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die persönlichen Essays lassen aber auch Yus Verbundenheit zu seinem Heimatland erkennen. ›China in zehn Wörtern‹ wirft einen ganz anderen, einen neuen Blick auf ein Land, von dem noch viel zu erwarten ist.